Editorial: Aus Dreck wird Gold
Die beiden stärksten Triebfedern der Wissenschaft sind zum einen der Drang, unsere Welt zu verstehen, sowie zum anderen der Wunsch nach neuen Problemlösungen und Anwendungen. Manchmal geht die Forschung aber auch weniger zielstrebige Wege und wird sozusagen beim Stochern in der Mülltonne zufällig fündig. Gleich drei Beiträge in dieser Ausgabe illustrieren die Einfallskraft von Forschern, die es geschafft haben, zunächst wertlos Erscheinendem oder gar Schädlichem einen Nutzen abzuringen – wenn auch manchmal nur auf Umwegen und nach erheblichen Rückschlägen.
Das erste Beispiel stammt aus der Biomedizin. Der Erreger der gefürchteten Tollwut hat eine charakteristische Fähigkeit, die ihn so tückisch macht: Das Virus arbeitet sich von der Infektionsstelle aus über miteinander verbundene Nervenzellen Schritt für Schritt bis ins Gehirn vor. Genau diese Eigenschaft haben Neuroforscher jetzt genutzt, um aus veränderten und entschärften Tollwutviren ein Werkzeug zu schaffen, mit dem sie genau untersuchen können, wie einzelne Nervenzellen untereinander verknüpft sind (S. 36). Der Tollwuterreger hilft ihnen also, die Funktionsweise des Gehirns besser zu verstehen.
Auch das vor gut eineinhalb Jahrzehnten entdeckte und bald als Wunderstoff gehypte Graphen ist zunächst einmal nichts Besonderes; kleine Stücke davon finden sich sogar in ordinärem Ruß. Für die Industrie interessant werden die einschichtigen Lagen aus Kohlenstoffatomen erst ab einer gewissen Größe. Doch trotz immenser Forschungsanstrengungen und finanzieller Investitionen im Rahmen eines EU-Flaggschiff-Projekts hat sich bisher noch keine der revolutionären Anwendungen für den 2-D-Kohlenstoff gefunden, die man sich anfangs davon versprach. Hier ist inzwischen der wesentliche Erkenntniszuwachs auf einer viel grundlegenderen Ebene zu finden, wie unser Artikel ab S. 50 beschreibt: Heute untersuchen Wissenschaftler eine ganze Reihe weiterer zweidimensionaler Materialien und haben nicht nur viel über diese neue Stoffklasse gelernt, sondern auch einige Substanzen gefunden, die nun als neue, viel versprechende Hoffnungsträger in der angewandten Materialwissenschaft gehandelt werden.
Und sogar im nichtstofflichen Bereich lässt sich aus scheinbar Wertlosem etwas gewinnen. Die Rede ist von visuellen Informationen, die von außerhalb unseres Gesichtsfelds herrühren, aber dennoch – nach Behandlung mit speziellen Algorithmen – überraschend reichhaltige Bilder der Umgebung liefern (S. 58). Ich bin gespannt, welche weiteren Schätze die Forscher künftig in zunächst wenig versprechendem Ausgangsmaterial entdecken werden!
Herzlich, Ihr
Hartwig Hanser
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