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Brief an die Leser


Verehrte Leserin,

sehr geehrter Leser,


mitunter birgt scheinbar Selbstverständliches eine tiefe Erkenntnis. Als der inzwischen emeritierte Freiburger Professor Günther Osche für das HerderLexikon der Biologie den Eintrag "Leben" verfaßte, führte er als erste Eigenschaft substantiellen Seins, das sich auf charakteristische Weise von der rein physisch vorhandenen Materie abhebt, die Individualität an: "Leben existiert nur in Form abgegrenzter Gebilde (Individuen)."

Gleichwohl sind Organismen offene Systeme. Sie tauschen mit ihrer Umwelt Energie und Stoffe aus. Zudem sind sie opportunistisch. So konnten sich die Tiere entwickeln, weil Pflanzen mittels Licht aus anorganischem Material organische Verbindungen aufbauten; insbesondere für zahlreiche Mikroben erwies es sich wiederum als nützlich, komplexere Kreaturen zu besiedeln. Sehr früh in der Evolution ergab sich mithin ein Dilemma: Es galt, sich vieles einzuverleiben und zu verdauen, vieles andere aber, das in den Körper eindrang, bloß zu denaturieren, also das Selbst von dem ihm Ungemäßen zu unterscheiden und notfalls gegen Fremdes zu verteidigen – ja, sich sogar eigener abnorm gewordener Elemente und Komponenten, verletzter Gewebe etwa oder entarteter Zellen, zu entledigen.

Im Rückblick mag erstaunen, daß erst 1882 eine der Schutzstrategien erkannt wurde, ein im ganzen Tierreich verbreiteter Grundmechanismus der Infektabwehr. Und es bedurfte modernster molekular- und zellbiologischer Techniken, die Wurzeln des menschlichen Immunsystems in der Stammesgeschichte zurückzuverfolgen. Vorformen gab es bereits bei den Wirbellosen; Frühformen, von denen wir wie die übrigen Säuger immer noch profitieren, bildeten sich offenbar bei den ersten Wirbeltieren mit Kiefer aus, bei urtümlichen Fischen wie den nur von Fossilien bekannten Placodermen (Bild) und den Haien. Darüber mehr auf den Seiten 30 und 36.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1997, Seite 3
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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