Arktisches Sommerloch
Die Sensationsmeldung ging durch alle Medien: Nach 50 Millionen Jahren sei erstmals das Eis am Nordpol wieder geschmolzen – ein schlagender Beweis für die Erderwärmung, dem sich nun auch die letzten Zweifler beugen müssten. Der Hintergrund: Eine Touristengruppe, die mit dem russischen Atomeisbrecher "Jamal" in die Arktis vorgestoßen war, sah sich um den Höhepunkt ihrer rund 30000 Mark teuren Reise betrogen: Dort wo man auf dem "ewigen Eis" zu Fuß einmal den Globus umrunden wollte, gähnte am 11. August eine 1,6 Kilometer breite Wasserrinne.
Seriöse Blätter relativierten die Nachricht sogleich durch Aussagen von Arktisforschern, wonach Wind und Strömungen die wenige Meter dicke Eisschicht des Nordpolarmeers im Sommer immer wieder aufreißen würden, sodass es nichts zu besagen habe, wenn eine Wasserrinne zufällig direkt am Nordpol entstehe. Im Internet erklärte das Alfred-Wegener-Institut eisfreie Zonen von einigen Kilometern Ausdehnung am Pol für "durchaus üblich". Anders vor 50 Millionen Jahren: Damals war die Arktis völlig eisfrei.
Tatsächlich kann nur die Betrachtung der gesamten arktischen Meereismassen sinnvolle Aussagen zum Klima liefern. Zwar existieren Hinweise auf ein allmähliches Abschmelzen als Folge einer globalen Erwärmung. Aber erst eine Bilanzierung der Dicke und Ausdehnung der Eisdecke über Jahrzehnte hinweg erlaubt eine verlässliche Beurteilung. Ein solches Projekt gibt es bisher nur für die Antarktis.
Also alles letztlich nur viel Lärm um nichts? Das Wasserloch am Nordpol gleichsam als Seifenblase im publizistischen Sommerloch?
Nicht ganz; denn der Mensch ist nun einmal nur ein bedingt rationales Wesen. Nüchterne Zahlen und Fakten berühren ihn letztlich kaum. Weit empfänglicher ist er für sinnfällige Bilder und symbolträchtige Ereignisse.
Was veranlasst beispielsweise einen Touristen, 30000 Mark für eine Reise zu einem gedachten Punkt auszugeben, der sich äußerlich durch nichts auszeichnet und seine Faszination nur durch die Bedeutung erlangt, die er in der Vorstellung annimmt? Warum haben Abenteurer wie Nansen, Nobile oder Amundsen in der ersten Jahrhunderthälfte ihr Leben riskiert, um als erste genau an diesen Punkt zu gelangen, während die Weltöffentlichkeit ihre Bemühungen gebannt verfolgte? Es ist wohl die Magie des Imaginären, die von solchen geometrischen Konstrukten ausgeht – noch verstärkt durch den Reiz des Unzugänglichen.
Die Moral der Geschichte ist ebenso paradox wie ironisch: Letztlich hat ein "Beweis", der keiner ist, vermutlich mehr Menschen von einem durchaus realen Klimaphänomen überzeugt als all die wissenschaftlich abgesicherten Fakten, die bisher dafür angeführt worden sind. Es ist eben etwas anderes, bloße Informationen zur Kenntnis zu nehmen oder eine augenfällige Demonstration eines Phänomens an einem Objekt zu erleben, das mit hoher Symbolik befrachtet ist. Das eine bleibt an der Oberfläche des Bewusstseins, das andere dagegen sinkt in tiefere Schichten – dorthin, wo die inneren, emotionsbehafteten Überzeugungen sitzen. Insofern haben die Medien mit ihrer Sensationsmeldung der Wissenschaft in diesem Fall ausnahmsweise einen Dienst erwiesen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 2000, Seite 24
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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