Wahrnehmung: Blinde Patientin sieht noch Bewegungen
Milena Canning kann den Dampf aus einer Kaffeetasse aufsteigen sehen, nicht jedoch die Tasse selbst. Sie sieht, wie der Pferdeschwanz ihrer Tochter von einer Seite zur anderen wippt, sonst bleibt ihre Tochter aber vor ihr verborgen. Canning ist blind, bewegte Objekte allerdings finden irgendwie einen Weg in ihre Wahrnehmung.
Im Alter von 29 Jahren zerstörte ein Schlaganfall ihren Hinterhauptlappen, jenen Teil des Gehirns, in dem sich der primäre visuelle Kortex befindet. Durch das Ereignis verlor sie ihr Augenlicht, doch eines Tages sah sie plötzlich eine Geschenktüte neben sich aufblitzen. Ihre Ärzte sagten ihr, sie würde lediglich halluzinieren, bis sie schließlich den Augenarzt Gordon Dutton aus Glasgow traf. Das mysteriöse Phänomen war ihm schon einmal begegnet – in einer Studie des Neurologen George Riddoch, die sich mit Soldaten befasste, die im Ersten Weltkrieg Hirnschäden davongetragen hatten. Um Canning zu helfen, verschrieb Dutton ihr einen Schaukelstuhl.
Die Patientin gehört zu einer Hand voll Menschen mit dem »Riddoch-Phänomen«: der Fähigkeit, Bewegung wahrzunehmen, während man für andere visuelle Reize blind ist. Jody Culham von der University of Western Ontario in Kanada untersuchte Canning nun gemeinsam mit ihren Kollegen. Dabei bestätigten die Forscher zunächst, dass Canning tatsächlich in der Lage ist, Bewegungen und deren Richtung zu erkennen. Sie konnte sehen, wie sich eine Hand auf sie zubewegte, aber nicht, ob jemand den Daumen nach oben oder nach unten gestreckt hielt. Zudem schaffte sie es, Hindernisse zu umgehen oder einen Ball zu fangen.
Scans von Cannings Kopf offenbarten ein apfelgroßes Loch, wo sich eigentlich ihr visueller Kortex befinden sollte. Ihr mediotemporaler Kortex (MT), der für die Verarbeitung von Bewegungen zuständig ist, ist allerdings intakt. »Ich stelle mir den primären visuellen Pfad wie eine Autobahn vor. In Milenas Fall endet diese Autobahn in einer Sackgasse; es gibt jedoch zahlreiche Nebenstraßen, die zum MT führen«, sagt Culham. Solche Nebenstraßen existieren höchstwahrscheinlich im Gehirn aller Menschen als Überbleibsel eines frühen visuellen Systems, das sich nähernde Bedrohungen auch ohne vollständig ausgeprägte Sicht erkennen konnte, so Culham.
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