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Mikrobiologie: Bakterien mit Thermometer

Einzeller sind oft nur in einem engen Temperaturbereich aktiv. Aber wie merken sie, wie warm es ist? Bei bestimmten Bakterien ist ein zentrales Steuer-Gen mit einem temperaturempfindlichen Riegel versehen: einer molekularen Haarnadel, die sich in der Wärme öffnet.


Manche Bakterien sind allgegenwärtig. Zu diesen Allerwelts-Mikroben zählen insbesondere auch die so genannten Listerien. In Lebensmitteln wie Frischwurst, Seefisch und Rohmilch vermehren sich die stäbchenförmigen Erreger besonders gut und gelangen beim Verzehr der befallenen Produkte in den menschlichen Körper. Im Normalfall stellen sie für einen gesunden Menschen kein Problem dar: Fress- und T-Zellen des Immunsystems vernichten die Invasoren. Gefährdet sind jedoch schwangere Frauen und Föten, da Listerien die Fähigkeit haben, in die Plazenta einzudringen.

Auch Kleinkinder und Menschen mit geschwächter Abwehr wie frisch Operierte, Aids- oder Krebspatienten und Diabetiker können an einer Listeriose erkranken, die häufig einen schweren Verlauf nimmt. Zunächst zeigen sich grippeähnliche Symptome wie Fieber und Durchfall. Im akuten Stadium kann eine Blutvergiftung oder Hirnhautentzündung folgen. Zwar lässt sich die Listeriose mit Antibiotika behandeln. Trotzdem führt sie immer noch in dreißig Prozent der Fälle zum Tode.

Listerien dringen gewöhnlich über die Darmschleimhaut in den Körper ein. Dabei werden sie ähnlich wie Viren über Einstülpungen der Membran in die Zelle aufgenommen und verbergen sich dort vor dem Immunsystem. Zur Fortbewegung nutzen die Invasoren das natürliche Zellgerüst mit seinen hauchdünnen Actin-Fäden. Treffen sie auf die Zellmembran, bilden sie dort fingerförmige Ausstülpungen, die von der Nachbarzelle umschlossen und verschlungen werden. Auf diese Weise schaffen es die Erreger, von Zelle zu Zelle zu wandern, ohne den intrazellulären Raum passieren zu müssen. Für Antikörper bleiben sie daher unangreifbar. Auch die Blut-Hirn-Schranke können sie so überwinden.

Nur bei Körpertemperatur infektiös

Obwohl Listerien bei Temperaturen zwischen 5 und 45 Grad Celsius leben können, hat sich gezeigt, dass sie nur in einem engen Temperaturbereich infektiös sind. Und dieser Bereich liegt ziemlich genau bei 37 Grad Celsius, der Körpertemperatur des Menschen. Der Grund für die freiwillige Zügelung der Aggressivität ist leicht einzusehen: Es macht für das Bakterium keinen Sinn und bedeutet nur eine überflüssige Energieverschwendung, die komplette Maschinerie für die Infektion dauerhaft in Betrieb zu halten; vielmehr verharrt es so lange in einer Art Schongang, bis die richtige Umgebungstemperatur signalisiert, dass ein geeigneter Wirt vorliegt.

Aber wie funktioniert der Temperatursensor? Seine molekulare Basis blieb lange ein hartnäckiges Rätsel. Nun aber fand eine Forschergruppe um Jörgen Johansson vom Pariser Pasteur-Institut die überraschende Antwort: Das Bakterium nutzt einen bisher unbekannten Mechanismus, bei dem sich eine mechanische Blockade in der Wärme auflöst (Cell, Bd. 110, S. 551).

Wie alle Lebewesen erzeugen auch Listerien von einem Gen, dessen Proteinprodukt hergestellt werden soll, zunächst durch so genannte Transkription eine Arbeitskopie in Form einer Boten-RNA. Diese dient dann im zweiten Schritt den zellinternen Eiweißfabriken, den Ribosomen, als Anleitung zum korrekten Zusammenfügen von Aminosäuren zu dem gewünschten Protein – ein Vorgang, der als Translation (Übersetzung) bezeichnet wird. Auf diese Weise entsteht bei Listerien unter anderem auch der für die Infektion wichtige Eiweißstoff PrfA. Er aktiviert dann seinerseits jene Abschnitte des Erbguts, auf denen die Bauanleitung für die so genannten Invasine steht, die das Entern menschlicher Wirtszellen bewirken und das Immunsystem geschickt umgehen. So kommt die Infektion in Gang.

Unterhalb von 37 Grad Celsius wird jedoch nur wenig und bei 30 Grad Celsius gar kein PrfA gebildet. Als Grund dafür fanden die französischen Forscher nun heraus, dass die entsprechende Boten-RNA vor der eigentlichen Bauanleitung einen besonderen Abschnitt enthält, der selbst nicht übersetzt wird und daher die Bezeichnung UTR (untranslated regon, nicht übersetzte Region) erhielt. Dieser Abschnitt liegt in der Kälte nicht als offene Kette vor, sondern ist zu einer Haarnadel gefaltet. Dadurch verdeckt er jene Stelle des Botenmoleküls, die am Ribosom andockt. Die Erbinformation kann deshalb nicht in das Protein übersetzt werden. Erwärmt sich die Umgebung der Listerien allerdings auf 37 Grad Celsius, wird die Haarnadelstruktur instabil und löst sich auf. Dabei gibt sie die Anlegestelle für die Ribosomen frei: Die Herstellung von PrfA und der Invasine kann beginnen.

Dass die Faltung der UTR-Sequenz wirklich als Temperatursensor dient, bewies das Team um Johansson mit verschiedenen Untersuchungen. Zunächst einmal zeigte es, dass in der Kälte genauso viel Boten-RNA gebildet wird wie in der Wärme, die Hemmung also nicht schon den Transkriptionsprozess betrifft.

Einen entscheidenden Hinweis lieferte dann die Gel-Elektrophorese. Dabei ließen die Forscher die RNA-Moleküle bei 30 und bei 37 Grad Celsius durch ein feinporiges Gel wandern. Das Ergebnis war aufschlussreich: Die Wanderungsgeschwindigkeit lag bei der tiefen Temperatur deutlich höher als in der Wärme. Demnach haben die Moleküle in der Kälte eine kompaktere Struktur, die leichter durch die Poren des Gels schlüpft.

Daraufhin ließen die Forscher von einem Computerprogramm anhand der Zusammensetzung der UTR-Sequenz deren wahrscheinliche räumliche Gestalt bei tiefen Temperaturen errechnen. Dabei kam heraus, dass die innermolekularen Wechselwirkungen so stark sind, dass sich die Boten-RNA, die normalerweise einen losen Faden bildet, in der Kälte zu einer haarnadelförmigen Schleife zusammenlegt, welche die Andockstelle für die Ribosomen blockiert.

Mit demselben Programm ermittelten die Wissenschaftler sodann, welche Mutationen diese Sekundärstruktur destabilisieren sollten. Und als sie die natürliche Boten-RNA entsprechend abwandelten, sahen sie ihre Vermutung bestätigt: Die modifizierten Moleküle hatten die Fähigkeit zum Temperaturmessen eingebüßt; sie lagen auch bei 30 Grad Celsius schon als offene Ketten vor, die das Gel genauso langsam durchquerten wie die normale Boten-RNA bei 37 Grad Celsius. In Einklang damit entfalteten Listerien, denen das mutierte PrfA-Gen eingepflanzt wurde, in der Kälte bereits ihre volle Virulenz.

Universeller Wärmefühler

Als Nächstes fragten sich die Forscher nun, ob der Thermosensor auch in anderen Einzellern funktioniert. Sie übertrugen das PrfA-Gen deshalb in das bekannte und gut untersuchte Bakterium Escherichia coli, das im menschlichen Darm lebt. Tatsächlich entstand auch dort erst bei 37 Grad Celsius das zugehörige Protein. Der gelungene Transfer ist umso bemerkenswerter, als sich E. coli grundlegend von den Listerien unterscheidet. Während diese grampositiv sind, gehört es zu den gramnegativen Bakterien. Der von dem dänischen Arzt Hans Christian Gram im Jahre 1884 entwickelte Anfärbetest unterteilt die Mikroben in zwei große Gruppen, deren Zellwand völlig anders zusammengesetzt ist.

Nach dieser erfolgreichen Übertragung lag es nahe zu prüfen, ob sich der Temperatursensor vielleicht auch in andere Gene einbauen lässt. Für diesen Test wählten die Wissenschaftler das grün fluoreszierende Protein (GFP) – ein gebräuchlicher Marker, der ursprünglich aus einer Qualle stammt. Überträgt man das gfp-Gen auf E. coli, so leuchtet das Bakterium auch in der Kälte bei Bestrahlung mit UV-Licht grün auf: ein Beweis, dass es das fluoreszierende Protein produziert.

Mit sehr viel Geschick und Raffinesse fügten die Pariser Wissenschaftler nun in das normale gfp-Gen einen zusätzlichen Abschnitt ein, welcher der UTR-Region aus der Boten-RNA des PrfA-Proteins von Listerien entspricht. Und wieder hatten sie Erfolg: Die Bakterien mit dem derart modifizierten gfp-Gen leuchteten erst bei 37 Grad Celsius grün auf. Demnach bildet der Thermosensor auch hier in der Boten-RNA bei tiefen Temperaturen eine Haarnadelstruktur, welche die Andockstelle für das Ribosom bedeckt und sich erst in der Wärme auflöst.

Welche praktische Bedeutung haben nun diese neuen Erkenntnisse? Zwar liefern sie keine unmittelbaren Ansätze für eine bessere Bekämpfung der Listerien. Doch eröffnet der ungewöhnliche Thermosensor und vor allem seine Übertragbarkeit auf andere Gene viele interessante Möglichkeiten. "Ich glaube, es ist angemessen, von einem bedeutenden Fortschritt zu sprechen", meint denn auch der Mikrobiologe Jon Goguen von der Universität von Massachusetts in Worcester. So kann man künftig – zumindest im Prinzip – beliebige Proteine in Bakterien temperaturabhängig herstellen lassen.

Für die Grundlagenforscher sind das faszinierende Aussichten – ermöglicht es doch, den genauen Zeitpunkt für die Synthese eines Proteins über die Temperatur zu steuern. Aber auch industriell dienen Bakterien schon in großem Maßstab als "Fabriken" für Enzyme oder andere medizinisch bedeutsame Substanzen. Hier kann man sich ebenfalls sinnvolle Einsatzmöglichkeiten für einen Wärmeschalter vorstellen. Johanssons Gruppe hat ihn jedenfalls vorsorglich schon einmal zum Patent angemeldet.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 2003, Seite 13
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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