Brief an die Leser
Verehrte Leserin,
sehr geehrter Leser,
publizistische und journalistische Prinzipien, so bewährt sie auch sein mögen, können unter Umständen sehr wohl fragwürdig werden. Anstelle einer eigenen Erläuterung zitiere ich von etlichen Leserbriefen zur selben Veröffentlichung den des Gymnasiallehrers für Biologie und Geschichte Hamid Moghareh-Abed aus Roßdorf:
In der Ausgabe Juni 1993 haben Sie unter der Rubrik „Vor fünfzig und vor hundert Jahren“ mit dem Stichwort „Sulfonamide“ eine Meldung aus dem Jahre 1943 abgedruckt. Es entspricht der Konzeption dieser Rubrik, historische Veröffentlichungen kommentarlos wiederzugeben. In diesem Falle scheint mir das jedoch aus ethischen Gründen hochproblematisch.
Was ist der Inhalt? Geht es einfach um ein Detail biochemisch-pharmakologischer Forschung vor fünfzig Jahren? Wir lesen: „Im Experiment sind durch die kombinierte Anwendung des Marfanil und des Gasödemserums oft 100 % Heilerfolge zu erzielen, selbst wenn man gleichzeitig 3 oder 4 verschiedene Gasödemkeime in die Wunde einbringt und alle nicht behandelten Kontrollen innerhalb von 21 bis 48 Stunden sterben.“
Experimentiert wurde ab 1942 nun aber nicht mit Tieren, sondern – wie der Reichsführer SS Heinrich Himmler im Mai 1942 „zur schnellen Lösung der Sulfonamidfrage“ befahl – mit Menschen. Die Versuche wurden unter der Oberleitung des Reichsarztes der SS, Dr. Grawitz, vom SS-Brigadeführer und Generalmajor der Waffen-SS Prof. Dr. med. Karl Gebhardt vorwiegend an weiblichen Häftlingen des Konzentrationslagers Ravensbrück durchgeführt. Das Ziel der Menschenexperimente bestand zunächst in der Erzeugung eines solchen Gasbrandödems, wie es auch unter Kampfbedingungen in der Truppe auftrat. In der Folge wurden von Versuchsserie zu Versuchsserie immer schlimmere Verfahren angewendet: Man brachte zum Beispiel Holzteile oder Erde in die chirurgisch gesetzten Wunden ein oder trennte ganze Muskel vom Blutkreislauf ab, woraufhin sich fulminante Infektionen entwickelten. Viele Opfer starben.
Solche unfaßbar mitleidslosen und jedes menschliche Minimalethos mißachtenden Verbrechen darf man meines Erachtens redaktionell nicht ebenso positivistisch behandeln wie zum Beispiel die folgende Meldung über den Sonnenwasserstoff.
Kein Kommentar, aber ein Hinweis und ein Nachtrag. Wie auch die Wissenschaft vom nationalsozialistischen Regime usurpiert wurde, finden Sie in unserer zeitgeschichtlichen Kolumne seit 1983 wiedergespiegelt – siehe die angesprochene Meldung und die ihr mit Bedacht vorangesetzte über die Zensur der medizischen Fachpresse. Die angesprochene Meldung selbst ist die Schlußpassage eines Artikels von Gerhard Domagk, der die Sulfonamide in die Chemotherapie bakterieller Infektionen einführte und dafür 1939 mit dem Nobelpreis für Medizin und Physiologie ausgezeichnet worden war; überreicht bekam er ihn nach Ende des Zweiten Weltkriegs.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1993, Seite 3
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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