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Freddy Zülicke: Bioethik. Beiträge zu philosophischethischen Problemen der Biowissenschaften.

Traude Junghans, Cuxhaven 1996. 168 Seiten, DM 38,-.

Nach dem Streit um die Europäische Bioethikkonvention ließ der schottische Schafsklon Dolly die öffentliche Diskussion über die Grenzen des Erlaubten bei biomedizinischen Eingriffen am Menschen aufleben. Mit dem vorliegenden Sammelband spricht also der Philosoph und Biologe Freddy Zülicke aus Jena, der sich seit Jahren mit bioethischen Fragen beschäftigt, ein hochaktuelles Thema an. Das Buch basiert weitgehend auf seiner 1994 veröffentlichten Dissertation "Human-Gentechnik, Naturteleologie und Ethik", in der er eine ungewöhnliche Perspektive entwickelte.

Zülicke hält es für unmöglich, dem technischen Fortschritt Grenzen zu ziehen, wenn man den in der Bioethik weitverbreiteten Utilitarismus akzeptiert. Nach dieser Grundhaltung ist es unzulässig, Handlungen unabhängig von ihren Folgen als in sich gut oder schlecht zu qualifizieren. Aber nur mit einem solchen Kriterium, so Zülicke, könne man zum Beispiel dem Einsatz der Keimbahntherapie wirksam entgegentreten.

Den Prototyp einer entsprechenden Ethik formulierte bereits Immanuel Kant (1724 bis 1804). Nach seinem kategorischen Imperativ dürfen vernunftbegabte Wesen niemals nur als Mittel zum Zweck angesehen werden, sondern sind immer auch als Selbstzweck zu betrachten. Deshalb, so die heutige Interpretation, sind etwa medizinische Experimente am Menschen – einerlei welchen Nutzen sie hätten – ohne Einwilligung des Betroffenen nicht zulässig. Der kategorische Imperativ bezieht sich nur auf vernunftbegabte Lebewesen; er schützt deren Autonomie, das heißt ihre Fähigkeit, selbstgesetzte Zwecke zu verfolgen.

Zülicke spürt zwar in einem Aufsatz des Bandes der Praxis der Einwilligungserklärungen ("Patientenverfügungen") in den USA nach. Eigentlich geht es ihm jedoch nicht um den kategorischen Imperativ in der ursprünglichen Form, sondern um dessen Erweiterung, wie auch die Philosophen Robert Spaemann aus München und Reinhard Löw aus Hannover sie postuliert haben: Alle Organismen, nicht nur vernunftbegabte Wesen, seien immer auch als Selbstzwecke anzusehen.

Der Gedanke ist uns nicht völlig fremd. Ein Beispiel: Viele von uns halten es nicht allein deshalb für falsch, ein Tier zu quälen, weil wir Menschen dann verrohen (das war noch Kants Argumentation), sondern auch, weil das Tier dann leidet – es geht uns um das Tier. Aber selbst wenn die Leidensfähigkeit, etwa durch eine Betäubung, aufgehoben wäre oder es sich um ein niederes Tier handelte, empfänden die meisten von uns es als unangemessen, es ohne ausreichenden Grund zu verstümmeln oder zu töten – aus Achtung dem Lebewesen gegenüber.

Zülicke vertritt an dieser Stelle eine von Aristoteles inspirierte Lehre der immanenten Zwecke, eine objektive Teleologie der Natur: Alle Organismen seien teleologisch verfaßt, das heißt auf die Verfolgung von (gerade nicht selbstgesetzten und deshalb objektiven) Zwecken hin organisiert, die um so höher stehen,

je höher organisiert ihr Träger ist. Diese Rangordnung von Zwecken und Organismen zugleich nennt Zülicke Teloshierarchie.

Solche inneren Zwecke lassen sich naturwissenschaftlich nicht nachweisen – die neuzeitliche Naturwissenschaft kennt nur kausale Zusammenhänge oder äußere Zweckmäßigkeiten in dem Sinne, daß eine Eigenschaft eines Organismus zweckmäßig ist, wenn sie seine Überlebensfähigkeit erhöht. Aber solche Zwecke lassen sich, wie Zülicke immer wieder betont, auf diese Weise auch nicht widerlegen.

Woher wissen wir dann etwas von den inneren Zwecken anderer Organismen? Zülicke meint, aus der Analogie zum Menschen: Wir selbst verstehen uns nicht als bloße Mittel für irgendwelche uns äußerlichen Zwecke; unser Leben dient keinem fremden Zweck, es ist ein Zweck an sich, ein Selbstzweck.

Was immer wir aber an anderen Organismen achten, ihre Autonomie ist es nicht. Deshalb bringen wir ihnen eine völlig andere Art von Achtung entgegen als vernunftbegabten Wesen, und die Grundlage des Kantschen kategorischen Imperativs entfällt. Dessen Erweiterung durch Zülicke verschleiert das unglücklicherweise.

Zudem scheint ein Konzept kategorischer, das heißt unbedingt zu befolgender Pflichten wenig geeignet als Basis einer angewandten Ethik: Mit nur einem Argument soll sich alle weitere Diskussion erledigen. Bereits Kant hatte in offensichtlicher Verkennung der Realität die Existenz von Pflichtenkollisionen und Abwägungsproblemen abgestritten. In wieviel mehr Konflikte muß erst eine Erweiterung seines kategorischen Imperativs führen? Wieweit soll und kann ein Nutzungsverbot gegenüber allen anderen Organismen durchgehalten werden? Wie vertragen sich kategorische Pflichten mit einer vorrangigen Achtung höher organisierter Organismen? Derartige Probleme bleiben bestehen, selbst wenn sich alle Menschen zur Anerkennung einer objektiven Naturteleologie bewegen ließen.

Insgesamt ist Zülicke im vorliegenden Band die Darstellung seiner ethischen Position zu knapp und aus sich heraus nur schwer verständlich geraten. Die Anwendung seines Ansatzes hat er

hauptsächlich auf das Für und Wider des Embryonenschutzes beschränkt: Der menschliche Embryo sei zunächst "auf das Geborenwerden orientiert"; ihn ausschließlich anderen Zwecken, etwa denen medizinischer Forschung, zu unterstellen sei durch den erweiterten kategorischen Imperativ verboten. Andere Problembereiche, insbesondere solche, die seiner kategorischen Argumentation nicht zugänglich sind, behandelt Zülicke eher stiefmütterlich. Dies betrifft die Anwendung der genetischen Diagnostik, die Reproduktionstechniken und die generelle Verantwortung der Naturwissenschaftler. Hier begnügt er sich mit einer wenig systematischen Zitatesammlung von einander widersprechenden Positionen.

Eine Hilfe für die ethische Urteilsbildung durch systematische kritische Prüfung der Argumente, ein Bezug der Argumente auf verschiedene ethische Begründungsstrategien, was man von einer Publikation mit dem Titel "Bioethik" erwarten könnte, ist nur ansatzweise zu erkennen. Wirklich ärgerlich fanden wir die vielen, zum Teil wörtlichen Wiederholungen in den einzelnen Artikeln des Sammelbandes, die zudem bis auf drei Aufsätze inhaltlich (und wiederum teilweise wörtlich) identisch mit den Ausführungen in Zülickes Dissertation sind.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1998, Seite 130
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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