Kasten: "Bilder, die sich selber malen" - Gestaltbildung in nichtlinearen dynamischen Systemen
Im Zentrum für Interdisziplinäre Forschung (ZIF) der Universität Bielefeld werden vom 27. August bis zum 27. September Arbeiten des Künstlers Volkhard Stürzbecher aus Neustadt an der Weinstraße gezeigt. Bei der Suche nach neuen Verfahren der Bildherstellung bedient sich Stürzbecher solcher Materialien, die Musterbildung infolge von Selbstorganisation zeigen. Dazu gehören beispielsweise Flüssigkeiten wie Öl, Wasser und Spirituslösung, aber auch Gips, Sand, Papier und andere natürliche Stoffe.
Die Eigendynamik dieser Substanzen bezieht der Künstler gezielt in seine Arbeit ein; der Entstehungsprozeß – von ihm Selbstformung genannt – wird so zum Thema der Kunst. Durch Erhitzen, Drücken, Rühren oder andere Arten der Beeinflussung läßt er die Materialien eigenständig geordnete Muster erzeugen und fertigt so Graphiken, Gemälde, Skulpturen, Photographien und Videofilme. Die im ZIF zu sehenden Exponate sind nach etwa 20 verschiedenen Strukturbildungsprozessen hergestellt.
Ein solcher ist beispielsweise die Musterbildung durch Oberflächenspannung. Treffen zwei Flüssigkeiten unterschiedlicher Oberflächenspannung aufeinander, versuchen sich diese auszugleichen. Beim tropfenweisen Auftragen verschiedener Farben oder farbhaltiger Lösungsmittelgemische auf eine Unterlage von Öl, Kleister, Wasser oder Tensiden entwickeln sich äußerst formenreiche Muster, in deren Gestaltung der Künstler einzugreifen vermag. Der Entstehungsprozeß läßt sich als Performance mit einem Tageslichtprojektor vorführen oder filmisch inszenieren. Beim Bearbeiten einzelner digitalisierter Bilder mittels Computers können die Strukturen besonders gut farblich hervorgehoben werden (Bild links).
Ein zweiter Prozeß ist das sogenannte viscous fingering. Erzeugt werden derartige Muster meist zwischen zwei parallelen Glasplatten, in deren engem Zwischenraum sich eine viskose Flüssigkeit – zum Beispiel Glyzerin – befindet. Eine solche Hele-Shaw-Zelle (benannt nach dem britischen Ingenieur Henry S. Hele-Shaw, der damit vor einhundert Jahren Strömungsbilder untersuchte) eignet sich sehr gut, um die wandernden Grenzflächen zwischen zwei Flüssigkeiten zu beobachten (Spektrum der Wissenschaft, Januar 1988, Seite 134). Injiziert man eine zweite Flüssigkeit geringerer Viskosität in die Zelle, bilden sich an den Grenzflächen fingerartig verzweigte Muster, die wie pflanzliche Strukturen weiterwachsen (Bild rechts). Mit der Wahl der Flüssigkeiten und auch durch rhythmisches Auseinanderziehen der Glasplatten läßt sich die Formgebung auf vielfältige Weise beeinflussen.
Die Ausstellung ist während der Öffnungszeiten des ZIF, Wellenberg 1, Bielefeld, zugänglich: montags und dienstags von 8 bis 16 Uhr, mittwochs bis freitags 8 bis 15.30 Uhr.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1996, Seite 115
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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