Brief an die Leser
Liebe Leser,
alljährlich um diese Zeit werden wir in unseren Redaktionsbüros
von durchdringend hupenden Autos mit ausgelassenen Jugendlichen und Aufschriften wie ABI ’98 aus dem angestrengten Brüten über schwierigen wissenschaftlichen Artikeln gerissen. Mit nachsichtigem Lächeln gönnen wir den frisch gebackenen Abiturienten die Begeisterung über ihren Erfolg. Doch haben sie eigentlich Grund zum Feiern? Wird das Abitur,
seit dem letzten Jahrhundert ein Aushängeschild für das deutsche Bildungssystem wie das „Made in Germany“ für die deutsche Wirtschaft, noch seinem Anspruch gerecht, Ausweis hoher Bildung und geistiger Befähigung sowie Eintrittskarte zu einer gehobenen Karriere zu sein?
Keinesfalls, meinen lautstarke Kritiker, die in ihm nur noch einen niveaulosen Massenabschluß sehen, der wenig Aussagewert habe und beruflich eher ins Abseits führe. Unüberhörbar sind die Klagen von Universitätsprofessoren über die mangelnde Studienreife der Abiturienten. Und ernüchternd ist das Ergebnis der jüngsten internationalen TIMSS-Studie, die deutschen Schülern lediglich mittelmäßige Leistungen in Mathematik und Naturwissenschaften bescheinigt.
Noch gut erinnere ich mich der Aufbruchstimmung in den sechziger Jahren, als Bildungspolitiker aller Couleurs sich auf die Fahnen schrieben, die Begabungsreserven in der breiten Bevölkerung auszuschöpfen –
auch mir ebneten sie dadurch den Weg von der Dorfschule zu den Stätten der Gelehrsamkeit. Doch bald wurden die negativen Begleiterscheinungen der Bildungsexplosion sichtbar: Die anschwellende Abiturientenflut ließ sich nur durch Zugangsbeschränkungen für einzelne Fächer und einen großzügigen Ausbau der Universitäten halbwegs bewältigen.
Der reformerische Impetus der Bildungspolitiker ging freilich weiter. War das klassische Ideal einer breiten Wissensbasis denn noch zeitgemäß, und erstickte das traditionelle Abitur mit seinem standardisierten Fächerkanon nicht die Vielfalt individueller Begabungen? Und so wurden, auch als Vorgriff auf die spätere Studien- oder Berufswahl, zunehmend Möglichkeiten zur Spezialisierung geschaffen, die Ende der siebziger Jahre in der allgemeinen Einführung des Kurssystems gipfelten. Bot es den Schülern einerseits die Chance, ihre Stärken und Interessen maximal zur Geltung zu bringen, so machte es andererseits Schluß mit einheitlichen Bewertungsmaßstäben, zumal sich die Regelungen über Zahl und Art der Pflichtprüfungsfächer zwischen den Bundesländern stark unterschieden.
Mit dem Ergebnis scheint heute niemand mehr zufrieden. Da streben auf der einen Seite Pragmatiker zurück zu mehr Einheitlichkeit und Verbindlichkeit, während auf der anderen Idealisten Rousseauscher Prägung Visionen eines neuen Abiturs entwerfen, das weit mehr sein soll als ein Zeugnis der Studienreife. Der Ausgang dieses Ringens – Thema des Forums in diesem Heft – kann uns nicht gleichgültig sein:
Die Zukunft einer Technologienation hängt davon ab.
Ihr
Gerhard Trageser
Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1998, Seite 3
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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