Briefe an die Redaktion
Verehrte Leserin,
sehr geehrter Leser,
an klärende Experimente ist in der Astronomie gar nicht zu denken. All ihre Befunde und Theorien stützen sich auf das, was an korpuskularer und elektromagnetischer Strahlung zur Erde und in ihre unmittelbare Umgebung dringt, sowie auf die hier erkannten Gesetzmäßigkeiten.
Wir erleben gegenwärtig zwar eine unerhörte Steigerung der technischen Möglichkeiten mit, Himmelskörper und Prozesse in fernsten Weiten zu beobachten; doch noch viel faszinierender scheint mir die Raffinesse, durch die mit den modernen Instrumenten und Verfahren Erkenntnisse über exotische Objekte und tiefste Vergangenheiten gewonnen werden. Wollen Sie etwa wissen, wie die kosmischen Megastrukturen entstanden sind oder wieviel gewöhnliche Materie – Protonen, Neutronen beziehungsweise daraus zusammengesetzte Atomkerne – es überhaupt gibt? Messen Sie das Mengenverhältnis von Deuterium zu normalem Wasserstoff kurz nach dem Urknall. Wie? Indem Sie das Licht analysieren, das durch eine Gaswolke in rund zehn Milliarden Lichtjahren Distanz von einem dahinter auf der Sichtlinie liegenden (also auch noch früher entstandenen) Quasar fällt.
Kennen wir, können aufmerksame Leser jetzt sagen. Genau darüber hatte Craig J. Hogan erst im letzten Monat berichtet. Aber kaum war unsere redaktionelle Arbeit an der Februar-Ausgabe abgeschlossen, erschien in "Science" ein Beitrag mit dem verunsichernden Titel "Wolken ziehen über Deuterium-Nachweis auf": Ein Team um David Tytler habe mittlerweile "deutlich überlegene" Daten. Darin seien Anzeichen für relativ viel Deuterium in eben jenem primordialen Gas nicht zu finden, und Hogan habe daraufhin "eine frühere Schlußfolgerung zurückgezogen" – links noch einmal der betreffende Ausschnitt aus Bild 3 von Hogans Artikel mit Markierungen für Wasserstoff (HI) und den beiden inkriminierten für Deuterium (DI) im Absorptionslinienspektrum.
War wieder ein Wissenschaftler voreilig? Haben wir spekulativen Unsinn publiziert? Mitnichten. Vielmehr ist dies eine gute Gelegenheit, den Fortgang komplexer Forschung mitzuverfolgen. Zum einen ist nämlich "Hogans Zugeständnis", so "Science", "nicht das letzte Wort, denn etliche Astronomen behaupten, auch Tylers Messungen seien nicht wasserdicht". Zum anderen hatte Hogan seine Schätzwerte vorsichtig nur als vorläufige obere Grenze interpretiert und abweichende Resultate, unter anderen die von Tyler und dessen Kollegen Scott Burles, bereits auf Seite 43 seines Artikels erwähnt. Drittens schließlich muß das Problem der einstweilen im Weltall vermißten Masse, der sogenannten Dunklen Materie, nicht unbedingt allein anhand der ursprünglichen Deuteriumhäufigkeit gelöst werden: Für April bereiten wir schon einen Artikel über neuentdeckte leuchtschwache Galaxien vor, die so häufig sein könnten wie die bislang gesichteten.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1997, Seite 8
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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