Brief an die Leser
Verehrte Leserin,
sehr geehrter Leser,
besser als jedes Raubtier vermag der Mensch zu töten, seit er sich Waffen verfertigt; und öfter als sonstige fleischfressende Arten tötet er auch seinesgleichen – sogar die äußerste Perversion, das Massenmorden, ist im Kriege sanktioniert. Um so mehr kontrastiert mit dieser Hemmschwäche die natürliche, meist religiös überprägte Scheu, entseelte Leiber zum Wohle der Lebenden systematisch zu untersuchen: Die wissenschaftliche Sektion, die Aufklärung unseres Körperinneren, die Entwicklung, Bau, Funktion und Zusammenwirken der Organe und Gewebe sowie pathogene Veränderungen und Ursachen des Sterbens zu erschließen erlaubt, begann erst 1543 mit dem epochalen Werk "De humani corporis fabrica" von Andries van Wesel aus Brüssel, besser bekannt unter dem latinisierten Namen Andreas Vesalius.
Die Anatomie ist eine breit aufgefächerte, methodisch und inhaltlich mit vielen Nachbardisziplinen korrespondierende Grundlage der modernen Medizin geworden. Das Basiswissen müssen angehende Ärzte sich bereits in den vorklinischen Semestern aneignen. Zwar können interessierte Laien darüber ebenfalls so gut wie alles erfahren, doch nur aus Texten und Bildern. Aus direkter Anschauung, unvermittelt, kennen Gesunde wie Kranke von der Physis unter der Haut recht wenig.
Mit diesem Tabu bricht nun der Anatom Gunther von Hagens, Erfinder der Plastination. Das Verfahren ermöglicht die subtile Präparation und eine dauerhafte Konservierung des menschlichen Organismus oder Teilen davon; und solche Plastinate werden derzeit in Deutschland erstmals öffentlich gezeigt. "Aus dem Präpariersaal", urteilte die "Frankfurter Allgemeine", sei "eine Schaubude geworden". Hingegen kommentierte die Heidelberger "Rhein-Neckar-Zeitung", die "Körperwelten" genannte Ausstellung könne man "auch als Staun- und Lehrstück über das ‚Wunder' Leben" sehen. Und: "Niemand ist genötigt, sich dem auszusetzen. Aber keinem ist verwehrt, den Blick in eine Welt zu tun, die jedem näher liegt als das Hemd." Das gilt auch für den Artikel der Reihe "Wissenschaft in Bildern" (Seite 66).
Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1997, Seite 3
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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