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Brief an die Leser


Verehrte Leserin, sehr geehrter Leser,

mit dem Hauptnervenstrang rückseits vom Verdauungskanal, zwei Gliedmaßen-Paaren oder auch lebendgeborenen Jungen – mit teils uralten Erfindungen der Natur müssen wir zurechtkommen. Kiemen sind unserer Stammlinie verlorengegangen, später vom Säugetierfell nur kümmerliche Rudimente geblieben; Flügel hingegen mußten wir uns erst selber bauen.

Nicht anders als im Körper mischen sich Relikte und Innovationen der Evolution im menschlichen Wesen. Nur, hätte eine so späte, singuläre Art nicht gleich ein wenig humaner ausfallen können? Immerhin verleiht uns die famose Großhirnrinde Einsichtsvermögen. Warum sind wir, ökologisch kurzsichtig, im Raubbau optimal? Weshalb lassen wir Aggressionen, wenn sie schon aufkeimen, bis zu Mord, gar Krieg eskalieren? Und umgekehrt: Wie konnten bei aller natürlichen Auslese überhaupt partnerschaftliches Wirken auf ein gemeinsames Ziel hin und Rücksicht in Gemeinschaften entstehen? Wieso sollten ohnehin Stärkere sich nicht sozialdarwinistisch auf Kosten aller Schwächeren hemmungslos durchsetzen? Und warum ist Altruismus mitunter die erfolgreichste Strategie?

Das prekäre Wechselspiel von Egoismus und Uneigennützigkeit ist ein Lebensthema, ob wie eh und je in Familie und Beruf oder aktuell auf der Weltbühne unter den Auspizien kapitalistischer Marktwirtschaft. Mit Ursachen, scheinbaren Widersprüchen und Folgen des Gruppenverhaltens haben sich viele Artikel in dieser Zeitschrift unter den verschiedensten Aspekten befaßt. Die lehrreichsten aus Disziplinen von der Spieltheorie über den Streitfall Soziobiologie bis zur politologischen Konfliktforschung hat mein Kollege Michael Springer nun zusammen mit dem Freiburger Psychologen Andreas M. Ernst für den Digest "Kooperation und Konkurrenz" ausgewählt. Zum Titelbild, das Männer einer Amish-Ortschaft beim Hausbau zeigt, fragt Springer im Editorial, ob wir da wohl eine Insel des Friedens oder bloß in erstarrten Regeln Gefangene sähen. Herausgeber Ernst sagt im Vorwort, daß die Antwort hier wie überall sonst in einer permanent zu lösenden Aufgabe bestehe: "Die subtile Balance von Individuum und Gemeinschaft, von Konkurrenzkampf und Hilfeleistung, von Wandel und Erhalt muß immer wieder erneut ausgehandelt werden. Sie erst bietet die Chance zur Weiterentwicklung, birgt aber auch stets die Gefahr des Scheiterns." Seinen Beitrag "Psychologie des Umweltverhaltens" werden wir auch in der regulären April-Ausgabe veröffentlichen.
Ihr
Albrecht Kunkel


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1998, Seite 3
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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