Billiglöhne für mehr Arbeitsplätze?
In den letzten 120 Jahren erhöhte sich in Deutschland die Arbeitsproduktivität auf das Siebzehnfache. Dieser Zuwachs wurde durch Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen umverteilt: Die Einkommen stiegen im Durchschnitt um das Zehnfache, und die Arbeitszeit verminderte sich von 3000 auf etwa 1600 Stunden im Jahr (Tabelle 1). Aus der Sicht unserer Urgroßväter genießen wir heute also Teilzeitarbeit mit mehrfachem Lohnausgleich. Von diesem beispiellosen Anstieg des materiellen Wohlstands und des Gewinns an frei verfügbarer Lebenszeit haben – wenn auch immer erst nach heftigen Verteilungskämpfen – alle Bevölkerungsschichten profitiert.
Das soll jetzt alles ganz anders werden. Während den früheren Generationen außer in Kriegs- und Krisenzeiten ein besseres Leben versprochen wurde, sagt man den heutigen härtere Umstände voraus. Wir hätten nur die Wahl zwischen mehr Ungleichheit oder dauerhafter Arbeitslosigkeit, heißt es zum Beispiel im Bericht der Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen, der Meinhard Miegel, Sozialwissenschaftler und Leiter des Bonner Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft, vorsaß. Da durch die Globalisierung der Märkte das Angebot an billiger Arbeitskraft dramatisch ansteige, sei das in der Bundesrepublik erreichte Lohnniveau nicht mehr haltbar. Vorgeschlagen wird ein Umbau unserer Gesellschaft, der es in sich hat: Arbeitslosenunterstützung und Sozialhilfe sollen sinken, und das hergebrachte Tarifsystem soll aufgeweicht werden, um die Arbeitslosen zu zwingen, schlechter bezahlte Stellen anzunehmen; ein großer Sektor von Billigarbeitsplätzen soll geschaffen werden.
Großbritannien, die USA und Neuseeland haben sich in den letzten Jahren für dieses wirtschaftsliberale Modell entschieden. Sie deregulierten den Arbeitsmarkt und nahmen in Kauf, daß sich damit die Einkommensungleichheit drastisch erhöhte. In den USA beispielsweise verdienten 1995 die oberen 10 Prozent in der Einkommenshierarchie der Männer ungefähr 4,4mal soviel wie die unteren 10 Prozent, 1979 war es erst 3,2mal soviel. In Großbritannien ist diese Relation von etwa 2,5 zu 1 in den siebziger Jahren bis 1995 auf 3,3 zu 1 gestiegen; hingegen blieb sie in Deutschland, wo dieses Modell sich bislang nicht durchsetzen konnte, fast unverändert bei 2,25 zu 1 (Tabelle 2 links). Heute hat ein Amerikaner im unteren Einkommenszehntel – in Kaufkraft gerechnet – nur noch 44 Prozent dessen, worüber ein Deutscher in der entsprechenden Gruppe verfügen kann.
Die Einkommensschwachen einen so hohen Preis zahlen zu lassen ist nur zu rechtfertigen, wenn sich auch die versprochenen positiven Effekte auf dem Arbeitsmarkt einstellen. Die Belege, auf denen die Vorschläge der bayerisch-sächsischen Zukunftskommission basieren könnten, sind allerdings sehr dünn. Die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) konnte vielmehr in einer vergleichenden Studie keinen Zusammenhang zwischen zunehmender Einkommensungleichheit und der Entwicklung der Anzahl der Beschäftigten beziehungsweise der Arbeitslosen feststellen.
Auch die Lage der gering Qualifizierten, die nach der wirtschaftsliberalen Theorie besonders von niedrigeren Löhnen durch mehr Beschäftigung profitieren sollten, hat sich nicht verbessert. In Ländern mit großen Einkommensunterschieden ist die Spanne zwischen der allgemeinen Arbeitslosenquote und derjenigen der weniger Qualifizierten sogar größer als in solchen mit geringerer Differenz. So liegt in Großbritannien die Arbeitslosenquote der unteren 25 Prozent in der Qualifikationshierarchie 5,3mal so hoch wie die der oberen 25 Prozent. In Deutschland beträgt diese Relation lediglich 2,6 zu 1 (Tabelle 2 rechts). Die OECD kommt zu dem für wirtschaftsliberale Arbeitsmarktrezepte vernichtenden Schluß: “Es gibt nur wenig schlüssige Belege, die zeigen, daß Länder mit einem geringen Anteil an Niedrigbezahlten dies auf Kosten höherer Arbeitslosenzahlen oder einem geringeren Beschäftigungsniveau für besonders gefährdete Gruppen wie Jugendliche oder Frauen erreicht haben.”
Man gewinnt mit Niedriglöhnen also auf dem Arbeitsmarkt so gut wie nichts hinzu, handelt sich aber mehr Armut und Kriminalität ein. Das wenigstens sieht auch die Zukunftskommission Bayerns und Sachsens ein, insofern sie mit steigenden Aufwendungen für innere Sicherheit rechnet.
Mit den ökonomischen Theorien, die für das Bestehen des globalen Wettbewerbs vorrangig das Senken der Arbeitskosten empfehlen, sind die wirtschaftlichen Herausforderungen der Zukunft nicht zu bewältigen: Es ist ein großer Irrtum zu glauben, bei schlechter Bezahlung sei gute Leistung zu erwarten.
Des weiteren wird übersehen, daß die hochentwickelten Industrieländer sich durch die Ausfuhr wissensintensiver Produkte dem reinen Preiswettbewerb mit Entwicklungs- und Schwellenländern entziehen – denn den Wettbewerb um die niedrigsten Arbeitslöhne könnten sie ohnehin nicht gewinnen. Den Unternehmen in der Bundesrepublik ist dies übrigens gut gelungen; die deutschen Exportpreise sind zwischen 1980 und 1990 um 40,4 Prozent gestiegen, die Importpreise hingegen nur um 20,2 Prozent.
Auch den Beschäftigungserfolg der Amerikaner sehe ich in ihrer sehr hohen Innovationsdynamik begründet. Die USA, die rund dreimal so viele Einwohner haben wie Deutschland, gaben 1994 rund fünfmal soviel für Forschung und Entwicklung aus und haben – unterstützt durch staatliche Nachfrage – Leitmärkte in wichtigen Feldern neuer Technologien aufgebaut. Erfolge der Lohnsenkungen sind dort hingegen kaum zu verzeichnen; sie haben vielmehr Armut und Kriminalität explodieren lassen.
Die großen Wachstumswellen der Vergangenheit beruhten auf Erfindungen, die große Sachinvestitionen auslösten. Dies gilt etwa für die Eisenbahn und das Automobil, aber auch für das elektrische Energiesystem, die jeweils eine ausgedehnte Infrastruktur benötigen. Anders als bei diesen zivilisatorischen Errungenschaften wächst mit den heutigen neuen Technologien die Bedeutung von Wissen und Sachkunde. Der Mensch tritt wieder ins Zentrum der Ökonomie: Waren im letzten Jahrhundert noch 50 Prozent des wirtschaftlichen Produktivitätszuwachses auf gestiegenen Kapitaleinsatz zurückzuführen, sind es gegenwärtig nur noch 20 Prozent; die anderen 80 Prozent sind Folge von Bildung, innovativen Organisationsstrukturen und Forschung.
Entsprechend haben sich auch die Gewichte zwischen dem gesamten Bruttoanlagevermögen und den Investitionen in allgemeine und berufliche Bildung beträchtlich verschoben. In der Periode zwischen den beiden Weltkriegen betrug das Verhältnis des Sachkapitalstocks zum Humankapitalbestand – gemessen am Geldwert – in Deutschland 4 bis 5 zu 1; und auch 1970 lag es noch bei 3,2 zu 1. Bis 1989 hatte es sich dann in Westdeutschland schon auf 2,2 zu 1 (9963 Milliarden zu 4494 Milliarden Mark) verringert (Tabelle 4). Die in dieser Zeit gestiegenen Aufwendungen für Weiterbildung sind dabei noch gar nicht berücksichtigt.
Die Entscheidungen über Arbeitsplätze und somit über unsere Löhne von morgen fallen meines Erachtens in unseren Bildungs- und Forschungseinrichtungen. Wir sollten darum einen beträchtlich höheren Anteil von Forschung und Entwicklung am Bruttosozialprodukt (etwa 3 bis 4 Prozent) sowie in den nächsten 20 bis 30 Jahren eine Relation von 2 zu 1 zugunsten des Humankapitals im Verhältnis zum Sachkapital anstreben.
Dabei darf man allerdings nicht allein in die Ausbildung der Eliten investieren, denn das forcierte nur die gesellschaftliche Spaltung; es kommt darauf an, auch das allgemeine Qualifikationsniveau anzuheben: Mit einer auf diese Weise komprimierten Einkommensstruktur gelangt man sogar zu einer sozialverträglichen Form von Niedriglohn-Strategie, nämlich dem Standortvorteil vergleichsweise billiger, aber qualifizierter Arbeitskräfte. Für die Unternehmen ergäben sich somit mehr finanzielle Anreize für Produktionskonzepte mit einem hohen Anteil an Fachkräften. Auch Sanierung und nachhaltiger Schutz der Umwelt – große Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte – lassen sich nur mit größerer Innovationskraft bewältigen.
Alle Beschäftigungsprobleme sind freilich nicht mit neuen Produkten und mehr Wachstum zu lösen. Die Verkürzung der Arbeitszeit bleibt ein wichtiges Instrument dafür, außergewöhnlich lange anhaltende Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Auch dabei ist die Einkommensverteilung höchst bedeutsam: Bei sinkenden Löhnen werden die Beschäftigten versuchen, ihr Einkommensniveau durch das Ableisten von mehr Arbeitsstunden aufrechtzuerhalten. Deswegen haben die Arbeitszeiten der Vollzeitbeschäftigten in den USA und in Großbritannien in den letzten 15 Jahren wieder zugenommen (Tabelle 3), womit sich der Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt verstärkte.
Dieser Effekt tritt auch bei Teilzeittätigkeiten auf. Wenn etwa wie bei dem privaten Paketzustelldienst United Parcel Services (UPS) in den USA – und dieser Fall ist dort durchaus typisch – Vollzeitkräfte 20 Dollar, Teilzeitkräfte aber nur 8 Dollar in der Stunde verdienen, dann wird kaum jemand freiwillig seine Arbeitszeit reduzieren. Die amerikanischen Gewerkschaften bei UPS haben denn auch im Sommer letzten Jahres für mehr Vollzeitstellen, also eine Arbeitszeitverlängerung, gestreikt – ein absolutes Novum in der Gewerkschaftsgeschichte.
Es kann somit nicht überraschen, daß in den USA der Anteil der Teilzeitbeschäftigten seit 1983 stagniert. In den Niederlanden hingegen nahm er zwischen 1983 und 1996 von 21 auf 36,5 Prozent zu; dort verdienen Teilzeitbeschäftigte pro Arbeitsstunde aber ebensoviel oder sogar mehr als Vollzeitbeschäftigte, und sie fallen auch nicht aus der sozialen Sicherung heraus.
Wichtig sind auch die Unterschiede der Löhne, die Männer und Frauen bekommen. In Großbritannien werden Männer, die im Schnitt 7 Pfund pro Stunde verdienen, kaum bereit sein, ihre Überstunden einzuschränken, wenn ihre Frauen etwa für Dienstleistungstätigkeiten nur 3 Pfund pro Stunde erhalten. Die hohe Akzeptanz von Teilzeitarbeit in den skandinavischen Ländern wiederum hängt offensichtlich mit den geringen Differenzen der Löhne von Männern und Frauen sowie derjenigen im Industrie- und im Dienstleistungssektor zusammen, die beide Ergebnis einer solidarischen Lohnpolitik sind.
Die Arbeitszeiten müssen also nicht nur aus beschäftigungspolitischen Gründen verkürzt, sondern auch neuen Lebensgewohnheiten angepaßt werden. Im Jahre 1882 waren in Deutschland nur 10 Prozent aller verheirateten Frauen im Alter zwischen 30 und 49 Jahren erwerbstätig, 1990 waren es bereits 59 Prozent, und 2010 dürften es 75 bis 85 Prozent sein. Mag auch viel darüber spekuliert werden, daß die Bedeutung der Erwerbsarbeit abnehme – Frauen wollen offenbar zunehmend am Berufsleben teilhaben.
Orio Giarini und Patrick Liedtke, die dieses FORUM einleiten, idealisieren Teilzeit- und Eigenarbeit in etwas unklarer Weise; das versperrt den Blick darauf, daß diese Arbeitsformen in unterschiedlichen Zusammenhängen ganz Verschiedenes bedeuten können. Hinter solchen Empfehlungen können sich auch traditionelle Leitbilder verbergen, nach denen Frauen (und vielleicht sogar einige der “neuen” Männer) besser zu Hause blieben. Statt dessen werden moderne Modelle dafür gebraucht, Beruf und Familie vereinbaren zu können. Dabei sollte man es nicht jedem einzelnen überlassen, dies individuell über flexible Arbeitszeiten lösen zu müssen.
Es geht in dieser Umbruchsituation nun um nicht weniger, als einen ganzen Kranz von gesellschaftlichen Institutionen, die auf traditionelle Geschlechterrollen hin konzipiert worden sind, so umzugestalten, daß sie auf längere Frist vielfältige Erwerbsmöglichkeiten erleichtern. Flexible Lebensarbeitszeiten, die auch angemessen sozial abgesichert werden müssen, Ganztagsschulen und -kindergärten, Steuervergünstigungen für Kinder und nicht mehr vorwiegend für die Institution der Ehe – das wären einige Elemente der künftigen Organisation von Arbeit.
Eigenarbeit darf nicht Erwerbstätigkeit ausschließen. Bei hinreichendem Einkommen und genügend arbeitsfreier Zeit kann sie sehr wohl individuelle Freiheit und Selbstentfaltung ermöglichen. Dies gilt aber nicht, wenn sie durch schwierige finanzielle Verhältnisse und einen verschlossenen Arbeitsmarkt erzwungen ist. So gesehen ist die geringe Eigenarbeit in den USA wegen des dortigen Einkommenverfalls und zunehmend längerer Arbeitszeiten ebensowenig erstrebenswert wie der hohe Anteil deutscher Frauen, die sich auf Haus und Küche beschränken, weil ihnen allenfalls eine kärglich bezahlte Teilzeitstelle offensteht.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1998, Seite 56
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