Berührungsfreie Rekonstruktion. Vermessung und Replikation menschlicher Fossilien
Mit einer Kombination von Computertomographie, Computergrafik und Stereolithographie ist es möglich, alten Fossilien neue entwicklungsgeschichtliche Einsichten abzugewinnen.
Was über die Evolution des Menschen bekannt ist beruht zu einem wesentlichen Teil auf vergleichenden Untersuchungen an fossilem Skelettmaterial. Allerdings ist die Fossilgeschichte der Gattung Homo nur vergleichsweise spärlich dokumentiert. Versteinerte Hominiden-Relikte gehören zu den seltensten Funden überhaupt. Des weiteren sind von einem bestimmten Individuum meist nur wenige Fragmente erhalten; dessen Rekonstruktion gleicht deshalb häufig einem Puzzle, bei dem die meisten Teile und damit wichtige Anhaltspunkte zum Zusammensetzen fehlen. Viele Fundstücke sind außerdem so brüchig, daß sie beim Ablösen vom Umgebungsgestein, beim Herstellen von Abgüssen oder bei der Verwendung für Rekonstruktionen Schaden nehmen.
In den vergangenen drei Jahren haben wir deshalb am Anthropologischen Institut und am Institut für Informatik der Universität Zürich in interdisziplinärer Zusammenarbeit neue computergestützte Methoden entwickelt und erprobt, die es erlauben, dem wenigen vorhandenen Fossilmaterial ohne physische Eingriffe ein Maximum an Information zu entnehmen. Unser Ansatz basiert auf der Kombination von drei Techniken: der Computertomographie, der Computergraphik und der Stereolithographie.
Zwar ist die Computertomographie in erster Linie aus der Medizin bekannt, wo sie fast schon zum diagnostischen Alltag gehört, doch läßt sie sich im Prinzip auch zur Untersuchung von Struktur und innerem Aufbau beliebiger anderer Objekte einsetzen. Diese werden von einer um sie rotierenden Röntgenquelle schichtweise durchleuchtet und die erhaltenen Daten rechnerisch zu einer Serie von Schnittbildern verarbeitet. Auf Fossilien angewandt, erlaubt das Verfahren, einen Blick in deren sonst unzugängliches Innere zu werfen, ohne daß man sie auch nur anzurühren brauchte. Desgleichen kann man zerbrechliche Knochenreste vermessen, ohne sie vorher vom Umgebungsgestein befreien zu müssen.
Allerdings sind die tomographischen Schnittbilder als solche noch wenig anschaulich. Um die enthaltenen Informationen für die wissenschaftliche Auswertung aufzubereiten, muß man die gewaltigen Datenmengen mit leistungsfähigen Graphikcomputern bearbeiten und in quasi räumliche Ansichten umsetzen.
Am anschaulichsten ist freilich immer noch ein handfestes Modell. Zu seiner Herstellung bietet sich die Stereolithographie als Verfahren der Wahl an. Sie dient in den Ingenieurwissenschaften dazu, reale Prototypen von am Computer entwickelten Bauteilen zu verfertigen (Spektrum der Wissenschaft, April 1995, Seite 90). Dazu wird ein flüssiges Kunstharz durch einen ultravioletten Laserstrahl Schicht für Schicht polymerisiert und dabei ausgehärtet; in gewisser Weise handelt es sich um eine hochtechnisierte Variante der Herstellung von Geländemodellen aus Kartonschichten.
Für eine optimale Kombination dieser drei Techniken mußten wir Software entwickeln, die es ermöglicht, anhand der tomographischen Daten präzise dreidimensionale Computermodelle von Fossilstücken zu erzeugen, sie auf dem Bildschirm interaktiv zu bewegen, zu vermessen, bei Bedarf zu verändern und schließlich stereolithographische Replikate anzufertigen.
Unsere konkreten anthropologischen Untersuchungen begannen wir dann mit einer fast etwas makaber anmutenden, in jedem Falle aber ungewöhnlichen Aktion. Statt des üblichen lebenden Patienten legten wir Gebeine eines vor 40000 Jahren Verstorbenen auf den Schlitten des Tomographen im Universitäts-Spital Zürich. Es handelte sich um Schädelfragmente eines Neandertaler-Kindes aus Gibraltar, die nach der Fundstelle Devil's Tower (Teufelsturm) benannt sind. Dieses Fossil war für uns von besonderem Interesse, weil lediglich fünf Bruchstücke erhalten sind, bei denen nicht klar war, ob sie alle demselben Individuum angehörten.
Anhand der tomographischen Daten rekonstruierten wir den virtuellen Schädel auf dem Stereo-Bildschirm eines leistungsfähigen Graphikcomputers (Bild 1). Dabei versuchten wir, sämtliche im Tomogramm enthaltenen Informationen auszunützen, um die Fragmente in die anatomisch richtige Lage zu bringen. Fehlende Teile ergänzten wir durch spiegelbildliche Kopien der vorhandenen. Auch hier zeigten sich die unschätzbaren Vorteile der modernen elektronischen Bildverarbeitung. Mußten Restauratoren früher ein räumliches Spiegelbild noch in wochenlanger Arbeit mühsam von Hand fertigen, so läßt es sich heute per Computer innert Sekunden in höchster Genauigkeit auf den Bildschirm zaubern.
Die Rekonstruktion des kompletten Schädels begann mit dem Unterkiefer: In einer Art virtuellen kieferchirurgischen Operation ergänzten wir den fehlenden linken Kieferast und setzten Spiegelkopien der linken Milchbackenzähne auf der rechten Seite ein. Danach konnten wir den rechten Oberkiefer mit den darin erhaltenen Zähnen sowie sein Spiegelbild plazieren. Eines allerdings ist bei aller Leistungsfähigkeit der heutigen Computer auf dem Bildschirm kaum möglich: den Beißkontakt zwischen den Zähnen zu überprüfen. Deshalb kontrollierten wir die Gebiß-Stellung an einem stereolithographisch erzeugten Modell, ähnlich wie dies in einer zahnärztlichen Praxis mit Gipsmodellen gemacht wird.
Anhand der computertomographischen Daten ließ sich im Innern des rechten Schläfenbeinfragments das vollständig erhaltene knöcherne Labyrinth sichtbar machen: jenes komplexe Hohlraumsystem, welches das schneckenförmige Hörorgan und die drei Halbkreisbogen des Gleichgewichtsorgans umfaßt. Letztere dienten uns als zuverlässiger anatomischer Kompaß, um das Schläfenbein und sein Spiegelbild in der richtigen Stellung auf die Gelenkköpfe des Unterkiefers zu setzen. Im nächsten Schritt paßten wir das Stirnbein mit dem linken Scheitelbein zusammen und ergänzten das fehlende rechte Scheitelbein. Diese Teile des Hirnschädels konnten wir dann auf die unabhängig davon rekonstruierte Schädelbasis aufsetzen. Daß die zwei Hälften millimetergenau zusammenpaßten läßt darauf schließen, daß alle Fossilstücke tatsächlich von ein und demselben Individuum stammen.
Mittels Stereolithographie überführten wir die fertige Computerrekonstruktion des virtuellen Schädels schließlich in die physische Realität (Bild 2). Während beim traditionellen Abgußverfahren zuerst mehrere Hohlformen am Original einzeln ausgegossen und die Gußstücke anschließend wieder zusammengesetzt werden müssen, kann man mit der Stereolithographie Fossilien in einem Arbeitsgang berührungsfrei replizieren. Zudem lassen sich auch sehr feine, räumlich komplexe Strukturen und Hohlräume mit hoher Präzision wiedergeben. Da die verwendeten Polymere durchsichtig sind, hat der Betrachter sogar direkten Einblick in solche anatomisch interessanten Innenräume.
Mit dieser Methode rekonstruierten wir noch zwei weitere Schädel von Neandertaler-Kindern aus Belgien und Frankreich. Hier half uns der Computer auch dabei, einige durch den Gesteinsdruck deformierte Knochen zu entzerren. Erst danach konnten wir die Schädel vermessen, um sie mit denen heutiger Kinder zu vergleichen.
Der Computer als Meßinstrument eröffnete dabei völlig neue Möglichkeiten. Die traditionellen Meßinstrumente der Anthropologie – Schublehre, Meßzirkel und Winkelmesser – werden der überaus komplexen Struktur von Schädelknochen im Grunde nämlich nicht gerecht. Mit computerunterstützten Methoden ist es dagegen möglich, nicht nur Längen und Winkel zu messen, sondern auch Oberflächen, Querschnittsflächen, Krümmungen, Volumina und so weiter zu erfassen und die Ergebnisse bildhaft darzustellen.
Der Vorteil sei an einem kleinen Beispiel verdeutlicht. Seit langem ist bekannt, daß Neandertaler dickere Knochen als anatomisch moderne Menschen hatten. Da bei der Schädelkapsel die Knochendicke jedoch stark variiert, liefern Messungen von Hand keine konsistenten Ergebnisse. Mit dem Computer kann man hingegen Knochendicke-Karten erstellen, die umfassend und quantitativ Auskunft über die Dicke-Variation geben und detaillierte Vergleiche zwischen Individuen erlauben (Bild 3).
Entsprechend ergaben unsere Untersuchungen, daß sich die Schädelmorphologie von Neandertalern und modernen Menschen schon im frühen Kindesalter von drei bis vier Jahren deutlich unterscheidet. Unseres Erachtens sind die Diskrepanzen nicht nur in der Knochendicke, sondern auch in anderen anatomischen Merkmalen so bedeutend, daß die beiden Hominidenformen getrennten Arten zugeordnet werden müssen.
Unser für die Anthropologie entwickeltes Verfahren ist auch für die Medizin von Nutzen. So kann damit eine geplan-te Operation am virtuellen Patientenschädel auf dem Bildschirm oder direkt am individuell angefertigten stereolithographischen Modell geübt werden. Dies sollte das Risiko des Eingriffs verringern und seine Dauer verkürzen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1995, Seite 14
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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