Caulerpa - einzellige Riesenalge
Die bis ein Meter lange Meerespflanze mit blatt- und wurzelartigen Strukturen widerspricht scheinbar den Gesetzen der Biologie|: Trotz ihrer komplexen Organisation besteht sie nur aus einer einzigen, vielfach verzweigten Zelle.
Würden Sie im Mittelmeer in ei- ner Lagune schnorcheln, wo Caulerpa wächst, fiele Ihnen vermutlich an der Pflanze gar nichts Besonderes auf. Äußerlich erinnert sie an Seegräser, und sie lebt auch wie diese in flachen Meeresgebieten, jedoch nicht in gemäßigten, sondern hauptsächlich in tropischen und subtropischen Regionen. Daß sie wie so viele höhere Pflanzen regelrechte Stengel, Blätter und Wurzeln zu bilden scheint, ist allerdings eine Täuschung, und daß ihr Ausläufer sprießen, die fast an Ableger von Erdbeeren oder Adlerfarn erinnern, nur eine verblüffende Parallele – innerlich ist sie völlig anders aufgebaut.
Tatsächlich ist Caulerpa eine Grünalgen-Gattung mit einer Reihe sehr unterschiedlich aussehender Arten, und die mitunter einen Meter langen Gewächse sind nicht wie alle höheren Pflanzen in Zellen untergliedert, die jede ihren eigenen Zellkern und ihr eigenes Cytoplasma haben: Diese Gebilde sind vielmehr die größten, differenziertesten einzelligen Organismen der Welt. Sie enthalten – im Gegensatz zu den einfacheren, kleineren Einzellern – allerdings sehr viele Kerne, die in einem nicht durch Barrieren unterteilten Cytoplasma schwimmen wie in einem verzweigten Schlauch. Deswegen zählt man sie zu den Schlauchalgen oder Siphonales; systematisch gehören sie zu den Bryopsidophyceae. (Wegen ihrer besonderen Organisation sprechen manche Botaniker auch nicht mehr gern von bloßen Zellen.)
Eigentlich dürfte es diese Pflanze gar nicht geben. Vielleicht wegen ihrer merkwürdigen Morphologie, die den gängigen Vorstellungen widerspricht, ist Caulerpa Biologen wenig vertraut, obwohl sie schon vor fast 150 Jahren erstmals beschrieben wurde. Sie paßt einfach nicht zum Verständnis davon, wie ein größeres Lebewesen aufgebaut zu sein hat. Nach herkömmlichem Wissen scheint es schlechterdings nicht möglich, daß eine einzelne Zelle zu dieser Größe auswächst und dabei auch noch für bestimmte Funktionen große, unterschiedlich gestaltete Strukturen – regelrechte Organe – ausbildet, die offenbar ähnliche Aufgaben übernehmen wie Blätter, Stengel oder Wurzeln höherer Pflanzen. In Anlehnung daran spricht man bei Caulerpa von Phylloiden (nach griechisch phyllon, Blatt) und Rhizoiden (nach rhiza, Wurzel) sowie bei den horizontalen Ausläufern von Cauloiden (nach kaulos, Stiel, Stengel) oder auch Stolonen.
Normalerweise bestehen pflanzliche wie tierische Organismen dieser Größe und Komplexität aus Hunderttausenden mikroskopisch kleiner Zellen, deren Kern und Cytoplasma von einer Membran umschlossen ist. Pflanzliche Zellen haben in der Regel außen noch eine feste Zellwand, etwa aus Cellulose.
Daß die Zelle die Grundeinheit biologischer Strukturen und Funktionen ist, haben die deutschen Naturforscher Matthias Jakob Schleiden (1804 bis 1881) und Theodor Schwann (1810 bis 1882) in den Jahren 1838 und 1839 als Zellentheorie formuliert; Schleiden wirkte, unter anderem als Botaniker, in Jena und im estnischen Dorpat (Tartu), Schwann als Biologe und Mediziner in den belgischen Städten Löwen und Lüttich. Mittlerweile stützen das Konzept so viele Befunde, daß man von einer Zellenlehre sprechen kann. Darauf fußen die derzeit gängigen Vorstellungen, wie Organismen sich entwickeln, ihren Stoffwechsel regeln, auf die Umwelt reagieren und sich fortpflanzen.
Grundlegend für all dies ist, daß Zellen offenbar deswegen in der Mehrzahl mikroskopisch klein sind, weil ein Zellkern ökonomischerweise nur eine räumlich sehr geringe Einflußsphäre hat.
Ähnlichkeiten mit höheren Pflanzen
Caulerpa ist geradezu ein Gegenmodell zur Zellenlehre. Viele gleiche oder ähnliche Leistungen wie die von Mehrzellern gelingen ihr ohne Aufgliederung in streng getrennte Funktionsbereiche. Man fragt sich, ob und inwiefern ihr dadurch Einschränkungen auferlegt sind. Auch ist interessant, ob sie manche Vorgänge mit ähnlichen Mitteln, etwa durch Hormone, koordiniert – zum Beispiel Entwicklung und Regeneration, und anderweitig vergleichbare oder vielleicht sogar dieselben Botenstoffe einsetzt. Wie verhindert sie eigentlich, daß sie bei Verletzungen durch Fraß oder brechende Wellen sozusagen ausblutet?
Mein Interesse für diese große Schlauchalge weckte in den frühen fünfziger Jahren mein Kollege William "Cappy" Weston an der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts). Als ich aber aus älteren wissenschaftlichen Abhandlungen mehr über sie erfahren wollte, stieß ich auf eine Menge Widersprüche und offensichtliche Halbwahrheiten. Vielfach hatten Forscher bei einem kurzen Aufenthalt an der Zoologischen Station in Neapel, die 1874 als eines der wichtigsten meeresbiologischen Zentren gegründet worden war, einige flüchtige Beobachtungen oder Experimente gemacht. Welche von den Deutungen einer Prüfung standhalten und welche nicht oder welche der zahlreichen angeführten Wirkfaktoren tatsächlich eine Rolle spielen, ließ sich nachträglich durch Literaturrecherchen nicht erkennen. Es fehlten oft auch Angaben über die Jahreszeit der Beobachtungen, die wohl manche Widersprüche hätten erklären können, und über die Zahl der Proben, die anscheinend meist recht klein war. Ohnehin war selten Zeit gewesen, eine Untersuchung zu wiederholen – ganz zu schweigen davon, daß statistische Analysen, die einen Anhalt für die Zuverlässigkeit von Aussagen geben, damals noch nicht gebräuchlich waren.
Die ersten soliden Erkenntnisse verdanken wir zwei Forschern, die sich endlich für die Alge mehr Zeit nahmen: J.M. Janse von der Universität Leiden (Niederlande) hatte Neapel zwischen 1886 und 1909 mehrfach sommers besucht; und Rudolph Dostál von der Universität Brünn in der Tschechoslowakei hielt sie seit den zwanziger Jahren in seinem Laboratorium im Aquarium und faßte die Ergebnisse von 20 Jahren Forschung über die Regeneration von Caulerpa-Stücken 1945 in einem Aufsatz zusammen. Rund zehn Jahre später fing ich mit meinen eigenen Untersuchungen an, als ich ein Sommerhalbjahr in Neapel verbrachte; seitdem halte ich an der Universität Princeton (New Jersey) eine Dauerkultur.
Die Art, die im Mittelmeer am häufigsten vorkommt, ist Caulerpa prolifera (Bild 1). Wie meine Kollegen und ich schon bald erkannten, steht die Pflanze in ihrer Wachstumsgeschwindigkeit mehrzelligen Organismen nicht nach. Photoserien dokumentieren, daß das Cauloid – der sich am Boden entlangwindende Ausläufer – sich pro Tag etwa um 4,6 Millimeter verlängert; das entspricht durchaus der Wachstumsrate von Achsen mancher mehrzelliger Pflanzen.
Allerdings wachsen höhere Pflanzen in komplexerer Weise. Ihre Organe entwickeln sich zumeist nach wechselnden zeitlichen Mustern; die Zellen teilen und differenzieren sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Caulerpa wächst hingegen immer gleich schnell in die Länge. Ähnlich verhalten sich sonst nur bestimmte Zellen vielzelliger Pflanzen, die wie Caulerpa mehrere Kerne tragen; vielleicht gibt es dafür gemeinsame Gründe.
Alle drei organartigen Strukturen der Alge – Phylloid, Rhizoid und Cauloid – verlängern sich mit praktisch gleicher Geschwindigkeit; bei höheren Pflanzen hingegen hat jedes Organ sein eigenes Tempo. Demnach sollte der mutmaßliche Faktor, der das Cauloid-Wachstum vorgibt, über die ganze Alge verteilt sein und somit auf die Wachstumsrate der anderen Teile einwirken können.
Bei genauerem Hinsehen entwickeln sich die Strukturen aber auch räumlich völlig anders. Rhizoid und Cauloid legen immer nur an der Spitze zu. Bei vielzelligen Pflanzen sind die Muster wiederum sehr viel komplexer; Wachstumszonen liegen oft auch tiefer im Gewebe.
Ihre wurzel- und blattähnlichen Gebilde bringt die Alge in bestimmten Rhythmen hervor (Bild 2). Tag für Tag schickt sie aus dem frisch wachsenden Ende des Ausläufers ein neues Rhizoidbüschel, das der Unterseite entsprießt, in den Grund, immer im gleichen Abstand zum letzten. Neue Phylloide entstehen etwas weniger regelmäßig an der Oberseite mehrtägiger Stengelabschnitte – in einer Kultur von Caulerpa prolifera aus Florida etwa alle fünf oder sechs Tage. Zuerst wirkt der Sproß dafür fast wie eine junge Wurzel- oder Ausläuferspitze; dann wird er breiter und flach herzförmig, bis daraus die länglich-ovale Spreite wird, die mitunter mehr als zehn Zentimeter Länge erreicht. Später kann oben aus ihr ein neues Phylloid entsprießen – daher der Artname prolifera.
Wachstumsorientierung und Regeneration
Weil die Phylloide an der Oberseite des Cauloids austreiben und sich wie Blätter zum Licht hin entfalten, die Rhizoide aber stets wie Wurzeln in den Grund wachsen, wollten wir wissen, ob auch Einflüsse wie bei höheren Pflanzen wirken, also die Schwerkraft oder der Lichteinfall oder beides.
Dazu stellten wir einige Pflanzen sozusagen auf den Kopf. Am nächsten Tag wuchs ihnen – ohne jeden Verzug – ein neues Rhizoid direkt nach unten, und zwar von der neuen Unterseite. Auch das nächste Phylloid kam im richtigen Abstand und stand von der Basis an nach oben. Wir konnten die Algen nicht einmal dadurch irritieren, daß wir sie nicht nur von oben, sondern auch von unten beleuchteten.
Unseres Wissens reagiert keine andere Pflanze bei der Organentwicklung so schnell und so strikt. Anscheinend wird dies ausgelöst, indem sich stärkespeichernde Strukturen des Cytoplasmas – Amyloplasten – innerhalb der Riesenzelle verlagern. Ihre Menge nahm an der neuen Unterseite der Cauloidspitze binnen sechs Stunden nach dem Umdrehen um 54 Prozent zu, und sie sammelten sich gerade an der Stelle an, wo spä- ter das Rhizoidbüschelchen ausknospte (Bild 3). Die Zahl der Amyloplasten an der Oberseite der Cauloidspitze nahm entsprechend ab. Weiter hinten im Cauloid, wo keine neuen Rhizoide mehr entstehen, fand eine solche Umlagerung nicht statt. Demnach reagiert Caulerpa mittels Amyloplasten auf die Schwerkraft – wie höhere Pflanzen auch, allerdings mit dem Unterschied, daß deren Ausknospungen und Stengel lediglich die Wuchsrichtung verändern (ein Sproß wächst dann gleichsam um die Kurve), während die Strukturen bei Caulerpa gleich an rechter Stelle in korrekter Richtung entspringen.
Der riesige Einzeller übersteht das Abgrasen von Phylloiden durch Fische wie auch die Umsiedlung eines abgepflückten Teiles (was oft geschieht, weil Caulerpa eine beliebte Pflanze für Meerwasser-Aquarien ist). Zuerst fließt zwar ein wenig Cytoplasma aus der offenen Stelle; aber dann bildet sich dort ein Wundpfropfen, hinter dem ein neu entstehender Wandbereich das Loch versiegelt. Das Gewächs übersteht so selbst den Verlust eines Großteils der Phylloide und regeneriert sich auch aus einem Stück Phyllo- oder Cauloid zu einer kompletten Pflanze, was an natürlichen Standorten häufig vorzukommen scheint.
Solange man keinen Anhaltspunkt für eine andere Art der Fortpflanzung hatte, glaubte man, dies wäre die einzige Weise, wie die Alge sich vermehrt, denn eben wieder ausgewachsene Stücke sind nicht selten zu finden. In den späten zwanziger Jahren aber bemerkte Dostál, daß alte Phylloide kleine Ausstülpungen bildeten, aus denen Cytoplasma sickerte – und darin waren begeißelte, sich selbständig fortbewegende kleine Zellen. In den nächsten zehn Jahren beobachteten mehrere Forscher bei verschiedenen Caulerpa-Arten, wie jeweils zwei solcher begeißelten Zellen verschmolzen – also sexuelle Fortpflanzung stattfand. Dennoch scheinen diese Algen sich hauptsächlich vegetativ durch abgerissene Teile zu vermehren.
Mit einem Trick ist es möglich, selbst winzige Stückchen sich regenerieren zu lassen, die sonst zu viel Cytoplasma verlieren und nicht mehr genügend Substanz dazu haben würden. Janse hatte 1904 entdeckt, daß zwischen gegenüberliegenden Zellwandbereichen, die man entlang einer Linie zusammendrückt und verklammert, sich in wenigen Tagen eine sogenannte Druckwand ausbildet. Nach unseren Beobachtungen läuft diese Schutzreaktion sogar in Minuten ab. Schneidet man die Pflanze entlang dem Steg entzwei, verliert sie kaum Cytoplasma. Mit solchen Fragmenten ließen sich die Regenerationsmechanismen genauer untersuchen.
Der Vorgang verläuft überraschend systematisch und gerichtet. So bilden sich im Laborversuch aus 50 Millimeter langen Phylloid-Stücken, die mit zwei horizontalen Schnitten herausgetrennt worden sind, komplette Pflanzen in einer bestimmten Reihenfolge: Zuerst entstehen am vormals unteren Ende Rhizoide, danach nur wenige Millimeter über dem unteren Schnitt ein neues Cauloid und in der oberen Hälfte eine Phylloid-Knospe (Bild 4). Ein polar differenziertes Wachstum ist gleichfalls anderen zur Regeneration fähigen Organismen eigen, und es kennzeichnet auch ihre normale Entwicklung. Gewöhnlich werden dazu aber wohl spezifische Wachstumsstoffe durch Tausende von Zellen transportiert und in bestimmter Weise bei den Wachstumspolen angereichert. Man konnte kaum erwarten, daß Caulerpa, wie sich zeigte, nach ähnlichem Prinzip funktioniert; darauf komme ich noch zurück.
Um herauszufinden, wie die Entwicklung neuer Auswüchse bei der Regeneration gesteuert wird, haben wir wieder- um mit künstlichen Druckwänden experimentiert und zum Beispiel versucht, Phylloid-Knospen in solche von Rhizoiden umzuwandeln und umgekehrt. Setzt man die Druckwand genau unterhalb einer Knospe, die der oberen Hälfte eines Phylloids entspringt und normalerweise zu einem weiteren Phylloid würde, bildet sich nach der Durchtrennung statt dessen ein Rhizoid – denn nun sitzt die Knospe an der Basis. Man kann in ähnlicher Weise oft auch Rhizoid-Knospen veranlassen, sich zu Phylloiden zu entwickeln.
Seltsamerweise richten sich abgeschnittene Phylloidfragmente nicht in gleicher Weise nach der Schwerkraft wie die Ausläuferspitzen ganzer Pflanzen. Zwar enthalten auch sie Amyloplasten, doch hat die Umkehr von oben und unten keinerlei Effekt. Nicht nur entstehen an den gleichen Stellen wie gewöhnlich ebenso viele frische Ausknospungen, sie sind auch von der gleichen Art, wie sie sonst gewesen wären – Wurzelstrukturen etwa entwickeln sich ausschließlich am früheren unteren Teil.
Steuerung des Wachstums
Noch immer ist unklar, was die Gerichtetheit der Regeneration bestimmt. Am wahrscheinlichsten hat die lebhafte Cytoplasmaströmung damit zu tun, die man in den Phylloiden schon bei leichter Vergrößerung unter dem Binokular gut sehen kann. Das Zellmaterial gleitet in schmalen Bahnen ziemlich parallel zur Längsachse des Phylloids fort, wobei nebeneinander ziehende Stränge gegenläufig fließen können. Darin könnten organbildende Substanzen gezielt transportiert werden – vielleicht mit ähnlicher Wirkung, wie wenn in höheren Pflanzen unzählige Zellen auf den Stofftransport in einer Richtung, zu den Blättern oder zur Wurzel hin, spezialisiert sind.
Wenn ein Fragment einer Caulerpa-Riesenzelle sich regeneriert, geschieht dies dermaßen geordnet und richtungsorientiert, daß es verblüffend an den gleichen, bekannten Vorgang bei vielzelligen Pflanzen gemahnt. Also fragten wir uns, ob wir auch hier Phytohormone – oder Pflanzenwachstumsregulatoren – finden würden, die solche Prozesse bei Vielzellern steuern. Damals wußte man nicht, ob Algen überhaupt solche Hormone haben. Besonders spannend war, gesetzt wir würden welche finden, ob sie denen höher entwickelter Pflanzen ähneln.
Ein typischer Pflanzenwuchsstoff ist das Hormon Indol-3-Essigsäure (IAA nach englisch indole-3-acetic acid); bei höheren Pflanzen hilft es zudem, die Regeneration zu kontrollieren. Mittels Gaschromatographie und Massenspektrometrie konnten wir kürzlich belegen, daß die Substanz auch in Caulerpa vorhanden ist. Schon früher hatten Ned Kefford und Arun Mishra von der Universität von Hawai in Honolulu, Clinton J. Dawes von der Universität von Süd-Florida in Tampa und Henry Augier von der Universität Aix-Marseille II (Frankreich) auf die Wachstumsmuster der Alge einwirken und ihr Wuchsverhalten stimulieren können, als sie dem Lebensmilieu die Säure zusetzten. Sie ist in der Riesenzelle also wirksam und wird offenbar auch von ihr selbst produziert.
Bei Vielzellern verteilt sie sich allerdings selektiv, das heißt, es bilden sich chemische Gradienten. Das scheint bei Caulerpa allem Anschein nach nicht zu geschehen: Wenn man radioaktiv markierte Indol-3-Essigsäure in die Spitze des Phylloids einbringt, mißt man bald überall entlang dem Cauloid eine gleich starke Strahlung, was sicherlich bedeutet, daß das Hormon sich gleichmäßig verteilt hat.
Eine andere Klasse von Wachstumshormonen etlicher vielzelliger Pflanzen sind die Gibberelline. Frühen Arbeiten zufolge soll man mit Extrakten von Caulerpa höhere Pflanzen zum Wachsen anregen können, gerade so wie mit reinen Gibberellinen. Mit einer massenspektrometrischen Analyse fand ich aber weder eines der bekannten Gibberelline noch einen Metaboliten. Es bleibt zu klären, ob Caulerpa vielleicht nur ein neues Hormon der Substanzklasse produziert – mehr als 70 sind bereits bekannt – oder aber einen Wirkstoff einer anderen Klasse, also von anderem chemischem Bau, der dennoch ähnliche Effekte hat.
Nach unserer Vorstellung könnten Wachstumsregulatoren bei Caulerpa in Wechselwirkung mit anderen Stoffen oder mit Organellen (Zelleinschlüssen im Cytoplasma wie Amyloplasten) wirken, deren Verteilung wechselt. Vielleicht veranlassen etwa die Amyloplasten, die sich an der Spitze eines austreibenden Cauloids im unteren Bereich anhäufen, die Rhizoidbildung erst gemeinsam mit einem Hormon. Dies könnte der Mechanismus sein, über den die Ausrichtung nach der Schwerkraft in eine lokalisierte Ausknospung umgesetzt wird.
Die Cytologie von Caulerpa ist inzwischen recht gut erforscht. Die lebhaften Cytoplasmaströmungen, die man bei Vergrößerung sieht, verlaufen hauptsächlich dicht an der Zellwand: Der verzweigte Algenschlauch ist innen rundum mit einer dünnen Schicht von Cytoplasma ausgekleidet, in dem sich außer zahlreichen kleinen Zellkernen auch Organellen wie Amyloplasten mitbewegen, die inzwischen fast alle bekannt sind und denen von höheren Pflanzen ähneln. Dazu gehören auch die Chloroplasten, mit denen die Alge Photosynthese betreibt. Das Innere der Riesenzelle nimmt eine große, mit Zellsaft gefüllte Vakuole ein, die sich in sämtliche Ausbuchtungen des Gewächses hineinwindet; wie bei vielen Zellen höherer Pflanzen nimmt die zentrale Vakuole den größten Teil des Zellraums ein.
Das einzig Ungewöhnliche, was das Lichtmikroskop enthüllt, sind zahlreiche kurze, eng miteinander vernetzte Verstrebungen, die in der Außenwand verankert sind und sich quer wie längs durch sämtliche Teile der Pflanze ziehen (Bild 1, ganz links). Janse hat in einem älteren Abschnitt eines Phylloids pro Quadratmillimeter 850 solcher Streben gezählt; an der Spitze waren es sogar fünfmal so viele. Diese Verstrebungen sind rundum in einen Mantel aus Cytoplasma gehüllt; das könnte teilweise ein Ausgleich für die geringere Fläche an Zellmembran sein, die Caulerpa im Vergleich zu vielzelligen Pflanzen zur Verfügung steht, um daran Cytoplasma anzuheften. Außerdem dürfte das Balkenwerk die riesige Zelle von innen her verstärken, praktisch wie ein stützendes Skelett. Des weiteren gibt es die These, daß diese Strukturen auch Verbindungskanäle zur Außenwelt darstellen, über die Stoffe ausgetauscht werden.
Im Elektronenmikroskop fand mein Mitarbeiter Dinkar D. Sabnis eine weitere Besonderheit: große Mengen von Mikrotubuli, dünnen Filamenten, von denen man weiß, daß sie bei normalen Zellen unter anderem am Aufbau des Zellskeletts beteiligt sowie für die Geißelbewegung verantwortlich sind und daß sie bei der Zellteilung die Chromosomen auseinanderziehen. Wie wir erkannten, liegen sie als gleichmäßige Schicht in dicken Bündeln in dem Cytoplasmaschlauch, der die Riesenzelle auskleidet (Bild 1, Mitte), und zwar gerade dort, wo die Strömung herrscht; alle weisen in dieselbe Richtung. Unsere Vermutung, daß sie etwas mit der Plasmaströmung zu tun haben dürften, haben inzwischen andere Forscher bestätigt. Dabei stellte sich auch heraus, daß die Mikrotubuli mit Actinfilamenten assoziiert sind, die auch an vielerlei Zellbewegungen mitwirken, unter anderem an der Muskelkontraktion bei Tieren.
Die Zellorganellen gleiten an den Mikrotubuli mit erstaunlicher Geschwindigkeit entlang. Axiale Bündel vereinen sich sogar und bilden im Zentrum der Zelle Wege für den Massentransport, die man selbst noch mit bloßem Auge erkennt. Versetzt man die Alge mit dem Alkaloid Colchicin, das sämtliche Vorgänge blockiert, an denen Mikrotubuli beteiligt sind, hört die Cytoplasmaströmung auf.
Wenn auch manche Frage noch offenbleibt – viele Rätsel des größten einzelligen Organismus, der so gänzlich den Gesetzen der Zellenlehre zu widersprechen scheint, sind nun aufgeklärt. Caulerpa kann sich trotz ihres eigenartigen Aufbaus, oder wohl eher gerade deswegen, offenbar gut gegen die vielzelligen Pflanzen behaupten, die ihr in ihrem Lebensraum Konkurrenz machen. In der Stärke des Wachstums nimmt sie es sogar mit vielen Landpflanzen auf. Sie ist auch robust genug und läßt sich so leicht vegetativ vermehren, daß eine der Arten bei den Philippinen bereits in Bassins als Salat gezüchtet wird.
Für viele Anpassungen hat die Schlauchalge im Prinzip ähnliche Lösungen gefunden wie höhere Pflanzen. Vor allem, wie sie sich aus Teilen komplett regeneriert, ist äußerlich teilweise verblüffend gleich. Weltweit ist die Gattung Caulerpa mit 73 Arten vertreten (Bild 5). Daß sie in tropischen Meeren alles andere als selten vorkommt, dürfte bedeuten, daß Einzelligkeit kein sonderlicher Nachteil sein muß.
Meines Erachtens läßt sich daraus lernen, daß in der Evolution mehr Wege gegeben waren, als man zunächst für möglich gehalten hatte. Was ließe sich mit einer Konstruktion wie der von Caulerpa wohl noch erreichen? Wie groß könnte diese starke, hochdifferenzierte Alge werden? Eigentlich spricht nichts gegen einen noch riesigeren Einzeller, solange er im Meer lebt, wo ihn das Wasser trägt und er auf das stützende Skelett von vielen Zellen verzichten kann.
Literaturhinweise
- Are Angiosperm Hormones Present in, and Used as Hormones by, Algae? Von William P. Jacobs in: Plant Growth Substances 1985. Herausgegeben von Martin Bopp. Springer, Heidelberg 1986.
– How Do Giant Plant Cells Cope with Injury? The Wound Response in Siphonous Green Algae. Von Diedrik Menzel in: Protoplasma, Band 144, Heft 2 und 3, Seiten 73 bis 91, 1. Juli 1988.
– The Relationship of Cell and Organism in Vascular Plants. Von Donald R. Kaplan und Wolfgang Hagemann in: Bioscience, Band 41, Heft 10, Seiten 693 bis 703, November 1991.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1995, Seite 44
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