Mediziner-Nachwuchs: Ausbeutung statt Ausbildung
Besonders Jungmediziner kehren dem Krankenhaus den Rücken oder gehen ins Ausland. Starre Hierarchien, Hofstaatbildung, unzählige Überstunden und zunehmende Verwaltungsarbeit statt Ausbildung schrecken ab. Die Folge: zunehmender Mangel an Fachärzten.
"Benutzen Sie gefälligst beide Ihrer Gehirnhälften, wenn Sie bei uns arbeiten, schließlich bekommen Sie volles Gehalt!", brüllt der vermummte Herr im grünen Outfit vom anderen Ende des Tisches. Der Angesprochene schreckt hoch aus seinem Halbschlaf. Was war passiert? War der Haken, den er halten sollte, verrutscht? Schon möglich. Schließlich hat er seit zwölf Stunden nichts gegessen und ist seit 36 Stunden im Dienst. Da ist selbst der größte Held nicht mehr grenzenlos einsatzfähig.
Normalerweise jedenfalls. Aber wir befinden uns hier im Operationssaal einer großen deutschen Universitätsklinik. Es ist Montagmorgen, 8.00 Uhr. Der brüllende Herr, ein Chefarzt, versucht gerade, einen seiner Assistenzärzte weiterzubilden. Volles Gehalt bedeutet die Vergütung von 38,5 Stunden in der Woche nach dem Angestelltentarif BAT IIA. Überstunden gibt es offiziell nicht. Nachtdienste sind Bereitschaftsdienste. Sie werden zwar zusätzlich vergütet, aber nur mit maximal achtzig Prozent des Grundgehalts. Dieser Anteil entspricht dem angenommenen Arbeitseinsatz in der Nacht. Oft wird im Anschluss daran gleich am Morgen wieder der reguläre Dienst angetreten. Umgerechnet auf die Wochenarbeitszeit von durchschnittlich siebzig Stunden sind demnach Stundenlöhne von weniger als acht Euro keine Seltenheit.
Das Phänomen ist bekannt. Das deutsche Gesundheitswesen ist chronisch krank und seine Patientenakte dicker als die aller Patienten eines Universitätsklinikums zusammen. Der Marburger Bund, gesundheits- und berufspolitische Interessenvertretung für Mediziner, weiß das und beklagt deren schlechte Arbeitsbedingungen. Überall in Deutschland fehlen arbeitswillige Ärzte. Wöchentlich wächst der Teil mit Stellenangeboten im Deutschen Ärzteblatt, dem größten Stellenmarkt für Mediziner. Unglaublich, denn die Universitäten bringen weiterhin eine hohe Anzahl von Jungärzten hervor, und Humanmedizin zählt nach wie vor zu den begehrtesten Studienfächern.
Wie kommt es, dass rund ein Drittel aller Medizin-Absolventen nach der Uni den Kittel an den Nagel hängt? Ist es das geringe Einkommen, das sie besonders in den 18 Monaten "Arzt im Praktikum" (AiP) erwartet? Oder ist es Faulheit, mangelnde Einsatzbereitschaft, fehlender Idealismus?
Fragt man den eingangs genannten grünen Herrn oder einen seiner Kollegen, fällt die Antwort nicht schwer: "Besonders die Arbeitsbedingungen in Universitätskliniken werden vom Nachwuchs offenbar als schlecht und unattraktiv empfunden." Die Jugend scheint verwöhnt, will mehr Geld, weniger Arbeit und ist bei weitem nicht engagiert genug.
Man schaffe einfach die AiP-Zeit wieder ab und schon werden die Jungärzte zurück in die Krankenhäuser zur Arbeit strömen. Also einfach ein ökonomisches Problem? Menschen, die sich von der Wahlwerbung zur letzten Bundestagswahl beeinflussen ließen, könnten dies denken. Ein Wahlplakat einer der großen Parteien Deutschlands warb dort mit einer jungen Ärztin, die eine Patientenakte trug. Darunter stand: "Wir wollen, dass man Sie auch künftig nach Ihrem Befinden fragt, nicht nach Ihrem Einkommen."
Perspektiven im Ausland?
"Es fehlt neuerdings an Bewerbern mit geeigneter Qualifikation", klagte vor kurzem der Dekan einer großen deutschen Universitätsklinik. Er könne fünfzig Stellen nicht besetzen, da sich keine passenden Bewerber fänden. Ist eine Generation von minderbegabten Medizinern herangewachsen, die trotz Numerus clausus, einem mindestens sechsjährigen Studium, Staatsexamen, Praktischem Jahr und AiP in Wirklichkeit gar nicht zur ärztlichen Tätigkeit taugt?
Wie nur lässt es sich erklären, dass der Großteil der deutschen Mediziner-Flüchtlinge gerade dorthin abwandert, wo lange Wartezeiten der Patienten auf Operationen oder eine medizinische Versorgung in Abhängigkeit vom Versicherungsstatus des Patienten üblich sind? Immerhin sind das Länder, in denen ein Nachtdienst alle drei bis vier Tage ohne Überstundenfrei die Regel und an Urlaub schon gar nicht zu denken ist. Arbeitszeiten und -systeme wie in Großbritannien und in den USA scheinen also Jungärzte nicht unbedingt von der Ausübung ihres Berufes abzuschrecken. Vielmehr ist es der Wunsch nach Ausbildung, der sie auf ihrem Weg ins Ausland beflügelt. Sie hoffen, dort bessere Lehrer zu finden. Dafür sind die jungen Mediziner offenbar auch zu gewissen Opfern bereit. Denn welcher hoch qualifizierte Akademiker möchte schon jahrelang Hilfsdienste leisten und dafür noch ständig kritisiert werden? Jeder Mensch braucht Perspektiven. Und Vorbilder. Was passiert, wenn diese fehlen?
Die Folgen liegen auf der Hand: Bald wird es in Deutschland nicht mehr nur viele unbesetzte AiP- und Assistenzarztstellen geben. Auch an Fachärzten wird es mangeln. Und die wenigen Fachärzte, die es dann noch gibt, werden zum großen Teil schlecht ausgebildet sein oder am Burn-out-Syndrom leiden.
Die Schweiz macht‘s vor: Weiterbildung wird überprüft
Am fehlenden Engagement kann es nicht liegen. Medizin zählt zu den spannendsten Fächern und vielschichtigsten Berufen. Wo kann man sonst noch so vielseitig arbeiten, so unterschiedliche Charaktere treffen und so viel über Menschen lernen? Schließlich hält das Gefühl so manch eines Arztes, gebraucht zu werden und etwas Sinnvolles zu tun, auch den "Patienten" deutsches Gesundheitssystem am Leben. Noch jedenfalls.
Hat ein Chirurg eine infizierte Narbe vor sich, so wird er versuchen, das faule Gewebe herauszuschneiden, damit das gesunde Fleisch wieder zusammenwachsen kann. Wie könnte ein Heilungsvorschlag für die kranke Hochschulmedizin lauten? Ein Blick über die Grenzen unseres Landes hinweg in die Schweiz zeigt Verheißungsvolles: Dort gibt es viele zufriedene Fachärzte, die auch noch ausgebildet wurden. Denn nicht nur die Facharztaspiranten werden geprüft, sondern auch die Weiterbildungsbeauftragten. Die Ergebnisse werden jährlich veröffentlicht. Somit spricht sich schnell herum, wer seinen Verpflichtungen nachkommt, auch auf der Seite der Ausbilder (www.fmh.ch).
Ein Arzt sollte Patienten als Vorbild dienen. In der heutigen Medizin bedeutet dies jedoch nichts Gutes. Denn wenn ein Arzt nach dreitägiger ununterbrochener Dienstschicht ohne ausreichende Nahrungsaufnahme, geschweige denn Schlaf, Menschen behandelt, ist die Gesundheit aller Beteiligten gefährdet.
Peter Müller, Psychiater am Uniklinikum Göttingen, sieht in dem Verhalten vieler Krankenhausärzte, die freiwillig zwanghaft rund um die Uhr schuften, eine psychische Erkrankung, wie er kürzlich in einem Symposium berichtete. Denn diese Kollegen würden häufig an einer psychogenen Depression leiden, deren Ursachen in einer frühkindlichen emotionalen Mangelerfahrung zu suchen seien. Die Folgen könnten fatal sein. Das gestörte Selbstwertgefühl müsse kompensiert werden – durch mehr Leistung, gute Zeugnisse, Einsatz für andere Menschen. "Auf diese Weise hoffen die Arbeitswütigen, dass ihre Mütter, die sich meist längst im Himmel befinden, endlich auf sie schauen, um ihnen doch noch zu sagen "ich liebe dich", erklärt der Psychiater. Ein unerfüllbarer Wunsch, gegen den nur eine Psychotherapie helfen würde, um die Konflikte aufzudecken und nach alternativen Lösungen zu suchen.
Neue Stellen durch neue Strukturen
Ein guter Arzt sollte Gesundheit vorleben. Viele junge Mediziner haben dies noch nicht vergessen. Wenn sie das aber im Krankenhaus nicht umsetzen können, leisten sie ihren Beitrag hierzu eben in anderen Bereichen – etwa als Journalisten, Autoren, Moderatoren von Gesundheitssendungen im Fernsehen, als Schauspieler, in der Pharmaindustrie, als Unternehmensberater oder Unternehmer. Kaum einer dieser "Abtrünnigen" möchte jemals in die starren Hierarchien und den Verwaltungsberg der Krankenhausmedizin zurückkehren.
(Jung-)Mediziner haben keine Lobby. Damit sind sie ausnutzbar – von allen Seiten. Dabei könnten ein paar einfache Maßnahmen Abhilfe schaffen wie etwa Qualitätsmanagement und Vernetzung durch die Weiterbildungsassistenten selbst.
Spanische Assistenzärzte haben es vorgemacht: Gemeinsam zogen sie vor den Europäischen Gerichtshof und bekamen Recht: Bereitschaftsdienste sind Arbeits- und nicht Ruhezeit. In Deutschland gilt dieses Gesetz bislang nicht. Denn nach Schätzungen der Deutschen Krankenhausgesellschaft müssten dafür im Mittel zehn neue Arztstellen pro Krankenhaus geschaffen werden. Das ergäbe einen Bedarf von 25000 zusätzlichen Ärzten. Dieser könnte gegenwärtig nicht annähernd gedeckt werden. Schon gar nicht, wenn sich nicht gleichzeitig die Strukturen ändern.
Die Hoffnung bleibt, dass angesichts der Schwere der Krankheit des deutschen Gesundheitssystems die Klinikchefs zusammen mit ihren ärztlichen Mitarbeitern beginnen, neue Modelle der Weiterbildung und Arbeitszeitgestaltung zu entwickeln und umzusetzen – zum Wohle aller.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 2003, Seite 90
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