Blechdosen-Origami
Wie verformt sich ein dünnwandiger Zylinder unter Stauchung? Im Idealfall nach einem hübschen, regelmäßigen Faltmuster.
Origami, die fernöstliche Kunst des Papierfaltens, hat ohne Zweifel einen Bezug zur Geometrie. Daß diese Verbindung aber weit über das Bastelstübchen hinaus in die Welt der Hochbauten und Stahlgerüste reicht, ist eine Überraschung. Der Ingenieur Tibor Tarnai von der Technischen Universität Budapest hat sie vor wenigen Jahren in einem Konferenzbericht aufgezeigt.
Ein bedeutendes Forschungsgebiet der Ingenieurwissenschaft ist der Ausbeulungsprozeß. Wenn ein Gegenstand durch eine zu große Kraft zusammengedrückt wird, bricht er – oder legt sich in Falten. Besonders interessante Muster ergeben sich bei Metallschalen (siehe "Schalentragwerke" von Ekkehard Ramm et al., Spektrum der Wissenschaft, März 1997, S. 98). Dünnwandige Metallstrukturen leisten einer Verformung weitaus mehr Widerstand als massive Konstruktionen gleichen Gewichts und sparen entsprechend Kosten. Das geläufigste Beispiel dafür ist die Getränkedose aus Aluminium – eine Meisterleistung der Präzisions-Massenproduktion.
Wenn nun ein dünnwandiger Metallzylinder entlang seiner Achse komprimiert wird, bleibt er zunächst zylindrisch. Erst wenn die Kraft einen kritischen Wert, die sogenannte Beullast, übersteigt, bricht er plötzlich zu einem formlosen Klumpen zusammen. In sorgfältig präparierten Laborexperimenten kann man der heftigen Verformung Einhalt gebieten, etwa indem man in den Testzylinder einen etwas kleineren, massiven Zylinder steckt oder ihn außen mit einem starken Glaszylinder umgibt, wobei jeweils ein schmaler Spalt frei bleibt. So lassen sich die Anfänge des Beulprozesses beobachten.
Bei einem Metallzylinder ist das erste auftretende Beulmuster eine hübsche, symmetrische Anordnung rautenförmiger Eindellungen. Wenn man in ein Blatt Papier ein Dreiecksmuster faltet und es dann zu einem Zylinder einrollt, ergibt sich fast dasselbe Muster: Papier beult sich und zerknittert weitgehend in derselben Weise wie dünnes Metallblech.
Wenn Sie nicht über eine Laboreinrichtung für Präzisionsexperimente verfügen, liefert gezieltes Papierzerknüllen interessantere Ergebnisse als Blechdosenzertreten. Zerschneiden Sie beispielsweise die Pappröhre, die das Innerste einer Küchentuchrolle bildet, quer in zwei Hälften, rollen Sie ein gewöhnliches Stück Schreibpapier darum, so daß zwischen den beiden zylindrischen Teilstücken eine Lücke von wenigen Zentimetern bleibt, und drehen Sie die Zylinder ein bißchen gegeneinander um die gemeinsame Achse. Daraufhin legt sich das Papier in Falten, die langgestreckte Dreiecke bilden. Entlang des Zylinderumfangs stellt sich automatisch eine ganze Zahl von Falten ein: das sogenannte Kresling-Muster.
Biruta Kresling, experimentelle Designerin aus Paris, befaßt sich eingehend mit diesem und weit komplizierteren Faltmustern. Rollen Sie ein zum Kreissektor geschnittenes Stück Papier zu einem Kegelmantel, stellen Sie diesen auf den Tisch und drücken langsam mit dem Daumen die Spitze ein. Es bildet sich ein tannenzapfenartiges Dreiecksmuster; ein Kegelmantel aus Papier ist einfacher gezielt zu stauchen als ein Zylindermantel. Für Konstrukteure und Erforscher natürlicher Konstruktionen ist es wesentlich zu wissen, daß gezielt vorgeknitterte Konstruktionen gegen gewisse Belastungen stabiler sind als glatte.
Das Muster, das sich als erstes bei einem axial gestauchten Papier- oder Blechzylinder einstellt, ist eine Überlagerung aus einem linksgewundenen und einem rechtsgewundenen Kresling-Muster. Ingenieure kennen es unter dem Namen Yoshimura-Muster (Bild links oben). Ein kleines Stück dieses Musters läßt sich so fortsetzen, daß es die Oberfläche eines Zylinders nahtlos bedeckt. Genau das geschieht, wenn die Zylinderwand an einer schwächeren Stelle zuerst nachgibt und die Ausbeulung sich dann über den Rest der Oberfläche fortpflanzt. In der Ebene ist das Yoshimura-Muster eine Parkettierung – eine lückenlose, überlappungsfreie Bedeckung – mit gleichschenkligen Dreiecken.
Tarnai fragte sich nun, ob andere Parkettierungen der Ebene sich in ähnlicher Weise falten lassen. Seit alten Zeiten ist bekannt, daß es genau drei reguläre, gleichförmige Parkettierungen gibt. Dabei bedeutet "regulär", daß alle Mosaiksteinchen gleich sind und ein reguläres (gleichseitiges und gleichwinkliges) Vieleck bilden; "gleichförmig" heißt, daß die Anordnung der Steinchen um jede Ecke dieselbe ist. Die genannten drei Parkettierungen sind die mit gleichseitigen Dreiecken, mit Quadraten und die bienenwabenförmige Anordnung von Sechsecken. Der Schweizer Mathematiker Ludwig Schläfli (1814 – 1895) hat in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts gezeigt, daß es genau acht weitere gleichförmige, "semireguläre" Parkettierungen gibt, das heißt, alle Steinchen sind nach wie vor reguläre Polygone, aber nicht unbedingt alle gleich. Solch eine Parkettierung benennt man durch ihr Schläfli-Symbol, das die Seitenzahlen der Mosaiksteinchen um eine Ecke herum der Reihe nach auflistet.
Beispielsweise hat die Bienenwabe das Schläfli-Symbol (63), weil sich drei Sechsecke um eine Ecke gruppieren. Zu den beiden anderen regulären gleichförmigen Parkettierungen gehören die Schläfli-Symbole (36) und (44). Die semiregulären gleichförmigen Parkettierungen sind durch (34.6), (33.42), (32.4.3.4), (3.4.6.4), (3.6.3.6), (3.122), (4.6.12) und (4.82) gekennzeichnet (Bild unten). So folgen bei der Parkettierung (3.4.6.4) in jeder Ecke ein gleichseitiges Dreieck, ein Quadrat, ein Sechseck und dann wieder ein Quadrat aufeinander. Das Mosaiksteinchen des Yoshimura-Musters ist ein nicht-gleichseitiges Dreieck, also erscheint diese Parkettierung nicht in der Liste. Sie ist aber eine einfache Verzerrung von (36).
Welche dieser Muster kann man entlang der Kanten der Vielecke falten, so daß dabei die Flächen der Mosaiksteinchen eben bleiben? Zweifellos kann man die "Badezimmer-Kachelung" (44) entlang der vertikalen oder der horizontalen durchgehenden Linien falten – aber nicht entlang beider zugleich, denn dabei müßten sich die Kacheln krümmen. Dieses Faltmuster ist also nicht gerade hochinteressant.
Im Jahre 1989 bewies Koryo Miura, daß sich kein Muster falten läßt, bei dem in einer Ecke genau drei Kanten aufeinandertreffen. Damit sind die Muster (63), (3.122), (4.6.12) und (4.82) ausgeschlossen. Man sieht leicht, daß auch die Muster mit den Schläfli-Symbolen (34.6) und (3.4.6.4) nicht faltbar sind.
Durch die Parkettierung (3.6.3.6) verlaufen gerade Linien, wie bei (44), und man kann entlang dieser Linien falten, aber wieder ist das Ergebnis uninteressant. Übrig bleiben also nur (36), (33.42) und (32.4.3.4). Diese lassen sich nicht nur falten, man kann das Ergebnis auch um einen Zylinder wickeln wie beim Yoshimura-Muster. Diese Muster können also möglicherweise als Modelle für Ingenieurzwecke dienen.
Man kann diese drei Parkettierungen sogar auf viele verschiedene Weisen falten. Das Bild auf Seite 115 oben zeigt vier Möglichkeiten für das Muster (32.4.3.4) und drei der dabei entstehenden Zylinder-Beulmuster. Dabei stehen durchgezogene Linien für Bergfalten (dem Betrachter zugewandte Knicke), gestrichelte für Talfalten (vom Betrachter abgewandte Knicke).
Das Muster der Faltlinien erstreckt sich in jedem dieser Fälle wie ein Gitter über die ganze Ebene. Die gefärbten Parallelogramme im Bild Seite 115 oben bezeichnen jeweils eine Einheitszelle. Sie ist durch Parallelverschiebung über die ganze Ebene fortzusetzen und bestimmt auf die Weise überall, wie zu falten ist. Die kleinstmögliche Einheitszelle (rot) enthält zwei quadratische Kacheln und vier dreieckige. Je eines der Quadrate und der Dreiecke ist "gebrochen": Erst wenn man die Zellen nach Vorschrift aneinanderfügt, ergeben sich die vollständigen Vielecke. Tarnai vermutet, daß dieses Faltmuster das einzige ist, bei dem eine Einheitszelle genau zwei Quadrate enthält.
Die zweite Einheitszelle (grün) enthält vier Quadrate und ist vermutlich ebenfalls die einzige mit dieser Eigenschaft. Die dritte (blau) enthält sechs Quadrate. Faltungen mit dieser Eigenschaft sind auf jeden Fall nicht eindeutig – vielleicht finden Sie eine weitere. Die letzte Einheitszelle enthält acht Quadrate, und wieder gibt es mehr als eine Faltung dieser Art. Wenn Sie noch mehr mit Papierfaltungen spielen wollen: Die Mustern (36) und (33.42) bieten ein reiches Betätigungsfeld (Bild oben).
Wie beim Yoshimura-Muster ähneln manche dieser Faltungen Mustern, die man bei Stauch-Experimenten mit echten Metallzylindern gefunden hat. Man kann den Vorgang auch auf einem Computer simulieren, indem man annimmt, daß die ebenen Kacheln einer Parkettierung entlang der Kanten durch ein elastisches Material verbunden sind. Die Ergebnisse sind insbesondere nützlich beim Studium hohler Stützbalken mit quadratischem Querschnitt, wie man sie heute in modernen Gebäuden einsetzt.
Es ist faszinierend, wie ein winziges Stück Mathematik uralte Kunst und moderne, praktische Wissenschaft miteinander verbinden kann.
Literaturhinweise
Folding of Uniform Plane Tesselations. Von Tibor Tarnai in: Origami Science and Art. Konferenzbericht. Von Koryo Miura et al. (Hg.). Otsu, Shiga (Japan) 1994.
Folded and Unfolded Nature. Von Biruta Kresling in: Origami Science and Art. Konferenzbericht. Von Koryo Miura et al. (Hg.). Otsu, Shiga (Japan) 1994.
Bistability as a necessary condition for the deployment and stabilization of structures in nature and engineering. Von Biruta Kresling in: Biona, Bd. 12, S. 149-160, 1998.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1999, Seite 114
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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