Direkt zum Inhalt

Bildung repräsentationaler Zustände im Gehirn

Neue Forschungsergebnisse deuten darauf hin, daß Nervenzellen in der Hirnrinde durch synchrone Entladungen zu ausgedehnten Verbänden zusammengefaßt werden, die gesehene Objekte neuronal repräsentieren.

Wie man heute annimmt, beruhen fast alle kognitiven Funktionen auf einer parallelen Verarbeitung von Informationen, an der stets viele Hirnareale beteiligt sind. Insbesondere mehren sich die Hinweise, daß neuronale Repräsentationen der Außenwelt – also jene Aktivitätsmuster, in denen das Gehirn die erhaltenen Informationen darstellt und speichert – nie strikt lokalisiert, sondern hochgradig verteilt sind.

Das Sehsystem bietet ein inzwischen gut untersuchtes Beispiel für diese Art der Verarbeitung. Bei einigen Affenarten sind bereits mehr als 30 Hirnrindenareale beschrieben worden, in denen sich Nervenzellen durch visuelle Reize aktivieren lassen; beim Menschen dürften es mindestens ebenso viele sein.

Dabei scheinen sich diese Areale bis zu einem gewissen Grad die Arbeit zu teilen: In einigen sprechen die Neuronen vor allem auf die Farbe eines Objektes an, in anderen hingegen bevorzugt auf seine Bewegungsrichtung oder die Orientierung seiner Konturen; überdies erfassen sie meist nur einen begrenzten Ausschnitt des Gesichtsfeldes, den man als ihr rezeptives Feld bezeichnet (Spektrum der Wissenschaft, November 1992, Seite 54).

Wahrscheinlich werden daher gesehene Gegenstände nicht – wie eine Mehrzahl der Forscher noch bis vor wenigen Jahren glaubte – durch das Feuern einzelner oder sehr weniger Nervenzellen repräsentiert, sondern durch große, über weite Hirnbereiche verteilte Neuronenverbände (Spektrum der Wissenschaft, Juni 1988, Seite 54).

Damit stellt sich allerdings die Frage, auf welche Weise solch weit verteilte Zellen zu einem Ensemble verbunden, die neuronalen Prozesse also zu einem kohärenten Ganzen zusammengefaßt werden – es gibt nämlich keine Stelle im Gehirn, an der die verschiedenen Informationsflüsse zusammenlaufen, kein Zentrum, das mit all den visuellen Arealen verschaltet wäre. Dieses sogenannte Bindungsproblem verschärft sich noch dadurch, daß unter natürlichen Bedingungen ein Objekt niemals isoliert im Gesichtsfeld erscheint, sondern stets in ein Umfeld, einen Hintergrund, eingebettet ist (Bild 1). Dieser enthält ebenfalls Reize, die in den verschiedenen visuellen Arealen merkmalssensitive Neuronen aktivieren. Die Repräsentation einer visuellen Szene erfordert daher in der Regel mehrere Ensembles, und es wird schwierig zu entscheiden, welchem davon ein gegebenes Neuron angehört. Die richtige Zuordnung verlangt nach einem Mechanismus, der in der Vielzahl aktivierter Zellen selektiv diejenigen kennzeichnet, die auf ein und dasselbe Objekt antworten.

Gleichzeitigkeit als Bindemittel

Ein attraktiver Vorschlag zur Lösung des Bindungsproblems stammt von Christoph von der Malsburg, der nun an der Ruhr-Universität Bochum tätig ist. Seiner Anfang der achtziger Jahre veröffentlichten Hypothese zufolge könnten räumlich verteilte Neuronen durch Synchronisation ihrer Entladungen zu Ensembles zusammengefaßt werden: Die Zellen sollten immer dann gleichzeitig feuern, wenn sie auf dasselbe Objekt im Gesichtsfeld reagieren; weitere Neuronen, die auf einen bestimmten ande- ren gesehenen Gegenstand ansprechen, müßten ihnen gegenüber zeitlich unkorreliert antworten, ihre Entladungen wären aber untereinander ebenfalls wieder synchron (nur eben in einem anderen, eigenen Rhythmus).

Eine solche Gleichzeitigkeit neuronaler Entladungen wäre genau das zu fordernde selektive Etikett, weil sie eindeutig spezifizieren würde, welche merkmalssensitiven Zellen jeweils in ein bestimmtes Ensemble eingebunden sind – welche Merkmale also zusammengehören. Damit wäre es möglich, mehrere Objekte zu repräsentieren, ohne daß es zu falschen Bindungen zwischen Merkmalen kommen könnte. Vor allem deswegen scheint ein solches Zeitcodierungsmodell anderen Mechanismen, die man zur Lösung des Bindungsproblems vorgeschlagen hat, überlegen zu sein (siehe Kasten auf Seite 44).

Inzwischen weisen Experimente darauf hin, daß der postulierte zeitliche Bindungsmechanismus im Gehirn existiert. Ausgangspunkt dafür war eine Entdeckung von Charles Gray – jetzt am Salk-Institut in San Diego (Kalifornien) –, die er während eines Forschungsaufenthalts vor rund fünf Jahren bei uns am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt gemacht hatte. Für frühe- re neurophysiologische Untersuchungen war es meist zweckmäßig, eine Elektrode zu haben, welche nur die Signale einer einzelnen Zelle ableitete. Mit einer Elektrode größerer Reichweite beobachtete Gray hingegen, daß eng benachbarte Nervenzellen in der Sehrinde von Katzen dazu neigen, synchrone Salven von Aktionspotentialen zu feuern, wenn sie mit geeigneten Lichtreizen aktiviert werden (Bild 2). Da sich die Salven rhythmisch dreißig- bis siebzigmal pro Sekunde wiederholen, bezeichnete er dieses Aktivitätsmuster einer solchen kohärent aktiven Neuronengruppe als Oszillation.

Unsere Vermutung war nun, daß nicht nur solche direkten Nachbarn, sondern auch weiter verteilt liegende Nervenzellen ihre Aktivität synchronisieren können. Und eben das tun sie – wie gleichzeitige Ableitungen an getrennten Neuronengruppen im primären Sehareal ergaben – selbst über Entfernungen von mehreren Millimetern noch häufig. Ähnliches stellte ein Team um Reinhard Eckhorn an der Universität Marburg fest, das die gleichen neuronalen Oszillationen beobachtet hatte.

Selbst Nervenzellen, die in verschiedenen visuellen Arealen liegen, können, wie wir nachwiesen, sich derart abstimmen. Da – wie eingangs erwähnt – verschiedene Areale wahrscheinlich unterschiedliche Merkmale eines Objekts verarbeiten, könnte diese Art der Synchronisation sehr wichtig sein, um ein Objekt als kohärentes Ganzes im Gehirn zu repräsentieren.

Darüberhinaus ist auch eine Synchronisation zwischen den beiden Hälften des Gehirns zu erwarten. Bekanntlich kreuzen sich die Sehnerven partiell, so daß Information aus dem linken Gesichtsfeld beider Augen in der rechten Hirnhälfte verarbeitet wird und umgekehrt. In der Tat zeigte sich, daß Sehrinden-Neuronen beider Hemisphären durch korrelierte Aktivität zu einem kohärenten Ensemble zusammengefaßt werden können – ein weiterer Beleg für die große Reichweite dieses zeitlichen Bindungsmechanismus.

Von besonderer Bedeutung ist schließlich unser kürzlich erbrachter Nachweis, daß die Synchronisation tatsächlich davon abhängt, ob Neuronen auf dasselbe Objekt reagieren oder nicht. So fanden wir, daß zwei Gruppen von Nervenzellen mit unterschiedlichen rezeptiven Feldern – die also auf unterschiedliche Bereiche im Gesichtsfeld ansprechen – ihre Entladungen dann synchronisierten, wenn sich ein einziger balkenförmiger Lichtreiz durch beide rezeptiven Felder bewegte. Dieselben Zellen feuerten jedoch völlig asynchron, wenn wir sie durch zwei unabhängige, sich in verschiedene Richtungen bewegende Lichtbalken aktivierten.

Obwohl all diese Versuche an narkotisierten Katzen durchgeführt wurden, wissen wir inzwischen, daß die gleichen Phänomene auch im wachen, normal arbeitenden Gehirn auftreten. So hat unser Kollege Andreas Kreiter kürzlich an wachen trainierten Affen nachgewiesen, daß es in deren Sehrinde sehr ähnliche Oszillationen gibt und daß die Synchronisation räumlich getrennter Zellpopulationen hier ebenfalls von der Konfiguration der dargebotenen Reize abhängt.

Insgesamt stützen die bisherigen Ergebnisse von der Malsburgs Hypothese. Wie es scheint, können Nervenzellen, die jeweils nur auf lokale Merkmale eines Objekts reagieren, durch synchrones Feuern – selbst über Arealgrenzen hinweg – geordnete Repräsentationen bilden. Wenn aber Gleichzeitigkeit sozusagen das Ordnungsmerkmal ist, das räumlich getrennte Nervenzellen zu einem Ensemble verbindet, welche besondere Rolle kommt dann dem oszillatorischen Feuerverhalten der kohärent aktiven Zellgruppe zu (Bild 2)?

Wozu Oszillationen?

Die Frage erhebt sich insbesondere deshalb, weil das Auftreten der Oszillationen nicht von bestimmten Eigenschaften der visuellen Reize – wie etwa ihrer Orientierung oder Bewegungsgeschwindigkeit – abhängt, und es daher unwahrscheinlich ist, daß der Rhythmus der Aktionspotential-Salven selbst für besondere Objekteigenschaften codiert.

Das oszillatorische Feuern scheint aber einige Vorteile dafür zu bieten, die als Bindemittel benötigte Gleichzeitigkeit zwischen getrennten Neuronengruppen überhaupt herzustellen. Zum einen eignen sich diese Aktivitätsmuster gerade wegen der deutlichen Pausen zwischen den Salven besonders gut, um Zeitbeziehungen zwischen verschiedenen Zellpopulationen zu definieren. Zum anderen lassen sich in einem Netzwerk mit oszillatorischem Verhalten dessen Elemente auch dann miteinander synchronisieren, wenn die sie verknüpfenden Leitungsbahnen erhebliche Verzögerungszeiten aufweisen. Wie Computersimulationen an unserer Abteilung überdies zeigen, kann man in solchen Netzwerken selbst Zellen in Gleichtakt bringen, die gar nicht direkt miteinander gekoppelt sind (Bild 3). Ohne oszillatorisches Feuerverhalten ist dies nicht ohne weiteres möglich.

Obwohl die geschilderten Befunde die Hypothese der Zeitcodierung bereits in entscheidenden Punkten bestätigen und darauf hindeuten, daß repräsentationale Zustände im Gehirn tatsächlich durch Synchronisation gebildet werden können, sind wichtige Fragen noch ungelöst. Unklar ist beispielsweise, wie andere Hirnstrukturen Ensembles aus synchron feuernden Nervenzellen erkennen, wie also zeitliche Muster im Sehsystem Vorgänge in anderen Hirnbereichen beeinflussen könnten, die dann beispielsweise eine Reaktion auf das Gesehene in Gang setzen.

Erste Hinweise darauf, daß die zeitlichen Korrelationen tatsächlich vom Gehirn für den Wahrnehmungsvorgang benutzt werden, ergeben sich aus einer gemeinschaftlichen Arbeit mit unserem Kollegen Pieter Roelfsema an Katzen, die mit einem Auge einwärts schielen. Das abweichende Auge entwickelt bei einigen dieser Tiere eine sogenannte Schiel-Amblyopie. Sie äußert sich unter anderem darin, daß ein solches Tier in einem bestimmten Verhaltenstest mit seinem fehlstehenden Auge keine feinen Schwarz-Weiß-Streifenmuster mehr von einer einförmig grauen Fläche unterscheiden kann; mit seinem normalen Auge vermag es das hingegen.

Wie sich zeigte, antworten die einzelnen Neuronen in der Hirnrinde solcher Katzen völlig normal. Jedoch ist die Synchronisation zwischen jenen Zellen, die ihre Information vom schielenden Auge erhalten, gestört – und ebenso ihre Synchronisation mit den Neuronen, die ihren Input vom normalen Auge bekommen; unter letzteren aber ist die zeitliche Kopplung nicht beeinträchtigt. Daß die im Verhalten des Tieres nachweisbare Wahrnehmungsstörung mit einem solchen selektiven Mangel einhergeht deutet darauf hin, daß die Synchronisation von Neuronen der Hirnrinde für die Informationsverarbeitung tatsächlich von großer Bedeutung ist.

Gestützt wird dies auch durch Untersuchungen an anderen Hirnbereichen. So wies kürzlich die Gruppe um Eberhard Fetz an der Universität von Washington in Seattle synchrone Oszillationen im somatosensorischen und motorischen System von Affen nach (die somatosensorische Rinde wird auch – nach ihrer Aufgabe – als Körperfühlsphäre bezeichnet). Sehr ähnliche Synchronisationsphänomene hat Walter Freeman an der Universität von Kalifornien in Berkeley überdies im Riechsystem beobachtet (siehe seinen Artikel in Spektrum der Wissenschaft, April 1991, Seite 60). Und Christo Pantev und seine Mitarbeiter an der Universität Münster haben mittels Magnet-Enzephalographie, bei der in der Hirnrinde entstehende Magnetfelder mit einer räumlichen Auflösung von wenigen Millimetern aufgezeichnet werden, synchrone Oszillationen großer Neuronenverbände beispielsweise auch im menschlichen Hörsystem festgestellt.

Wie die Vielzahl neuer einschlägiger Publikationen zeigt, hat die Hypothese der Zeitcodierung zahlreiche Forschergruppen angeregt, verstärkt nach dynamischen Bindungsmechanismen zu suchen. Vielleicht kann sie – zumindest auf diese Weise – dazu beitragen, daß wir eines Tages verstehen, weshalb das Ganze mehr ist als bloß die Summe seiner Teile.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1993, Seite 42
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Kennen Sie schon …

Spektrum - Die Woche – Mehrere Higgs-Teilchen vor dem Aus?

2012 wurde der Nachweis des Higgs-Teilchens vom CERN bekannt gegeben, seitdem wird fleißig weiter geforscht. Warum gibt es mehr Materie als Antimaterie? Was ist Dunkle Materie? Diese und weitere Fragen behandeln wir in unserer Titelgeschichte. Außerdem: Die seelische Gesundheit unserer Kinder.

Gehirn&Geist – Faszination Gehirn: 38 Infografiken über unser Denken, Fühlen und Handeln

Weil Sprache allein nicht immer das beste Kommunikationsmittel ist, werden seit 2013 ausgewählte Inhalte auf eine andere Art präsentiert: in Infografiken. Denn manches lässt sich in Bildern so viel einfacher darstellen als mit Worten. In dieser Spezialausgabe von »Gehirn&Geist« präsentieren wir ein »Best-of« unserer Infografiken zu Psychologie, Hirnforschung und Medizin. Wie funktioniert unser Orientierungssinn? Was haben Darmbakterien mit der Psyche zu tun? Was macht eine angenehme Unterhaltung aus? Wie wirkt Alkohol im Gehirn? Und warum lassen wir uns im Supermarkt so leicht zu Spontankäufen animieren? Antworten auf diese und viele weitere Fragen finden Sie in dieser Spezialausgabe von »Gehirn&Geist«. Jede der 38 Grafiken im Heft widmet sich einem eigenen Thema.

Spektrum - Die Woche – Wann klingt eine Sprache schön?

Klingt Italienisch wirklich schöner als Deutsch? Sprachen haben für viele Ohren einen unterschiedlichen Klang, dabei gibt es kein wissenschaftliches Maß dafür. Was bedingt also die Schönheit einer Sprache? Außerdem in der aktuellen »Woche«: Rarer Fund aus frühkeltischer Zeit in Baden-Württemberg.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.