Brief an die Leser
Verehrte Leserin,
sehr geehrter Leser,
letztlich ist die Entwicklung des Lebens die schon mehr als dreieinhalb Jahrmilliarden währende Geschichte eines einzigen, allerdings schier unvorstellbar versatilen Moleküls, der Desoxyribonucleinsäure oder kurz DNA. Die hier sehr vereinfachte Darstellung deutet das Dunkel des Ursprungs an, veranschaulicht aber die wesentlichen Merkmale: die im Vergleich zu anderen Zellinhaltsstoffen wie selbst den komplexesten Proteinen überragende Größe, den Aufbau aus lediglich vier Elementen, nämlich den Nucleotiden mit den Basen Adenin (A), Cytosin (C), Guanin (G) und Thymin (T), deren paarweise Kopplung nach dem Schema A-T oder T-A und C-G oder G-C, wodurch sich jeweils zwei komplementäre Stränge zu einer Art Schraube mit doppeltem Gewindeschnitt – einer Doppelhelix – einander anlagern können, aber auch von einem Strang ein getreues Replikat ähnlich dem photographischen Prinzip Negativ/Positiv gezogen werden kann, sowie die unverzweigte Verkettung der Nucleotide.
Eben aufgrund der linearen Verknüpfung vermögen die vier Bausteine eine schriftartige Reihenfolge zu bilden, so daß die DNA zum Träger der genetischen Information werden konnte. Dieses wundersame Gebilde, bei allen Organismen nur zwei Nanometer (millionstel Millimeter) breit, hat denn auch an Länge durch die Evolution immens zugenommen: Mißt das jüngst komplett aufgeklärte Genom des bakteriellen Einzellers Escherichia coli mit etwa 4,2 Millionen Basenpaaren gestreckt 1,3 Millimeter, so das in menschlichen Ei- und Samenzellen mit drei Milliarden Basenpaaren rund einen Meter. Die Konstruktions- und Funktionsanleitung für unsere Körper, in etwa 100000 Genen niedergelegt und auf 23 Chromosomenpaare verteilt, enthält allerdings als stammesgeschichtliche Altlast über weite Strecken Sequenzen ohne erkennbaren Sinn. Wenn das Human-Genom-Projekt all die Basen-Kürzel aufgeschlüsselt hat, dürften sie 400000 Seiten vom Format dieser Zeitschrift füllen; der Vier-Buchstaben-Text würde mithin mehr als 3300 Hefte ohne Abbildungen und Anzeigen umfassen.
An diese fundamentalen Erkenntnisse, längst Schulbuch-Wissen, erinnere ich nicht bloß, weil ich sie nach wie vor faszinierend finde, sondern weil über kurzschlüssig euphorischen wie apokalyptischen Visionen der wahre, rasch anwachsende Reichtum der Molekularbiologie und verwandter Forschungszweige leicht übersehen wird. Erst im September hatten wir den Digest "Gene und Genome" veröffentlicht; doch allein in dieser Ausgabe finden Sie wieder drei einschlägige Beiträge (Seiten 14, 25 und 50) – darunter den zweiten einer Folge von vier Artikeln zu neuen Ansätzen der Gentherapie, die noch Krebs und Hirndegeneration zum Thema haben wird.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1997, Seite 3
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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