Chaotische Weihnacht
Alle Jahre wieder bricht das Chaos aus. Keine Angst – kreativ genutzt und vor allen Dingen symmetrisch, kann es sogar schön sein.
Lorenz A. Traktor brachte seiner Familie zu Weihnachten eine besonders schöne Tanne nach Hause. Jeder Zweig war eine exakte verkleinerte Kopie des ganzen Baumes – ein perfektes, herrlich duftendes Fraktal!
Zu Hause herrschte, wie immer, das Chaos. Traktors Ehefrau Julia Menge hatte sich bei dem Versuch, rekursiven Truthahn nach einem Rezept ihrer Großmutter zuzubereiten, über und über mit Krümeln bedeckt: Truthahn, gefüllt mit Würstchen, gefüllt mit Miniaturtruthähnen, gefüllt mit noch kleineren Würstchen, gefüllt mit… Und beider Tochter Petra Ernestine rannte in der Küche mit einem großen Schmetterlingsnetz herum und schrie fortwährend: „Stoppt den Hurrikan!“
Vater Lorenz, der zwar Chaos ertragen konnte, aber nicht dieses Höllenspektakel, schimpfte: „Petra Ernestine, kannst du nicht still sein wie dein Bruder Ernst Peter?“
„Aber ich versuche doch nur den schlimmsten Schmetterlingseffekt zu verhindern“, erwiderte sie gehetzt.
„Was?“
„Du weißt doch, der Flügelschlag eines Schmetterlings in Japan kann einen Monat später einen Wirbelsturm in Brasilien auslösen.“
„Aber wir sind hier nicht in Japan. Und in Brasilien auch nicht.“
„Aber Vater! Du kannst nicht voraussehen, wo der Hurrikan zuschlägt oder auf welchen Schmetterling es ankommt. Ich kann also genausogut hier jagen.“
„Im Dezember?“
Petra Ernestine blickte ihn vernichtend an und wechselte das Thema. „Dürfen Ernst Peter und ich beim Schmücken des Weihnachtsbaums helfen? Er kann auf die Spitze klettern, und ich werfe ihm dann den Glasschmuck hoch.“
„Auf keinen Fall!“ schrie Julia aus der anderen Küchenecke.
„Aber Mama…“
„Laß uns ein paar Dekorationen basteln“, bat Ernst Peter.
„Ja“, stimmte seine Schwester ein, „wir nehmen uns einen Topf mit Leim und etwas Farbe und…“
„Wollt ihr nicht vielleicht erst ein paar Entwürfe machen?“ schlug Julia hastig vor. „Ihr habt doch ein neues Graphikprogramm für den Computer und einen Farbdrucker.“
„Wunderbar!“ schrie Ernst Peter. „Wir erfinden Chaos-Dekorationen für Weihnachten.“
„Na ja“, meinte Julia, „eigentlich hatte ich mir eher etwas hübsch Gemustertes vorgestellt, das man an den Baum hängen kann, Laternen oder Sterne oder so. Aber euch fällt bestimmt noch etwas Originelleres ein. Und wie wäre es mit einem ungewöhnlichen Geschenkpapier? Ich möchte ein chaotisches mit Muster.“
„Aber Mama! Du kannst doch aus Chaos nicht Ordnung schaffen.“
Julia seufzte. „Das versuche ich hier täglich aufs neue. Hinaus mit euch!“
Maulend stapften die Geschwister in die Dachkammer, wo der Computer stand. „Ordnung und Chaos im selben Muster“, murmelte Petra Ernestine. ,„So ein Quatsch. Mama will uns nur loswerden, damit wir ihr nicht im Weg stehen.“
„Das tun wir immer.“
„Also gut, wenn Mama zu Weihnachten Ordnung und Chaos zugleich will, dann soll sie das haben. Chaotische Muster... was fällt dir zu Mustern ein?“
„Tapeten. Gewöhnlich sind Blümchen darauf, zum Beispiel abwechselnd kleine und große Rosen, schön in Reih und Glied. Wir könnten an die Stelle jedes Blümchens ein Fraktal setzen, dann wären Ordnung und Chaos kombiniert.“
„Wäre aber ein bißchen gemogelt.“
„Ein Kaleidoskop“, dachte Ernst Peter weiter. „Die farbigen Glassplitter liegen wild durcheinander, aber die Spiegel machen ein regelmäßiges Muster daraus.“
„Tolle Idee! Das machen wir mit Chaosbildern auf dem Computer. Wo sind die fraktalen Postkarten? Ich scanne sie ein, und du programmierst die Spiegel.“
Die Kinder machten sich mit Eifer an die Arbeit, aber nach einer halben Stunde schob Ernst Peter die Postkarten zur Seite. „Nein, das sieht nicht gut aus. Das ist fast wie eine Tapeten – immer nur dasselbe Stückchen Chaos, vielfach aneinandergeklebt.“
„Ja, und außerdem kann man die Kanten sehen, wo Bild und Spiegelbild aneinanderstoßen. Wir brauchen einen Prozeß, der keine Grenzen erzeugt... Ich hab’s! Symmetrisches Chaos.“
„Nie gehört.“
„Es wurde erst kürzlich von Michael Field in Sydney und Martin Golubitsky in Houston erfunden. Es fängt an wie gewöhnliches Chaos. Man nimmt eine Abbildung der Ebene in sich, iteriert sie und schaut nach, wo die Punkte landen.“
„Du mit deiner geometrischen Ausdrucksweise. Du meinst, man wählt eine feste Regel, eine Formel, die aus einem Paar von Zahlen ein anderes macht. Dann wählt man ein Zahlenpaar, mit dem man anfängt, und wendet darauf die Regel an. Und auf das Ergebnis wendet man wieder die Regel an, und so weiter.“
„Du hast es mal wieder algebraisch ausgedrückt. Wenn man sich die Zahlenpaare als Punkte der Ebene denkt, kann man die Folge dieser Punkte auf dem Computerschirm darstellen. Die ersten paar hundert Punkte sind nicht so charakteristisch für das System, sondern mehr für den Anfangspunkt. Die zeichnen wir lieber nicht. Aber dann bildet sich allmählich eine Gestalt. Man nennt sie den Attraktor, denn einerlei, wo man beginnt, die Punkte werden von diesem Gebilde angezogen, und es kommt letztlich immer das gleiche Bild heraus“ (Spektrum der Wissenschaft, November 1993, Seite 46).
„Das kenne ich“, entgegnete Ernst Peter. „In einigen Fällen ist der Attraktor ziemlich langweilig, zum Beispiel ein einziger Punkt. Aber manchmal ergeben sich wundervoll unordentliche Figuren mit vielen kleinen und großen Details – eben Chaos!“
„Stimmt. Symmetrisches Chaos ist das gleiche, aber mit einem Zusatztrick: Man wählt die Abbildung symmetrisch.“
Symetrische Gegenstände und Abbbildungen
„Ich weiß, wann ein Gegenstand symmetrisch ist, aber eine Abbildung?“ „Na gut, fangen wir mit dem herkömmlichen Symmetriebegriff an. Eine Symmetrietransformation eines Gegenstands ist eine Bewegung mit der Eigenschaft, daß das Ding hinterher genauso aussieht wie zuvor. Du kannst ein Quadrat um die Winkel 0, 90, 180 oder 270 Grad drehen, und wenn ein Beobachter dir dabei den Rücken zuwendet, kann er hinterher keine Veränderung sehen.“ „Wie steht es mit 360 Grad?“ „Das hat dieselbe Wirkung wie Nichtstun. Jeder Punkt des Quadrats kommt wieder da an, wo er vorher war.“ „Symmetrietransformation. Langes Wort.“ „Ja; meistens spricht man einfach von Symmetrien. Quadrate haben noch vier weitere, nämlich Spiegelungen an der senkrechten und der waagerechten Achse und den beiden Diagonalen. Das macht zusammen acht Symmetrien.“ „Alles klar.“ „Nehmen wir nun an, wir haben eine Abbildung der Ebene in sich, also eine Regel, die jedem Punkt einen bestimmten anderen Punkt zuordnet. So könnte die Regel darin bestehen, daß die x-Koordinate zur dritten Potenz genommen wird und die y-Koordinate auch. Das würde man schreiben: . Wenn ich diese Regel auf jeden Punkt zum Beispiel eines Dreiecks anwende, bekomme ich ein Bild des Dreiecks; meistens ist es krumm und verzerrt.“ „Auch gut.“ „Wenn ich sage, daß solch eine Abbildung eine Symmetrie hat, meine ich, daß symmetrisch liegende Punkte symmetrisch liegende Bildpunkte haben.“ „Hä?“ „Angenommen, die Symmetrie ist die Drehung um 90 Grad, und ich wende die Abbildung auf irgendeinen Punkt P an. Nennen wir den Bildpunkt, der dadurch entsteht, P'. Andererseits drehe ich P um 90 Grad und erhalte so einen Punkt Q. Auf den wende ich die Abbildung an und erhalte Q'. Ich will, daß Q' zu P' dieselbe Symmetriebeziehung hat wie Q zu P, in diesem Falle, daß Q' durch Drehung um 90 Grad aus P' hervorgeht. Wenn das für alle möglichen Punkte P gilt, dann sage ich, die Abbildung habe eine Drehsymmetrie um 90 Grad.“ „Puuh. Hast du ein Beispiel parat?“ Petra dachte nach. „Nehmen wir einfach die Potenz-Abbildung von eben, also , und sehen nach, ob sie die Symmetrien des Quadrats hat. Wenn P der Punkt (x,y) ist, dann hat P' die Koordinaten . Die Drehung um 90 Grad um den Nullpunkt ist auch eine Abbildung, und zwar bildet sie (x,y) auf (y,-x) ab. Das ist Q. Dann bildet die Potenz-Abbildung Q auf Q' ab, und dieser Punkt hat die Koordinaten (|. Ist Q' das Resultat der Drehung von P' um 90 Grad? Nun, wenn wir P' um 90 Grad drehen, erhalten wir . Und das ist das gleiche wie Q', denn ist gleich . Also hat die Abbildung eine Drehsymmetrie um 90 Grad.“ „Ach so. Aber wenn du eine Abbildung wie betrachtest, dann erhältst du keine Drehsymmetrie, denn ist nicht dasselbe wie .“ „Genau.“ „Hat denn nun diese Potenz-Abbildung die Symmetrie des Quadrats?“ „Wissen wir noch nicht. Dazu müßten wir alle entsprechenden Symmetrien überprüfen, nicht nur eine. Wenn die Abbildung zum Beispiel eine Spiegelsymmetrie haben soll, muß aus einem Paar spiegelbildlicher Punkte eines mit derselben Eigenschaft werden, und zwar bezüglich derselben Spiegelungsachse. Zum Beispiel bildet die Spiegelung an der y-Achse (x,y) auf (-x,y) ab. Du kannst nachprüfen, daß unsere Potenz-Abbildung auch diese Symmetrie hat.“ „Aha. Und wenn es um drei- oder fünfzählige Symmetrien geht, wie bei einem gleichseitigen Dreieck oder dem Fünfstern, gilt dann das gleiche für Drehungen um 120 oder 72 Grad?“ „Du sagst es“, bestätigte Petra Ernestine. „Allerdings werden die Formeln für die Abbildungen komplizierter, wenn die Drehwinkel keine rechten Winkel sind. Nehmen wir nun an, du iterierst eine symmetrische Abbildung. Wenn dann noch, wie häufig, der zugehörige Attraktor chaotisch ist, erhältst du allerhand nette Unordnung. Aber du müßtest auch einige Effekte der Symmetrie sehen. Tatsächlich ist der Attraktor oft selbst symmetrisch. Wenn die Abbildung zum Beispiel eine fünfzählige Symmetrie hat, erhältst du Attraktoren, die wie fünfzackige Sterne aussehen, aber mit vielen symmetrisch angeordneten chaotischen Einzelheiten.“
Symetrische Attraktoren
„Du sagtest, oft ist der Attraktor symmetrisch. Warum nicht immer?“
„Nun, manchmal erhält man mehrere einzelne, symmetrisch gelegene Attraktoren, zum Beispiel fünf gleiche, spiegelsymmetrische Attraktoren an den Ecken eines regelmäßigen Fünfecks. Wenn es nur einen Attraktor gibt, was oft der Fall ist, dann muß er symmetrisch sein.“
„Gut, aber was bringt uns das?“ wollte Ernst Peter wissen.
„Field und Golubitsky haben noch etwas gemacht. Sie haben gezählt, wie oft jede Stelle des Attraktors von dem iterierten Punkt getroffen wird, und dann das Bild entsprechend eingefärbt. Sagen wir, du nimmst Rot für Stellen, die zwischen ein- und hundertmal vorkommen, Blau für solche, die zwischen einhundertein- und zweihundertmal getroffen werden, und so weiter. Die Farbgebung zeigt dann an, wie wahrscheinlich es ist, einen Punkt im Verlauf seiner Iteration in der Nähe dieser Stelle anzutreffen. Dabei entstehen schöne symmetrische und chaotisch gefärbte Bilder. Sie sind wie Chaos im Kaleidoskop, aber weil die Symmetrie in die Abbildung eingebaut wurde, sieht man keine störenden Kanten – ein Chaoleidoskop sozusagen.“
„Laß es uns ausprobieren. Wie sieht die Formel für die Abbildung aus?“
„Ich muß nachschauen. Sie ist ein bißchen kompliziert“ (siehe Kasten).
Mehrere Stunden vergingen, während die Geschwister vielfarbige chaotische Muster erzeugten. Anders als beim Kaleidoskop bestanden sie nicht aus vielen Kopien eines Originals, das um diverse Winkel gedreht oder an diversen Achsen gespiegelt wurde; die Formen tauchten allmählich aus der Dunkelheit auf wie Bäume aus dem Nebel. Es schien durch den Zufall bestimmt, wo der jeweils nächste Punkt hingeriet – aber irgendwie schien die Abbildung zu wissen, daß ihr Attraktor symmetrisch sein mußte (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, September 1991, Seite 12).
„Oh, die sind aber hübsch“, sagte ihre Mutter. „Könnt ihr mir auch Geschenkpapier auf diese Art machen?“
„Sicher. Field und Golubitsky nennen sie ,Quilts‘. Das sind chaotische Attraktoren mit Tapetenmuster-Symmetrie – einer Gittersymmetrie, bei der man das Bild durch Verschieben wieder mit sich zur Deckung bringen kann. Sie können außerdem Dreh- und Spiegelsymmetrien haben, wenn du willst. Man macht sie auf dieselbe Weise, aber man muß dazu Abbildungen mit Tapetenmuster-Symmetrie verwenden. Und man muß mehrere Kopien des gleichen Musters nebeneinander sehen, damit es gut wirkt.“
Lorenz A. Traktor staunte. „Ich hätte nicht gedacht, daß man Ordnung und Chaos in demselben Objekt verbinden kann. Und ganz gewiß hätte ich nicht erwartet, daß es so schön aussieht. Wollen wir jetzt den Baum schmücken?“
Die Kinder sprangen auf, griffen sich einen Karton voller Papierdekorationen und rannten nach unten. Als ihre Eltern sie eingeholt hatten, sahen sie den Weihnachtsbaum unter einer Wolke bunter Papierschnipsel verschwinden.
Julia sah ihren Mann vielsagend an. „Nun ja“, bemerkte der trocken, „das Chaos hat seinen eigenen ästhetischen Reiz…“
Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1993, Seite 12
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben