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Betrüger oder Schlitzohren - die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft

Haben die Wissenschaftsorganisationen in Deutschland angemessen und richtig auf die kürzlich aufgedeckten Betrugsfälle reagiert? Brauchen wir eine andere Wissenschaftskultur? „Spektrum der Wissenschaft“ befragte hierzu die Biowissenschaftlerin Frau Professor Ulrike Beisiegel, den Chemiker Professor Helmut Schwarz, den Rechtshistoriker Professor Dieter Simon sowie den Soziologen Professor Peter Weingart. Das Gespräch führten Dieter Beste und Marion Kälke.


Frage: Frau Professor Beisiegel, Sie haben an den Empfehlungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mitgewirkt, mit denen ein Fehlverhalten in der Wissenschaft künftig besser unterbunden werden soll. Hat sich diese Arbeit gelohnt?

Professor Ulrike Beisiegel: Ja, auf jeden Fall. Außer der DFG-Kommission haben auch die anderen großen Forschungsverbände – die Helmholtz-Gemeinschaft und die Max-Planck-Gesellschaft – ähnliche Dokumente erarbeitet. Das war sehr, sehr notwendig.

Die Kernfrage, die sich jeder gestellt hat, lautete: Ist der Fall des Krebsforschers Friedhelm Herrmann und seiner ehemaligen Mitarbeiterin Marion Brach, der sozusagen den Staub aufgewirbelt hatte, die Spitze eines Eisberges oder nur eine Ausnahme? Der damalige Präsident der DFG, Professor Wolfgang Frühwald, hielt ihn für einen sehr seltenen Einzelfall; dem konnte ich nicht zustimmen.

In unserer Kommission hat sich gezeigt, daß es sehr unterschiedliche Wissenschafts-Kulturen gibt: Mit Spitze des Eisberges sind nicht Chemie oder Physik gemeint, sondern allen voran die Biowissenschaften, die ja meist etwas mit Medizin zu tun haben.

Frage: Nun sind für alle wissenschaftlichen Einrichtungen einheitliche Kriterien dafür geboten, was als Fehlverhalten zu definieren ist oder nicht. Brauchen wir nicht eine deutliche, allgemein gültige Richtlinie, die auch in die einzelnen Universitäten hineinreicht?

Beisiegel: Das ist ein Problem. Was ist Fälschung, was Betrug, was nur ein bloßer Fehler? Wir haben bewußt den Begriff Unredlichkeit gewählt, um die Absicht hinter einem Verhalten hervorzuheben.

Ich versuche nun vor allem, die DFG-Empfehlungen an unserem Fachbereich in der Medizinischen Universitätsklinik Hamburg durchzusetzen. Aber einheitliche Kriterien muß es auch über alle Disziplinen hinweg geben, nicht nur für Biowissenschaftler, die zunächst den unrühmlichen Anstoß gaben.

Frage: Trifft die Formulierung "Spitze des Eisberges" zu? Fordern die Verhältnisse in der Forschung zu unlauterem Verhalten heraus?

Professor Peter Weingart: Wir haben keinen genauen statistischen Überblick. Aber es ist zum Beispiel ein elektronischer Informationsdienst über E-Mail zugänglich, wo stetig Fälle gemeldet, analysiert und kommentiert werden. Nach einer unserer Untersuchungen am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung der Universität Bielefeld findet sich zunächst einmal das Gros der berichteten Fälle in der Biomedizin. Das ist verständlich, denn sie gehört zu den Gebieten, in denen heute am schnellsten Fortschritte erzielt werden, in denen die Wettkämpfe um Ergebnisse und Patente am schärfsten sind und in denen zugleich die Erwartungen der Öffentlichkeit – weil das Wohl des Menschen direkt tangiert ist – am höchsten sind.

Zudem tauchen Mogeleien gehäuft bei den Qualifikationsarbeiten auf. Der Druck, die Anforderungen für eine wissenschaftliche Karriere erfüllen zu müssen, spielt offenbar schon sehr früh eine Schlüsselrolle.

Professor Dieter Simon: Die Formulierung "Spitze des Eisberges" erweckt einen falschen Eindruck – fast so, als sei etwas zutage getreten, unter dem sich ein Abgrund an Korruption verberge. Wenn irgendwo ein Winzer Wein panscht und dann noch einer, würde doch niemand gleich die gesamte deutsche Wirtschaft für korrupt halten. Ich glaube allerdings auch nicht an die These von Herrn Frühwald, der Fall Herrmann/Brach sei eine einzigartige Ausnahme. Sicherlich gibt es diese Art von Fälschungen und Fehlverhalten heutzutage in größerem Umfang. Und dahinter stecken viele Gründe; die Karriere ist nur einer davon.

Nach einer Umfrage in den USA würden 20 bis 25 Prozent der dortigen Highschool-Studenten durchaus nicht vor einer Fälschung im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit zurückschrecken, wenn die Bedingungen es erlaubten, wenn es nicht besonders auffiele, und wenn man damit ein gutes Geschäft machen könnte. Das finde ich unter den herrschenden Umständen, die dem Markt gehorchen, ganz normal ...

Professor Helmut Schwarz: Ähnliches würde ein Autoverkäufer auch tun!

Simon: Wenn man unter Bedingungen des Wettbewerbs Wissenschaft als Ware handelt – und das finde ich in keiner Weise abschreckend und entsetzlich, weil die Wissenschaft nun einmal die Basis unserer Existenz, eine Produktivkraft ersten Ranges ist –, dann evoziert das natürlich das Gebaren eines Händlers; und dieses besteht nicht nur im Karrierestreben, sondern auch darin, stets seinen Vorteil zu suchen. Eine Marktwirtschaft ruft marktkonformes Verhalten hervor, und um einen Konkurrenten ausstechen zu können, gehört in gewissem Umfang so etwas wie Schlitzohrigkeit und Gerissenheit dazu.

All dies sind gewissermaßen Naturgesetze. Die Helmholtz-Gemeinschaft, die DFG, die Max-Planck-Gesellschaft – alle haben sie ihre Verfahrensregeln zum Besten gegeben. Ich glaube, sie werden überhaupt nichts nützen – jedenfalls nicht sehr viel. Wenn jemand seinen Namen unter eine Veröffentlichung setzt, die er nicht selber geschrieben hat, wenn jemand Daten manipuliert, damit sie zur Hypothese passen, wenn jemand hier oder dort ein bißchen die Wahrheit verbiegt, um zu einem Forschungsergebnis zu gelangen, dann braucht man doch nicht die DFG, um ihm zu erklären, daß das nicht richtig ist. Es gibt wohl Grade von Lug und Trug, die man verschieden bewerten kann: Manches ist verzeihlich, manches ist nur besonders ärgerlich, manches schwerwiegend. Wenn nun zwei herausragende Persönlichkeiten, und dann noch ein Mann und eine Frau, uns einen solchen Fall wie im vergangenen Jahr bescheren, dann freuen sich vor allem die Medien. Doch um ehrlich zu sein, finde ich die Aufregung und diese hektische, ja fast panische Reaktion der Wissenschaftsorganisationen zwar ehrenvoll, aber nicht zweckmäßig.

Frage: Also nur ein Sturm im Wasserglas? Selbst wenn ein Verstoß in der Wissenschaft, der selbst bis zur Veruntreuung von Steuergeldern reichen kann, kaum strafrechtlich zu ahnden ist, ja bisher sogar disziplinrechtlich kaum zu fassen war, müßten doch Maßnahmen greifen, mit denen sich zumindest die Glaubwürdigkeit der Forschung wiederherstellen ließe. Glauben Sie, daß unabhängige staatliche Kontrollinstanzen überflüssig sind – wie etwa das amerikanische Office of Research Integrity (ORI) des Public Health Service? Daß die oft zitierte Selbstreinigungskraft der Wissenschaft funktioniert?

Schwarz: Ja, ich möchte ganz entschieden behaupten, daß das System selbst funktioniert. Daß betrogen wird, ist absolut normal. Wer das Gegenteil erwartet, stellt sich blind. Wissenschaftler sind eben auch nur Menschen. Die Frage ist, mit welchen Methoden sich Betrügereien in Grenzen halten lassen. Ich stimme Herrn Simon zu, daß Institutionen wie eine DFG die Wissenschaftler am allerwenigsten auf den rechten Weg bringen können.

Beisiegel: Es geht nicht um die Institution. Weder die DFG noch eine der anderen Organisationen will etwas institutionalisieren. Was mit den Empfehlungen erreicht werden soll, ist in der Tat nichts anderes als Selbstkontrolle. Eine Instanz wie das ORI lehnen wir ab.

Schwarz: Aber Selbstreinigung in den Naturwissenschaften kann nur innerhalb des Systems selbst funktionieren; denn alles, was wichtig ist, wird hier direkt kontrolliert. Die Chance, die Mogelei eines Kollegen aufzudecken, ist äußerst groß.

Unerkannt bleiben allenfalls die uninteressanten Dinge: in jenen Bereichen der Forschung nämlich, die eigentlich gar keine ist, in der – wie ich sie nennen möchte – Beamtenforschung. Jedes Jahr werden Millionen Artikel publiziert. Davon sind 90 Prozent vermutlich gänzlich uninteressant, und selbst wenn hier Betrug en masse im Spiel wäre, wen kümmerte das? Da füllen nutzlose Bände die Regale, da werden vermutlich auch Steuergelder und andere Mittel falsch eingesetzt. Das ist ärgerlich, gewiß. Was hingegen eine Wissenschaft vorantreibt, was langfristig nicht nur für ein Fach, sondern auch für eine Kultur wichtig ist, das wird man überprüfen. Betrug kann hier nicht unentdeckt bleiben. Die Sanktionen, welche die Vertreter eines Faches dann gegen einen unlauteren Kollegen treffen werden, sind viel gravierender, als jede andere Maßnahme es sein könnte. Ein Wissenschaftler, der offensichtlich gemogelt hat, wird fortan geächtet sein. Er wird sich auf keiner Konferenz der Welt mehr sehen lassen können. Das ist funktionierende Selbstreinigung.

Simon: Daß wir auf der etwas problematisch klingenden Selbstreinigungskraft der Wissenschaft beharren, hat sicherlich einen guten Grund: Unsere Forschungsfreiheit ist grundrechtlich verbürgt und geschützt, unsere Wissenschaft ist darum als Institution äußerst stark. In Deutschland ist die Wissenschaftsorganisation wesentlich unabhängiger als irgendwo anders. Dies ist ein großes Entgegenkommen des Staates, und wir wissen dies nicht bloß in Festtagsreden zu würdigen. In Frankreich oder in Griechenland zum Beispiel, wo ich die Verhältnisse besonders gut kenne, aber auch in Spanien oder in England ist es völlig undenkbar, daß eine Wissenschaftsorganisation darauf bestehen kann, daß ihr niemand hereinredet.

Bislang haben in der Tat Wissenschaftler selbst die bekannt gewordenen Fälle aufgedeckt. Dazu gehört allerdings nicht nur moralische Integrität, sondern auch Mut. Wer die Unredlichkeit eines Kollegen öffentlich macht, könnte auch als Denunziant gebrandmarkt werden.

Weingart: Die Linie ist in der Tat dünn; denn es wäre nicht auszuschließen, daß gerade die whistle blower, die Informanten, die Unredlichen sind.

Simon: Jemanden aus Neid verdächtigen – damit ließe sich unter Umständen die Karriere eines Konkurrenten behindern, wenn nicht gar beenden. Der Beschuldigte hätte in jedem Fall nichts mehr zu lachen.

Weingart: Auf der anderen Seite müssen wir unter allen Umständen eine Kumpanei derjenigen vermeiden, die einen enthüllten Betrug eben noch mal decken.

Beisiegel: Wir haben an der Hochschule eine Aufgabe in der Lehre zu erfüllen. Wir wollen junge Wissenschaftler heranziehen. Herr Simon sagte etwas provozierend, es sei nicht so schlimm, wenn 20 Prozent der Studenten bereit wären, ein bißchen zu schummeln, denn das sei doch wie in der Wirtschaft. Eine solche Haltung betrachte ich als gefährlich. Leider werden Moral oder wissenschaftliche Kodizes an den Hochschulen nicht gelehrt, in der Medizin ebensowenig wie in der Biochemie – das sind die Bereiche, die ich gut kenne.

Simon: In einem Punkt stimme ich Ihnen zu: Handlungsbedarf liegt beim akademischen Korps, beim Hochschullehrer. Nach wie vor lernen die Studenten nichts aus Broschüren und Lehrbüchern, sie lernen nach dem Vorbild der Menschen, die sie erleben. Um so schlimmer ist es, wenn die Vorbilder fahrlässig handeln.

Beisiegel: Ich diskutiere das Problem jetzt mit meinen Studenten auf der Grundlage der DFG-Empfehlungen.

Ein junger Mensch, der seinen Professor beim Fälschen erwischt, braucht einen Ansprechpartner, um damit in zweierlei Hinsicht umgehen zu können: Er darf zum einen ein solches Verhalten niemals akzeptieren und muß zum zweiten auch den Mut aufbringen, den Mund aufzumachen. Der junge Mann etwa, der den Fall Herrmann ins Rollen brachte, hatte sich zunächst an andere Arbeitsgruppenleiter gewandt – von denen keiner etwas unternehmen wollte. Das ist in höchstem Maße unmoralisch. Nachwuchswissenschaftler sollen Unredlichkeit benennen können – ohne fürchten zu müssen, dadurch ihre Stellung zu verlieren. Deshalb bin ich in Hamburg Vertrauensprofessorin, und ich habe inzwischen in einigen Fällen vermitteln können. Die Einrichtung eines Ombudsmanns, wie es die DFG gefordert hat, ist sehr wichtig, damit die jungen Leute nicht ihrem Chef ins Gesicht sagen müssen: "Sie haben etwas falsch gemacht!"

Simon: Das ist doch eine Frage der Moralität in einer Gemeinschaft. Und eine Frage der Zivilcourage, die bei deutschen Professoren bekanntermaßen noch nie so übermäßig entwickelt war. Gewiß wird – nicht nur bei uns – keine Krähe gern der anderen ein Auge aushacken. Jeder hat doch lieber seine Ruhe, und darum neigen wohl viele dazu, die Dinge unter den Teppich zu kehren. Das sind normale gruppenspezifische Verhaltensweisen, die immer wieder auftreten werden.

Doch gewiß gibt es auch junge Wissenschaftler, die sagen: "Chef, da mache ich nicht mit!" Das sind tolle Leute, aus denen auch etwas wird.

Beisiegel: Sofern sie nicht ihren Job in der Klinik verlieren!

Simon: Vielleicht. Aber es gibt auch andere Kliniken, wo sie unterkommen können. Und vielleicht verlieren sie ihren Job auch gar nicht. Es ist doch hier wie in allen anderen Fällen, in denen man Widerstand leistet – wir brauchen eben eine Erziehung zur Zivilcourage. Wer den Mut nicht aufbringt, sagt hinterher gern: "Ich hätte doch sonst meinen Job verloren!" Ach, ich glaube das nicht. Möglicherweise wird jemand sogar schneller befördert, der sich um der Wahrheit willen traut.

Beisiegel: Sie kennen das klinische System nicht sehr gut.

Simon: Nein, ich kenne es gar nicht, aber ich kenne die menschlichen Verhaltensweisen. Und die sind überall gleich. Keiner will Ärger; jeder möchte die Sache möglichst schnell bereinigt haben. Allein mit moralischen Kodizes konnte man in der Geschichte – und da kenne ich mich gut aus – noch nie Institutionen reformieren. Ich halte dies für eine zwar lobenswerte, aber doch fromme Selbsttäuschung.

Wenn Selbstreinigung wirklich funktioniert, dürften es nicht nur die jungen Wissenschaftler sein, die Fehlverhalten entdecken. Nach Ihrer Aussage, Herr Schwarz, müßte jede Fälschung von Bedeutung irgendwann auffliegen. Dazu bedarf es aber zumindest der Transparenz – sowohl nach innen wie auch nach außen.

Schwarz: Aber die ist doch da!

Transparenz wird zunächst hergestellt durch wissenschaftliche Zeitschriften: Ein Wissenschaftler reicht seine Arbeit ein, die dann Fachkollegen im Peer-Review-Verfahren begutachten, und danach erst wird der Artikel veröffentlicht – oder auch nicht. Trotzdem hat ein renommierter Wissenschaftler wie Herr Herrmann laut Presseberichten insgesamt weltweit 398 Publikationen vorzuweisen, 170 davon in den letzten sieben Jahren. Wie kann ein Mensch denn so viel schreiben?

Und welcher Gutachter ist noch in der Lage, jede Einzelpublikation in der Flut der Arbeiten zu beurteilen? Inzwischen soll alle 30 Sekunden ein neuer Artikel in einer der 40000 Fachzeitschriften erscheinen; allerdings werden nur die wenigsten zur Kenntnis genommen: Einen hohen Impact Factor, gemessen an der Häufigkeit der Zitate, haben nur wenige Zeitschriften – wie etwa "Nature" oder "Science", deren Artikel durchschnittlich 27- beziehungsweise 21,9mal zitiert werden.

Schwarz: Das "Journal of the American Chemical Society" zum Beispiel, eine der renommierteren Zeitschriften, hat ungefähr 10000 ehrenamtlich tätige Gutachter, so daß sich für jeden der etwa 5000 Beiträge pro Jahr immer genügend von ihnen finden lassen. Das Problem ist vielmehr, daß man oftmals einen Artikel bewerten muß, der sich bereits nach drei Minuten Lesen als eine Arbeit aus der Beamten-Forschungsmentalität erweist, und so nimmt man sich nicht die Zeit für das Detail; folglich schreibt man ein "weiches" Gutachten, vielleicht eine Ablehnung, vielleicht auch nicht, und dann kann eine schlechte Arbeit doch publiziert werden.

Aber noch einmal: Warum kümmern wir uns so sehr um die Dinge, die eher nebensächlich sind? Die langfristig bedeutsamen Artikel werden genau gelesen. Wenn sie kontrovers sind, weil sie neu sind oder noch nicht verstanden werden, bekommen zur Not fünf oder mehr Gutachter sie zu sehen. Man muß Spreu vom Weizen trennen.

Beisiegel: Dennoch hätte ein guter Gutachter, hätte er sich die Zeit genommen, im Fall Herrmann Fehler bemerken müssen: Es waren zum Beispiel Abbildungen zweimal abgedruckt. Hier hat das System versagt. Wenn ich mich als Reviewer nicht mit den unwichtigen Arbeiten beschäftigen müßte, sondern mich konzentrieren könnte auf alle ernstzunehmenden, hätte ich viel gewonnen. Die Redaktionen der Journale müßten auch von vornherein eine sinnvolle Auswahl treffen und dürften nicht gleich jeden winzigen Gedankensplitter an die Öffentlichkeit bringen. Wir müssen diese zahllosen kleinen Papierchen in der Publikationslandschaft verhindern. Natürlich werden diese nicht die große Fälschung enthalten, aber sie rauben mir meine Zeit. Im Moment könnte ich mich leicht die Hälfte des Jahres nur mit Gutachten befassen.

Simon: Ich fürchte, es gibt keine generellen Regeln, die man hier empfehlen kann.

Beisiegel: Es gibt aber bessere Regeln als die jetzigen. Wir müssen über Qualität und Quantität von Publikationen viel stärker diskutieren, damit wir hinterher nur noch den Weizen haben, nicht die Spreu.

Weingart: Das System ist hochselektiv: 80 Prozent aller Zitate stammen aus 20 Prozent aller Zeitschriften.

Schwarz: Wir wissen recht genau, wo Qualität ist!

Beisiegel: Aber Herrmann war auch Qualität!

Schwarz: Er war es nicht.

Beisiegel: Er war es eben doch! Das ist ja der Punkt. Er hat in den besten Journalen publiziert.

Simon: Herr Herrmann hat ja nicht als Betrüger angefangen, sondern sich das Vertrauen in seine Arbeit über viele Jahre redlich verdient. Vielen Kollegen, die ihn kennen, ist es rätselhaft, warum er das getan hat. Irgendwann muß da mal der Übermut ausgebrochen sein, weil er gemerkt hat, daß er machen kann, was er will.

Beisiegel: Ja, weil das System ihn ließ.

Schwarz: Sicherlich unterscheiden sich die Fächer hierbei. In der Medizin ist der Graubereich viel größer, und Experimente und Reproduzierbarkeit sind nicht in dem Maße wie in anderen Disziplinen möglich, weil es dabei um Menschen geht, an denen und mit denen man nicht so einfach experimentieren darf. Darum ist in diesem Fach ein Betrug wahrscheinlicher als in einem anderen. Aber auch wenn eine neue, auf Fälschungen gegründete These über Krebsentstehung veröffentlicht würde, so mag damit der Urheber vielleicht fünf oder sieben Jahre hausieren gehen, länger jedoch vermutlich nicht. Dieses Risiko muß man eingehen.

Frau Beisiegel, stimmen Sie dem zu? Welche Gründe sehen Sie dafür, daß gerade die Biowissenschaften und die Medizin so gefährdet sind? Ist hier der Publikationsdruck größer als in anderen Disziplinen?

Beisiegel: Mir hat der Leiter unserer Klinik einmal ganz väterlich gesagt: "Frau Beisiegel, Sie wissen gar nicht, wie häufig das passiert."

An die medizinische Forschung, etwa über Krebs, stellen die Menschen höchste Erwartungen. Nun sind aber 80 Prozent dieser Forschungstreibenden Mediziner, die dies nicht angemessen gelernt haben, weil ihre Ausbildung sie weniger für eine wissenschaftliche Karriere vorbereitet hat als für die klinische Praxis. Zugleich können sie genau aus diesem Grund auch den zeitlichen Aufwand nicht bewältigen. Sie können also kaum so fundierte Forschung wie ein Physiker oder ein Chemiker betreiben.

Eine medizinische Dissertation ist keine wissenschaftliche Arbeit, die denen der genannten Disziplinen vergleichbar wäre. Und Mediziner schreiben ihre Habilitationen, nachdem sie acht Stunden am Tag mit Patienten in der Klinik verbracht haben – dies ist extrem anstrengend. Sie sitzen am Krankenbett, sie endoskopieren und operieren. Um sechs Uhr abends schließlich gehen sie ins Labor, um die Daten ihrer Versuchsreihen durchzusehen und auszuwerten, die zuvor die Assistentin vorbereitet hat – die ist aber um diese Zeit schon längst gegangen und kann keine Auskunft mehr über Details geben. Der Mediziner steht also vor einem Datenberg, den er selber kaum nachvollziehen kann, mit dem er aber arbeiten muß – und das möglichst schnell. Und wer nicht genug Arbeiten im Jahr vorzuweisen hat, kann sich nicht habilitieren. Unter diesem Druck entstehen Unredlichkeiten.

Schwarz: Das wäre dann ein Plädoyer dafür, das System in den Biowissenschaften und der Medizin zu reformieren.

Beisiegel: Auch die Physiker etwa haben ihren Verhaltenskodex. Aber sie sagen, bei ihnen sei dies kein Problem. Das bestätigte mir Björn Wiik, Professor für Physik und Vorsitzender des Direktoriums am Deutschen Elektronen-Synchroton (DESY) und Mitglied der DFG-Kommission. Nun, ein Physiker schreibt in zwei Jahren eine gute Publikation und bekommt daraufhin eine gute Position – zum Beispiel bei DESY. Ein Mediziner hingegen muß zehn bis zwölf Publikationen im Jahr vorweisen, um eine Position zu bekommen, und das neben der klinischen Arbeit. Da sehen Sie den Konflikt!

Es gibt Versuche, nur die 10 wichtigsten Publikationen heranzuziehen, wenn es eine Stelle zu besetzen gibt.

Beisiegel: So müßte es sein. Es käme darauf an, durch Qualität und nicht durch Quantität zu überzeugen!

Schwarz: Wir kennen die meisten Defizite des Publikationsmediums, die wir allerdings nicht ganz so leicht beseitigen können, und es gibt keine Alternative zum Publikationswesen. Wir haben jedoch sehr einfache Regeln, an die man sich halten kann. In der Chemie bewerben sich auch Kandidaten mit viel zu vielen Publikationslisten. Wenn wir eine Position zu besetzen haben, ist es selbstverständlich, daß die Bewerber ihre gesamte Publikationsliste vorlegen, aber zugleich erwarten wir, daß sie die ihrer Meinung nach zehn wichtigsten Arbeiten nennen können. Und die schaut man sich dann im Detail an.

Beisiegel: So funktioniert das aber in der Medizin noch nicht!

Schwarz: Ja, da frage ich mich, warum. Das kann nur an den Personen oder den fachspezifischen Experten der Institutionen liegen!

Beisiegel: Das habe ich ihnen doch eben erklärt! Um sich in der Medizin weiterqualifizieren zu können, muß man einfach eine bestimmte Anzahl Publikationen vorlegen. Sie haben allerdings recht, daß wir das ändern müssen. Mediziner beginnen gerade erst, das Problem zu entdecken. Nur die Autorität der Wissenschaftler aus anderen Disziplinen und von Organisationen wie der DFG können diesen Denkprozeß in der Medizin fördern.

Weingart: Ich möchte einen weiteren Grund anführen, warum in allen Wissenschaften die Flut an Publikationen anschwillt. Das Wissen und damit auch das Wissenschaftssystem sind in der Geschichte immer weiter und immer schneller gewachsen, folglich differenziert sich das System nach innen. Das heißt, wir haben immer ungefähr eine gleiche Zahl von Leuten pro Spezialisierung, wobei die Anzahl der Spezialisierungen ansteigt. Das System muß sich permanent weiter differenzieren, solange es wächst und so lange es von außen entsprechende zusätzliche Ressourcen erhält. Wir haben in der Wissenschaft Verdoppelungsraten in Zeiträumen zwischen 10 und 15 Jahren – bei Personal, Publikationen und anderem. Und dies läßt sich nicht endlos weitertreiben. Ich glaube nun, daß die Betrügerei unter anderem etwas damit zu tun hat, daß das System an seine Grenzen gerät.

Läßt sich bei diesen Graden der Spezialisierung denn überhaupt noch Transparenz herstellen? Versteht ein Forscher, woran sein Nachbar arbeitet?

Simon: An der Schnittstelle zur Öffentlichkeit mangelt es häufig an Transparenz. Es mangelt aber auch schon wissenschaftsintern daran, weil man unmöglich einschätzen kann, was ein anderer tut. Wenn meine Kollegen jemanden als besten Steuerrechtler Europas bezeichnen würden, wäre ich selbst in einer normalen juristischen Fakultät nicht mehr in der Lage, dies zu bestätigen oder zu widerlegen. Wenn ich in meiner Spezialität als Byzantinist auf dem Berge Athos monatelang nach einer Handschrift des griechischen Kirchenlehrers Athanasius (295 bis 373 nach Christus) gesucht hätte, ohne sie zu finden, hätte ich sie in dieser Zeit vielleicht selber schreiben können. Ich bin sicher, es würde mindestens fünfzig Jahre bis nach meinem Tode dauern, bis jemand den Schwindel bemerkte; denn ein solches Unterfangen würde wohl kaum jemand noch einmal auf sich nehmen.

Und wie sieht das erst in der viel komplexeren Naturwissenschaft aus. Wer könnte heute eine Behauptung eines Spezialisten schon nachvollziehen? Nur wenige weitere Spezialisten. Das ist ein Mangel an Transparenz, für den ich keine Lösung habe. Deshalb müssen wir sehr viel Vertrauen in andere Wissenschaftler investieren und umgekehrt das uns entgegengebrachte Vertrauen rechtfertigen.

Dieses Vertrauen ist nun lädiert. Man kann es den Kollegen doch nicht ansehen, ob sie ehrlich sind oder nicht. Im Fall Herrmann habe ich die unmittelbar Beteiligten gefragt, wie sie denn einem Mann so lange vertrauen konnten, der so viele Artikel schreibt. Manche Ausreden habe ich zu hören bekommen, etwa daß er schon vorher viel geforscht und daher vieles in der Schublade gehabt habe. Die Vorstellung muß sich erst im Kopf bilden, daß es sich hierbei um eine nackte Gaunerei handeln, daß derjenige, dem man tagtäglich vertrauensvoll begegnet und den man vielleicht sogar ein bißchen beneidet, ein Scharlatan sein könnte.

Beisiegel: Deshalb muß Transparenz zuerst nach innen hergestellt werden. Zum Beispiel müssen Arbeitsgruppen überschaubar sein, damit der Leiter überhaupt Verantwortung für die Forschung in seiner Arbeitsgruppe tragen kann. In der Medizin ist ein Klinikchef von 50 Assistenten umgeben und hält seinen Kopf für ihre Arbeit hin. Sein Name steht auf jeder Publikation – und von den vielleicht 70 Veröffentlichungen im Jahr hat er womöglich nur drei gelesen. Und nun frage ich Sie: Ist das richtig?

Kann eine Denkschrift wie die der DFG zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis hier nicht, wie der Name nahelegt, zumindest zu denken geben? Ein Außenstehender konnte den Klinikchefs nicht sagen, wo es mangelt, weil er es nicht wissen konnte. Ich habe es ihnen gesagt, und mir hat keiner zugehört. Wenn eine Organisation mit Autorität wie die DFG es sagt, dann sind sie gezwungen, es zur Kenntnis zu nehmen. Und ich bin sicher, daß die Botschaft bei einigen angekommen ist – mir haben bereits mehrere meiner klinischen Kollegen versichert, daß sie die Unsitten ein bißchen zurückfahren wollen.

Frage: Wenn das Vertrauen der Wissenschaftler untereinander schon geschädigt ist, wie kann die Öffentlichkeit der Wissenschaft noch vertrauen, mithin nicht nur der Nutznießer von Wissenschaft, sondern auch der Steuerzahler, der sie zum großen Teil finanziert? War die Offenlegung der einzelnen Betrugsfälle eine öffentliche Selbstanklage und notwendig, um Ethik und Ehrlichkeit im Ganzen zu demonstrieren?

Beisiegel: Es hat immer schon Ehrenkodizes gegeben, besonders in der Medizin. Eine Denkschrift wie die der DFG zu haben, das Thema Betrug in die Öffentlichkeit zu tragen, birgt sicher die Gefahr, daß man nach außen hin große Probleme im System zugibt. Aber ich halte eine solche Offenheit für extrem wichtig.

Weingart: Wenn sich in der riesigen Menge der Publikationen Betrugsfälle finden, weckt dies natürlich das Interesse in der Öffentlichkeit, die sich verständlicherweise fragt, wofür Steuergelder ausgegeben werden. Und das wird für die Wissenschaften bedrohlich. Sie fragten, ob die Reaktion der Wissenschaft richtig gewesen sei, und meine Antwort lautet: Wie hätte sie anders reagieren können, als gewissermaßen öffentlich sofort solch eine Selbstreinigung vorzunehmen? Das Dilemma steckt darin, daß es keine Alternative mehr gibt; die Wissenschaft ist in einer Situation, in der sie öffentlich reagieren muß, wohl wissend, daß das eigentlich gar nicht die Lösung des Problems sein kann. Aber sollten deswegen gleich Institutionen wie das ORI die Kontrolle übernehmen? Ein solches Überwachungsorgan wäre schon von der sachlichen Logik her vollkommener Unfug, denn es gibt trotz aller Spezialisierung keine Instanz, die mehr weiß als die Wissenschaftler selbst, und keine, die eine höhere Ethik hätte als die Wissenschaft.

Schwarz: François Jacob, eine Weltkoryphäe in der molekularen Medizin, sagte einmal beiläufig, daß wir alle diese Probleme, über die wir hier sprechen, nicht hätten, hielten wir uns nur an einfachste Regeln, die jeder kennt: Man solle die Wahrheit sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Leider tun dies nicht alle.

Wenn der Geldgeber aber eines Tages nur noch dann investieren will, wenn er die erhofften Ergebnisse gleich zu Beginn serviert bekommt, dann wäre das verhängnisvoll; denn in der Forschung kann niemand a priori wissen, wo der Weg hinführt und endet. Das ist prinzipiell unmöglich. Oder es ist die besagte Fußgängerforschung, die genau weiß, wie der Weg gepflastert ist.

Außerdem werden die Mittel nicht gleichförmig verteilt. Ein Großteil derjenigen, deren Arbeiten später nirgendwo mehr auftauchen, bekommt in der Summe ja auch viel weniger Unterstützung. Wir haben also von der Sache her gute Argumente gegenüber dem Steuerzahler und Politiker. Es wäre falsch, nur aus der Sorge, uns könnte ein Hahn zugedreht werden, offensiv etwas gegen diese kriminellen Elemente tun zu wollen.

Weingart: Nun wissen die Wissenschaftler ja nicht vorher, daß sie später unter den Tisch fallen werden, weil man sie nicht zitiert, sondern es versuchen alle, am Spiel teilzunehmen und sich darin zu profilieren. Und selbst wenn ein zweitrangiger Wissenschaftler, der sich mit Mogeleien durchschlägt, nicht an die großen Fördertöpfe gelangt, so bekommt er doch als Beamter sein Gehalt, das der Staat, also der Steuerzahler, finanziert. In der Summe zeigen Unredlichkeiten unter den Beamten-Wissenschaftlern also durchaus ihre Wirkung.

Die Veröffentlichung von Betrugsfällen hat aber noch eine andere Seite: Der Philosoph und Soziologe Arnold Gehlen (1904 bis 1976) sagte einmal, wenn eine Institution anfinge, öffentlich über sich selbst nachzudenken, dann sei sie bereits am Ende. Wenn sie beginne, sich selber zu thematisieren, dann gehe das Informelle verloren. Die Gefahr besteht darin, daß die Wissenschaft sich verändern wird unter dem Druck der Beobachtung von außen und der Kritik der Öffentlichkeit. Die Wissenschaft gerät in einen Argumentationssog, der sie zwingt, andere Wege zu finden, um Vertrauen wiederzugewinnen, als diejenigen, die wir bisher hatten.

Öffentliche Aufmerksamkeit beeinflußt allerdings auch das Verhalten von Wissenschaftlern, indem sie ihrem Geltungsbedürfnis oder ihrer Eitelkeit schmeichelt. So geht es nicht nur um die Menge der Publikationen, sondern auch darum, wer mit einer publikumswirksamen Entdeckung am schnellsten vortritt. Erinnert sei etwa an die Entdeckung des AIDS-Virus durch die parallelen Forschungen des Amerikaners Robert Gallo und des Franzosen Luc Montagnier; die Frage, wem die Ehre des ersten gebühre, war plötzlich sehr wichtig.

Beisiegel: "Nature" und einige andere Journale suchen Ergebnisse gleichwertig zu publizieren, wenn zwei Wissenschaftler unabhängig voneinander, aber zeitlich verschoben, etwas gefunden haben. Dennoch müssen die Wissenschaftsjournale noch viel mehr mitarbeiten, um so unsinnige Wettläufe zu verhindern. Es darf nicht sein, daß allein der erste den Nobelpreis bekommt, nur weil er ein bißchen schneller war, und so ist es bei der Vergabe des Nobelpreises auch nicht.

Welche Funktion haben dabei die populären Medien? Als zum Beispiel die vermeintliche Entdeckung der sogenannten kalten Fusion durch die Forscher Stanley Pons und Martin Fleischmann von der Universität Utah auf einer Pressekonferenz als Erstveröffentlichung vorgestellt wurde, war die Überraschung groß. Auch dies ein Verstoß gegen die Regel, sicher teils durch die Medien und durch das Bedürfnis nach Sensation provoziert.

Weingart: Wer Forschungsmittel bekommen möchte, muß sich bestmöglich anpreisen. Unter marktwirtschaftlichen Verhältnissen spielen die Medien, die Neuigkeiten an die Öffentlichkeit bringen, gegenüber der Politik durchaus eine Rolle: Auch die Wissenschaft muß sich heute an die Medien verkaufen, um Aufmerksamkeit und über diesen Weg Geldmittel zu erlangen.

Ein amüsantes kleines Beispiel: Im Sommer lautete eine Schlagzeile in den Zeitungen: "Hirn auf Urlaub". Psychologen sollten herausgefunden haben, daß ein Mensch im Urlaub schon nach zwei Tagen fünf Punkte seines Intelligenzquotienten verliere. Nach vier Wochen habe man also gewissermaßen die Hälfte seines IQ verloren. Auf die Frage des Reporters, wie dieser Verlust wieder aufzuholen sei, wurde ein Wissenschaftler mit den Worten zitiert: "Nur schwer." Dieses Beispiel zeigt deutlich, wie eine Sensationsmeldung, die aus dem Kontext gerissen völliger Unsinn ist, Aufmerksamkeit erregt. Und Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, vermittelt über die Medien, könnte auch ein gutes Motiv sein für Unredlichkeit.

Schwarz: Das wäre aber doch nur ein Strohfeuer, das erzeugt wird. Zwar gibt es viele Strohfeuer, die in ihrer Summe vielleicht auch eine kleine Irritation hervorzurufen vermögen, aber mehr auch nicht.

Beisiegel: "Hirn auf Urlaub" ist ja ein ganz harmloses Beispiel. Uns können die Medien tatsächlich ernste Probleme bereiten. Stellen Sie sich vor, ein Wissenschaftler gäbe unter dem Druck der öffentlichen Erwartung unüberlegt und vorschnell in einem Interview zu, er habe das Medikament gegen das Immunschwäche-Virus HIV gefunden. Danach würden uns die Patienten die Ambulanz einrennen. Hier liegt die Gefahr.

Weingart: Sicherlich wird diese dumme kleine Meldung keine Folgen für die Forschung und die Mittelvergabe haben. Dennoch hat Publizität Konsequenzen – und sei es auch nur für die Reputation eines Wissenschaftlers. Eitelkeit, Geltungsbedürfnis oder Ehrgeiz sind menschliche Eigenschaften, von denen auch Wissenschaftler nicht frei sind. Ich fürchte, man wird mit diesem Phänomen in Zukunft vermehrt zu rechnen haben.

Übrigens hat es tatsächlich einen ähnlichen Fall gegeben wie den fiktiven im Beispiel von Frau Beisiegel. Ein niederländischer AIDS-Forscher wollte vor einigen Jahren einen Impfstoff gegen HIV entdeckt haben. Den Beweis blieb er schuldig. Sein Verhalten erklärte er dann so: Nur mit Übertreibungen könne man öffentliche Aufmerksamkeit und daraus folgend auch Akzeptanz und schließlich Unterstützung bekommen.

Eine Zeit, in der die Ansprüche an die Wissenschaft größer und die Forschungsmittel knapper werden, verschärft die Konkurrenz unter Wissenschaftlern, läßt sie um die Gunst der Medien, der Öffentlichkeit und der Politiker buhlen und fordert sie auch zu Unredlichkeiten heraus. Die Dynamik, mit der die Wissenschaft dadurch an Vertrauen verliert, läßt sich nur mit starker Eigenkontrolle bremsen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1998, Seite 72
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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