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Brillantes Forschungslicht bei Bessy

Vor kurzem wurde das neu errichtete Elektronensynchrotron BESSY II in Berlin-Adlershof eingeweiht. Die dort erzeugte intensive Ultraviolett- und Röntgenstrahlung hilft, brennende Fragen in Physik, Chemie, Biologie, Medizin und Materialwissenschaften zu beantworten. Kooperationen mit Instituten auf der ganzen Welt sind vorgesehen.


Seit Wilhelm Conrad Röntgen im Jahre 1895 die später nach ihm benannten energiereichen elektromagnetischen Strahlen entdeckt hat, spielen sie in der ärztlichen Diagnostik und Therapie, aber auch auf vielen anderen Gebieten wie der Materialprüfung oder der Strukturaufklärung von Kristallen und Makromolekülen eine bedeutende Rolle. Erzeugen kann man sie, indem man entweder Übergänge von Elektronen in Atomen auslöst oder geladene Teilchen bei hohen Geschwindigkeiten ablenkt. Im ersten Falle hat die Strahlung eine diskrete Frequenz, während sie im zweiten ein breites Spektrum überdeckt.

In Synchrotrons werden Ionen oder Elektronen durch Magnetfelder auf einer Kreisbahn gehalten und durch elektrische Wechselfelder, die sich synchron mit der Umlauffrequenz ändern, bis fast auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt. Dabei senden sie in einem schmalen Kegel in Bewegungsrichtung Strahlung aus. Deren Intensität und Frequenzmaximum hängen von der Geschwindigkeit der Teilchen und der Stärke des Magnetfeldes ab.

Schon 1944 von den russischen Physikern D. Ivanenko und I. Pomeranchuk vorausgesagt, wurde die Synchrotronstrahlung drei Jahre später von Frank Elder, Robert Langmuir und Herbert Pollack eher zufällig auch experimentell beobachtet. Bei der Grundlagenforschung mit Teilchenbeschleunigern galt sie lange als störend – zumal sie die erreichbare Endenergie begrenzt. Erst 1956 begann man, sie für wissenschaftliche Untersuchungen zu nutzen. In den späten sechziger Jahren gingen die ersten Einrichtungen in Betrieb, die gezielt Synchrotronstrahlung für Forschungszwecke einsetzten: in Hamburg das HASYLAB am Elektronensynchrotron DESY und in den USA das Labor in Stanford.

Seitdem wurden auf der ganzen Welt zahlreiche Anlagen gebaut, deren wichtigstes oder einziges Ziel die Nutzung der Synchrotronstrahlung ist. Allein in den USA gibt es ungefähr ein Dutzend derartiger Forschungszentren mit primär für Strahlungsexperimente konzipierten Speicherringen. Inzwischen befinden sich weltweit Synchrotrons der dritten Generation in Betrieb oder im Bau, die mittels periodischer Magnetstrukturen – sogenannter Wiggler und Undulatoren – wesentlich intensivere Strahlung abgeben: Die Leuchtdichte (Brillanz) liegt bis zu 10000mal höher. Das Speichern der im Ring umlaufenden Elektronen und das Erzeugen des Lichts sind dabei getrennte Funktionen, die gesondert optimiert werden können.

Auch die jetzt in Berlin eingeweihte Anlage Bessy II (Bild) gehört – ebenso wie die European Synchrotron Radiation Facility (ESRF) in Grenoble oder MAX II in Lund (Schweden) – der dritten Generation an. Sie löst die seit 1982 in Wilmersdorf betriebene Vorgängerin Bessy I ab, mit der in Berlin die Nutzung von Synchrotronstrahlung im Vakuum-Ultraviolett und im weichen Röntgen-Spektralbereich begonnen hatte.

Bessy soll ein Institut der Blauen Liste werden, an dessen Finanzierung sich die Bundesregierung, das Land Berlin und die anderen Bundesländer beteiligen. Es arbeitet mit der Max-Planck-Gesellschaft, der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, der Fraunhofer-Gesellschaft, der Helmholtz-Gemeinschaft und den Universitäten zusammen. Auch Kooperationen mit Schwestereinrichtungen wie HASYLAB oder ESRF sind in die Wege geleitet. Es gibt außerdem zahlreiche Kooperationen mit Nutzergruppen, die bei Bessy mitverantwortlich Strahlrohre und Experimentiereinrichtungen aufbauen.

Die Elektronenenergie ist mit 1,7 Milliarden Elektronenvolt mehr als doppelt so hoch wie bei Bessy I, und der Ringumfang beträgt mit 240 Metern fast das Vierfache der alten Anlage. 288 Magnete halten die Elektronen auf Kurs; in 40 Strahlrohren mit Dipolfeld und etwa 30 mit Wigglern und Undulatoren wird die Synchrotronstrahlung zu Austrittsfenstern für Experimente und Anwendungen geführt. Ihre Brillanz ist mit 1018 Photonen pro Sekunde, Quadratmillimeter und Quadratmillirad außerordentlich hoch.

Optische Strahlführung und Monochromatoren, die aus dem kontinuierlichen Spektrum die benötigte Wellenlänge herausfiltern, sind für diese Lichtquelle optimiert und ermöglichen eine exzellente spektrale und räumliche Auflösung bei hoher Intensität: Der Strahl läßt sich auf einen Querschnitt von nur 0,01 Mikrometern bündeln, was in der Mikrosystemtechnik den Vorstoß in noch viel kleinere Dimensionen ermöglicht – etwa bei der Herstellung von Miniaturpumpen oder anderen winzigen Apparaturen. Auch in der Mikroelektronik sollten sich mit einem derart scharf fokussierten Strahl lithographisch extrem feine Strukturen herstellen und die bisherigen Grenzen der Miniaturisierung unterschreiten lassen.

Da die Erzeugung und Weiterleitung der Synchrotronstrahlung Ultrahochvakuum erfordert – die Rohre im Speicherring und die Monochromatoren enthalten 1012 mal weniger Teilchen als die Luft – sind zudem Verschmutzungen der Proben ausgeschlossen. Besonders bei der Untersuchung von Oberflächen mit Synchrotronstrahlung ist das sehr wichtig; das Objekt kann langen Meßzeiten ausgesetzt werden, ohne daß die Gefahr einer Fehlinterpretation durch Fremdteilchen besteht.

Die wissenschaftliche Arbeit wird wesentlich von Forschern durchgeführt, die von ihren Heimatinstituten nach Berlin kommen und die Synchrotronstrahlung als vielseitiges Werkzeug zur Bearbeitung ihrer Fragestellungen nutzen. Auch die Bessy-eigene Forschung erhält Auftrieb. Bei den Experimenten wird die Wechselwirkung der Strahlung mit Materie in Form von Streuung oder Absorption genutzt, um Struktur und Aufbau von Molekülen und Atomen aufzuklären. Da das Spektrum der Synchrotronstrahlung einen großen Wellenlängenbereich umfaßt, kann man sich einfach den benötigten Anteil ausfiltern.

Zum Beispiel besteht harte Röntgenstrahlung aus hochenergetischen Photonen, deren Wellenlängen interatomaren Abständen in Kristallen entsprechen. Deshalb werden sie an den Atomen im Kristallgitter elastisch gestreut (gebeugt) und liefern so Informationen über die Anordnung der Kristallbausteine. Für Geophysiker, welche die Bedingungen im Erdkern simulieren wollen, ist beispielsweise von besonderem Interesse, Eisen unter hohen Drücken und Temperaturen zu untersuchen, um festzustellen, welche neuen Strukturen (Modifikationen) es dabei möglicherweise annimmt.

Wegen ihrer enormen Intensität ermöglicht Synchrotronstrahlung, Röntgenbeugungs-Experimente, die normalerweise Stunden bis Tage dauern, in Sekundenbruchteilen durchzuführen. Dadurch eignet sie sich speziell dazu, funktionsbedingte Strukturänderungen in biologischen Systemen zu verfolgen.

Experimente, bei denen die Synchrotronstrahlung inelastisch (unter Energieabgabe) gestreut oder absorbiert wird, geben dagegen Auskunft über die Elektronenstruktur der untersuchten Atome oder Moleküle, von der ihre physikalischen und chemischen Eigenschaften abhängen. Die Strahlung "kickt" dabei Elektronen aus der Probe, sofern sie in der Frequenz genau auf die Resonanzen des untersuchten Materials eingestellt ist, was sich mit Synchrotronstrahlung leicht erreichen läßt. Nicht nur Kristalle, sondern auch amorphe (ungeordnete) Festkörper, Flüssigkeiten und Moleküle in der Gasphase lassen sich auf diese Weise untersuchen. Die Ergebnisse dienen zwar in erster Linie der Grundlagenforschung, werden aber nach allgemeiner Erwartung auch Anwendungen beispielsweise im Bereich der Halbleiterfertigung oder in der Chemietechnik haben. Ein jetzt schon erfolgreiches Beispiel ist die geglückte Realisierung der schwierigen Verbindung von Polymeren und Keramiken.

Die hohe Intensität und gute Fokussierbarkeit der Synchrotronstrahlung kommt auch medizinischen Untersuchungen zugute, wie sie beispielsweise bei der Schwestereinrichtung ESRF schon durchgeführt worden sind. Der sehr kleine Strahlungsquerschnitt ermöglicht dort dreidimensionale computertomographische Aufnahmen von menschlichem Gewebe mit einer räumlichen Auflösung im Mikrometer-Bereich. Dadurch ist etwa die Thrombose einer Herzkranz-Arterie viel genauer darstellbar, als das mit herkömmlichen Röntgenquellen gelingt.

Noch viele andere Fragestellungen lassen sich mit Synchrotronstrahlung angehen oder werden bereits bearbeitet. Dazu zählt insbesondere die Oberflächen- und Grenzflächenstruktur von Halbleitern, die für die Computertechnik und die Photovoltaik von großer Bedeutung ist; denn die Grenzflächen bestimmen die elektronischen Eigenschaften der Bauelemente. Ein weiteres Beispiel ist die weltweit betriebene Erforschung der Fullerene – fußballförmiger Kohlenstoffmoleküle aus einem geschlossenen Netz von Fünf- und Sechsringen: Mit Hilfe der Synchrotronstrahlung von Bessy hat eine Forschergruppe der Universität Freiburg ermittelt, wie hoch die Mindestenergie zur Ionisation von Fullerenen mit mehr als 60 Kohlenstoffatomen ist.

Ein Röntgenmikroskop, das die Universität Göttingen bei Bessy betreibt, erreicht eine wesentlich höhere Auflösung als Lichtmikroskope (wenngleich nicht die von Elektronenmikroskopen). Da die benutzte Röntgenstrahlung Wasser gut durchdringt, lassen sich damit beispielsweise lebende Zellen ohne strukturverändernde Präparation mikroskopisch untersuchen (siehe "Röntgenmikroskopie", Spektrum der Wissenschaft, April 1991, Seite 70).

Eine weitere interessante Anwendung der Synchrotronstrahlung betrifft schließlich die im Dezember 1995 gestartete, fast eine Milliarde Dollar teure Sonnensonde SOHO (Solar and Heliospheric Observatory) – die vor kurzem Schlagzeilen machte, weil sie im Juni außer Kontrolle geriet, inzwischen aber wiederbelebt werden konnte. Unter anderem untersucht sie mit einem speziellen Spektrometer an Bord die Vakuum-Ultraviolett-Strahlung der Sonne. Zur Kalibrierung dieses Meßgeräts hatte die sehr genau berechenbare Synchrotronstrahlung von Bessy I gedient. Die Spektrometer eines neuen Sonnenobservatoriums für das übernächste Sonnenfleckenmaximum im Jahre 2012 werden dann voraussichtlich mit Quellenstandards von Bessy II kalibriert werden.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1998, Seite 30
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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