Blutzellen in Aktion
Bei herkömmlichen Untersuchungen des Blutbildes wird entweder die Zahl verschiedener Blutkörperchen in einem bestimmten Volumen ermittelt oder ihr prozentualer Anteil in einem Blutausstrich. Abweichungen von bekannten Normwerten deuten auf bestimmte krankhafte Zustände hin. Da man die Zellen abtötet und anfärbt, läßt sich allerdings nicht erkennen, ob sie vielleicht auch verhaltensauffällig sind; dazu müßten sie noch leben.
Diesen Ansatz verfolgt nun ein Forscherteam an der Universitätsklinik Erlangen im Rahmen des Projektes "Klinikgekoppelte Grundlagenforschung". Die Wissenschaftler erstellen Video-Aufnahmen frischer Blutproben, die unter Luftabschluß in einer speziellen Mikroskopierkammer bei Körpertemperatur untersucht werden, und zwar mit einem Lichtmikroskop, dem Ergonom 400. Es zeichnet sich durch enorm hohe Auflösung und große variable Tiefenschärfe aus. Auch eine Art mikroskopischer Tomographie ist möglich.
Auffällig am Blut gesunder Versuchspersonen war der rege Kontakt von Granulocyten zu roten Blutkörperchen. Etwa zwei Drittel aller weißen zirkulierenden Blutzellen sind solche Granulocyten, so benannt nach den zahlreichen wirkstoffhaltigen Granula ( Körnchen) in ihrem Zellplasma. Diese kleinen Freßzellen sind an der Abwehr von Krankheitserregern beteiligt und produzieren entzündungsfördernde Faktoren; manche davon erzeugen Fieber, erhöhen das Schmerzempfinden oder fördern die Zusammenarbeit mit anderen Immunzellen.
Schwebend, wie magnetisiert, schienen die Ausläufer der Granulocyten über die Oberfläche der roten Blutkörperchen – der Erythrocyten – hinwegzugleiten. Gelegentlich dockten sie allerdings regelrecht an und übten deutlich sichtbar Zug über eine Art Leine aus (siehe Bildserie auf Seite 32). Wozu diese Kontakte dienen, ist noch unklar. Denkbar wäre ein Aufspüren von verräterischem körperfremdem Material, ebenso ein Informationsaustausch, der sich vielleicht auf den Ladungszustand der Erythrocytenmembran auswirkt. Jedenfalls kleben die flachen, roten Blutkörperchen in Proben mit weniger kontaktfreudigen und dann eher kugeligen Granulocyten – wie sie bei Krebspatienten vorkommen – häufiger in der Formation von Geldrollen zusammen.
Würde man das normale Verhaltensprofil verschiedener Zellen in einem Blutstropfen kennen, wäre eine einfache Vormusterung vorstellbar: Man könnte prüfen, ob ein ins Blut gelangendes Medikament eventuell die beobachtbare Zellinteraktion stört, ein ungewöhnliches Zellverhalten normalisiert oder ein erwünschtes Verhalten – etwa die Einverleibung von Krankheitserregern – vorübergehend verstärkt.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1994, Seite 32
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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