Astronomie und Praxis: Auf den Spuren von Chappe d'Auteroche
Der französische Astronom Chappe d’Auteroche (1722 – 1769) war schon immer ein Leitbild für mich. Er war mir bekannt geworden durch das von Jean-Pierre Luminet im Jahr 1999 veröffentlichte Buch "Le rendez-vous de Vénus" (Die Begegnung mit der Venus). Darin beschreibt der Schriftsteller auf ausgezeichnete und humorvolle Weise drei französische Astronomen, die von ihrem König den Auftrag erhielten, an verschiedenen Stellen der Erde den Durchgang der Venus vor der Sonne am 6. Juni 1761 zu beobachten. Chappe wurde nach Tobolsk in Sibirien geschickt, eine lange und mühselige Reise von mehr als 5000 Kilometern (siehe SuW 6/2012, S. 46). Über seine Erlebnisse berichtet er in dem Buch "Relation du Voyage fait en Sibérie" (Bericht der Reise ausgeführt in Sibirien, 1769).
Nach langem Suchen fand ich in der Schweiz noch ein originales Exemplar aus dem Jahr 1769 über seine "Voyage". Dieses Werk begeisterte mich besonders und regte mich dazu an, größere Teile daraus vom Altfranzösischen ins Flämische zu übersetzen. Chappe war nicht nur ein guter Astronom, er war auch ein guter Mensch und zeigte unterwegs mehrmals seine Besorgnis um die große Armut der Menschen. Während seiner zweiten Expedition nach Baja California (1769) versorgte er Indianer, die an Gelbfieber erkrankt waren. Dadurch zog er sich die Krankheit selbst zu und starb schließlich daran.
Über den Verlauf der Beobachtung des Venustransits vor der Sonnenscheibe am 6. Juni 1761 schreibt Chappe: "Die Sonne war noch nicht sichtbar, aber alles deutete darauf hin, dass sie bald erscheinen sollte. Ich machte mich fertig zur Beobachtung. Mein Uhrmacher sollte die Uhr ablesen und alles aufschreiben. Mein Dolmetscher sollte laut die Sekunden zählen. Bald konnte ich einen Rand der Sonne sehen: Es war die Zeit, zu der die Venus auf die Sonne rutschen sollte – aber an der anderen Seite der Sonnenscheibe, die noch durch Wolken verhüllt war. Unbeweglich, mit dem Auge fest am Teleskop, durchquerte ich tausend mal die Distanz zwischen Erde und Sonne. Wann wird die Wolke sich endlich auflösen? Sie löste sich auf! Ich sah die Venus, die schon teilweise auf der Scheibe erschienen war und ich machte mich fertig, um den vollen Eintritt zu beobachten. Obwohl der Himmel wolkenfrei war, verdarb meine Angst mein Vergnügen. Der Augenblick des vollen Eintritts näherte sich. Ein Zittern ergriff all meine Glieder. Jetzt sollte ich mich völlig konzentrieren, um die Beobachtung nicht zu verfehlen. Ich vollendete meine Beobachtung, und ein inneres Gefühl überzeugte mich von der großen Genauigkeit meiner Messung. Man kann nur ab und zu solch großes Vergnügen erleben. In diesem Moment erfreute ich mich über meine Beobachtung und hegte die Hoffnung, dass nach meinem Tod die Menschheit daraus noch Vorteil ziehen möchte."
Im Oktober 2005, nachdem ich in Sankt Petersburg eine Konferenz über gefährliche Asteroiden besucht hatte, fuhren meine Frau Kristina und ich nach Tobolsk. Wir wollten dort eine Urkunde mit der Ernennung des Kleinplaneten (13125) Tobolsk offiziell verleihen, den ich auf der ESO-Sternwarte La Silla in Chile im August 1994 entdeckt hatte. Wir wurden feierlich empfangen. Wir blieben nur zwei Tage in der Stadt. Trotzdem versuchte ich schon am ersten Abend die Stelle zu finden, an der Chappe seine Beobachtungen der Venus im Jahre 1761 durchgeführt hatte. Mit einem Barometer, um die Höhen zu messen, genau wie Chappe es tat, machte ich mich auf dem Weg. Aus seinem Buch hatte ich erfahren, dass er seine Beobachtungsstelle auf einem Hügel in der Nähe der Stadt aufgerichtet hatte und dass er von dort aus die Türme des Kremls und den Fluss Yrtish sehen konnte. Ich bestieg den ersten Hügel, der möglicherweise die gesuchte Stelle war. Er war stark mit Büschen bewachsen, und ich hatte alle Schwierigkeiten, den Gipfel zu erreichen. Doch von dort aus betrachtet verhüllte ein zweiter Hügel den ganzen Südhorizont. Dieser Hügel konnte es also nicht sein. Auf dem Rückweg rutschte ich aus, verletzte mich an den Stachelbüschen und kam völlig verschmutzt unten an, denn es hatte am Tag zuvor geregnet.
Am Nachmittag des folgenden Tages – am Morgen hatten wir das Kloster Abalak besucht – versuchte ich es von neuem. Jetzt bestieg ich einen zweiten entfernteren Hügel. Oben angekommen, erblickte ich im Südwesten den Yrtish, rechts von mir die Türme des Kremls und links einen offenen Horizont. Meine erster Gedanke war: Hier würde ich meine Sternwarte errichten. Mit einfachen trigonometrischen Methoden bestimmte ich die Entfernung der Stadt und fand genau den gleichen Betrag, den Chappe in seinem Buch angab: eine viertel Meile, rund 800 Meter. Ich stand genau auf der Stelle, an der Chappe d’Auteroche am 6. Juni 1761 seine Beobachtungen der Venus ausgeführt hatte. Das bestätigte sich später im November 2005 mittels eines Google-Satellitenbildes der Gegend, in das ich Chappes Koordinaten eingetragen hatte .
Am 6. Juni 2012 waren wir wieder in Tobolsk. Jetzt sollten wir zu Ehren von Chappe d’Auteroche, nach 251 Jahren seine Beobachtungen wiederholen. Bereits um 4 Uhr morgens war ich auf dem Hügel. Ich hatte Gesellschaft bekommen von zwei Reportern, Olga und Micha, die später im Fernsehen von den Ereignissen berichten sollten. Kristina folgte uns eine Stunde später. Obwohl der Transit schon eingetreten war, gab es noch viele Wolken am Horizont. Aber ich hatte die Wetterberichte der vergangenen Tage studiert und war davon überzeugt, dass das nicht länger dauern sollte.
Ich bekam recht: Plötzlich öffnete sich bei leichtem Nordwind der Himmel, und wir konnten das erste Bild von der Venus vor der Sonne aufnehmen. Es war genau wie bei Chappe, aber seine Messungen waren sicherlich genauer.
Wir wollten dort sein, um ihn zu ehren und um einige schöne Bilder aufzunehmen. Leider gab es viele Mücken, und diese waren besonders aggressiv. Kristina musste notgedrungen fliehen – sie reagierte auf die Plagegeister besonders empfindlich. Das hatte sich bereits gezeigt, als wir im Jahr 2004 in Tunguska am Churgym-Fluss waren, wo 1908 ein kosmischer Körper eingeschlagen war. Auch die beiden Reporter blieben nicht länger, und so stand ich nun mutterseelenallein auf dem Hügel und belichtete zwischen Schwärmen von Mücken meine Bilder. Ich hatte wohl eine genaue Uhr mitgeschleppt, doch die war von keinem Nutzen mehr: Wer sollte sie ablesen? Aber ich war sehr glücklich – ich hatte mir einen langgehegten Traum erfüllen können.
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