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Begegnungen der vierten Art



Mögen Datenhelm und -handschuh die Sinne für die Virtualität öffnen – der Körper bleibt an eine alltägliche Wirklichkeit gebunden. Elektronische Stellvertreter bevölkern deshalb die computergenerierten Off- und Online Welten, zumeist mit übermenschlichen Kräften ausgestattet. Nun bekommen sie Konkurrenz durch selbständig agierende virtuelle Menschen und andere synthetische Wesen.

Das erste sogenannte virtuelle Idol war Kyoko Date, ein weiblicher Teenager, eine synthetische "Sängerin". Von den Entwicklern mit einer Biographie, Vorlieben und Abneigungen ausgestattet, agiert sie in Videoclips und plazierte nicht nur bereits erfolgreich Popsongs in den Hitparaden, sondern besetzt auch das Gefühlsleben ihrer Teenager-Anhängerschaft.

Sehr begehrt ist auch das deutsche Model Aimée. Sie ist 21 Jahre alt, schlank, attraktiv und makellos – eine Verkörperung der Ideale von ewiger Jugend, Gesundheit und Schönheit. Ihre geistigen Väter arbeiten im Kölner Unternehmen Vierte Art, das Software zur Animation virtueller Wesen, eben Wesen der vierten Art, entwickelt. Grundlage ist das Motion Capturing: Echte Menschen werden mit Sensoren ausgestattet und ihre Bewegungen und Gesten, sogar die Mimik, aufgenommen (Bild). Bei Showauftritten vollzieht Aimée sie in Echtzeit nach. Bewegungsmuster werden zudem aufgezeichnet und in einer Datenbank gespeichert. Das ermöglicht, die Stärken verschiedener Personen zu kombinieren, beispielsweise einen eleganten Gang mit schönen Handbewegungen und einer ausdrucksstarken Mimik.

Idole wie Kyoko Date oder Aimée, Lara Croft aus dem Spiel "Tomb Raider" oder der smarte Softie E-Cyas (Electronic Cybernetic Artificial Superstar) eignen sich offensichtlich gut als Projektionsflächen für Wünsche und Vorstellungen, wie ihre Fanpost beweist. Mehr noch als echte Pop- und Filmstars, deren Image seit langem zielgruppengerecht aufgebaut wird, lassen sie sich Marketingstrategien anpassen und – anders als wirkliche Menschen – per Internet weltweit und beliebig oft einsetzen. Darüber hinaus dienen manche als virtuelle Produktberater im Netz, andere sind unzerstörbare Stuntmen und billige Statisten: Als Regisseur James Cameron die "Titanic" sinken ließ, stürzten nur virtuelle Menschen aus 15 Metern Höhe ins eisige Wasser. Mittels Motion Capturing wurde eine Bewegungsdatenbank angelegt und eine Vielzahl von Statisten im Rechner erzeugt.

Allerdings erlaubt die derzeitige Technik noch keine Nahaufnahmen, wenn die virtuellen Wesen von realen ununterscheidbar sein sollen – zu viele Details fehlen noch. Doch sind sich die Entwickler darin einig, daß dieser Mangel mit der weiteren technischen Entwicklung bald behoben ist. Die Visionen reichen darüber hinaus: Ein neuer Film mit Marilyn Monroe erscheint manchem ebenso möglich wie obskure Dienstleistungen, etwa ein Treffen mit Verstorbenen im virtuellen Raum. Künstliche Intelligenz soll den Animationen Leben einhauchen. Der Mensch, selbst unvollkommen, sucht sich wohl seiner Begrenzungen in einer anderen Wirklichkeit zu entledigen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1998, Seite 106
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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