Brief an die Leser
Liebe Leser,
Sommerzeit ist Urlaubszeit. Sollte auch eine Wissenschaftszeitschrift darauf Rücksicht nehmen? Dieses Heft tut es in gewissem Maße. So findet sich außer den üblichen profunden Beiträgen, die Sie, wie wir wissen, an Spektrum schätzen, diesmal vermehrt auch leichtere Kost. Sie dürfte Ihre grauen Zellen nicht derart strapazieren, daß die rekreativen Zwecke des Urlaubs gefährdet werden, kann andererseits aber verhüten, daß Ihr Intelligenzquotient beim Ausspannen am Strand mangels geistigen Trainings womöglich absinkt (was nach neueren Erkenntnissen schon bei wenigen Wochen mentalen Müßiggangs droht).
Zudem greifen die weniger tiefgründigen Artikel auch vom Inhalt her urlaubsnahe Themen auf – etwa wenn es darum geht, weshalb Sand nicht nur unter den Füßen knirscht, sondern unter bestimmten Umständen sogar regelrecht quietschen oder wie ein Nebelhorn dröhnen kann. Vielleicht geraten Sie bei einem abendlichen Cocktail an der Bar aber auch ins Sinnieren darüber, wo die Wurzeln des Genusses alkoholischer Getränke in der Menschheitsgeschichte liegen und wie es kommt, daß gerade dieses Rauschmittel in der westlichen Zivilisation trotz der verheerenden Folgen seines verbreiteten Mißbrauchs nicht nur geduldet wird, sondern eine anerkannte Funktion im Rahmen von Geselligkeit und kultivierter Gastlichkeit hat. Als kleine Bettlektüre könnte der Artikel des Mediziners Bert L. Vallee von der Harvard-Universität Sie in diesem Falle darüber aufklären, daß Bier und Wein über Jahrtausende keineswegs dem Genuß dienten, sondern ebenso wie Milch ein Grundnahrungsmittel waren, weil sie im Unterschied zu gewöhnlichem Wasser keine gefährlichen Krankheitskeime bargen.
Diese tolerante Einstellung zum Alkohol spiegelt sich auch in der Bibel wider. Nachdem Noah mit seiner Arche die Sintflut überstanden hat, wird er zum Landwirt und ersten Winzer. Vom Rebensaft berauscht, schläft er eines Tages entblößt in seinem Zelt ein. Doch nicht seine Trunkenheit wird mißbilligt, sondern das Verhalten seines Sohnes Ham, der hinzukommt und, statt die Blöße des Vaters zu bedecken, ihn auch den Brüdern in seiner anstößigen Nacktheit zeigen will.
Falls Sie wie ich aus beruflichen oder privaten Gründen zu Hause bleiben müssen, sollten Sie sich jedoch nicht ausgeschlossen fühlen. Die angesprochenen Artikel sind sicherlich auch dann interessant und ein Lesevergnügen, wenn ihr Gegenstand Ihnen momentan etwas ferner liegt
Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1998, Seite 3
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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