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Chemie aus dem Computer

Den diesjährigen Nobelpreis für Chemie erhalten der Physiker Walter Kohn und der Chemiker John A. Pople für die Entwicklung von Näherungsverfahren zur Lösung der Schrödingergleichung für Moleküle.


Neue chemische Verbindungen mit ungewöhnlichen Eigenschaften zu synthetisieren und experimentell zu untersuchen – das ist die hohe Kunst moderner Chemie. Und dennoch: manche Substanzen entziehen sich hartnäckig der Charakterisierung im Experiment. Oft bleibt sogar im dunkeln, zu welchen Strukturen sich die beteiligten Atome verbinden und welche Prozesse auf molekularer Ebene ablaufen. Dann helfen Rechenverfahren der sogenannten Quantenchemie weiter, die es ermöglichen, Moleküle theoretisch mit Hilfe von Computern zu untersuchen.

Löste man die scheinbar einfache zeitunabhängige Gleichung, für deren Aufstellung Erwin Schrödinger (1887 bis 1961) bereits 1933 den Physik-Nobelpreis erhielt, für ein molekulares System, ergäbe sich dessen Energie und seine Wellenfunktion, die alle seine meßbaren Eigenschaften bestimmt. Waren mit der Aufstellung der Schrödingergleichung also alle Probleme der Chemie gelöst, wie der britische Physiker Paul Dirac (1902 bis 1984; ebenfalls 1933 Nobelpreis in Physik) einmal anmerkte? Keineswegs, denn die Lösung dieser Gleichung zu finden, erwies sich zunächst als nahezu aussichtslos.

Tatsächlich brauchten die Quantenchemiker mehrere Jahrzehnte, um wirklich allgemein anwendbare Lösungsverfahren zu entwickeln. Heute gibt es Computerprogramme, die Strukturen, Eigenschaften und Reaktionsweisen von Molekülen berechnen, ohne viel mehr zu benötigen als Informationen über die an einer Verbindung beteiligten Atome und ihre Elektronen. Genauer gesagt ermitteln die quantenchemischen Verfahren die Energie von Atomanordnungen und suchen sie solange zu verringern, bis eine oder – falls es sich um eine Verbindung mit Isomeren handelt – mehrere Gleichgewichtsstrukturen gefunden wurden. Einige Rechenverfahren liefern auch Vorhersagen von Infrarot- oder kernmagnetischen Resonanz-Spektren; durch Vergleich mit experimentell bestimmten läßt sich die berechnete Molekülstruktur überprüfen.

All diese quantenchemischen Verfahren beruhen auf Näherungen, die zwar physikalisch begründet sind, deren Tauglichkeit und Fehlergrenzen aber überwiegend empirisch ermittelt werden. Die beiden Nobelpreisträger, der Physiker Walter Kohn, derzeit an der Universität von Kalifornien in Santa Barbara, und der Chemiker und Mathematiker John A. Pople, derzeit an der Northwestern-Universität in Evanston (Illinois), haben hier Bahnbrechendes geleistet. Obwohl der Rechenaufwand mit zunehmender Anzahl der Atome nichtlinear anwächst – bei Verdopplung theoretisch um das 16-fache, dank einiger Kunstgriffe nur um den Faktor vier bis fünf – können heute bereits molekulare Systeme mit mehr als 100 Atomen berechnet werden, also ein Größenbereich zwischen kleinen Molekülen in der Gasphase und der ausgedehnten flüssigen oder festen Phase (Bild 1); auch die Lösungsmittelmoleküle um einen Stoff herum lassen sich explizit einbeziehen.

Eine Reihe wichtiger Entwicklungen sind zu nennen, um die Leistungen der nun Gewürdigten besser einordnen zu können. Ende der zwanziger Jahre gelang es dem britischen Mathematiker und Physiker Douglas R. Hartree (1897 bis 1958) und dem sowjetischen Physiker Wladimir A. Fock (1898 bis 1974) durch einen speziellen Ansatz für die Wellenfunktion die prinzipiell unlösbare Schrödingergleichung für ein Atom oder Molekül mit n Elektronen in n Gleichungen für jeweils ein Elektron aufzuspalten. Obwohl die Anwendbarkeit dieser, nach Hartree und Fock benannten Gleichungen zunächst auf einzelne Atome beschränkt blieb, ist ihre Grundstruktur auch heute noch in den modernsten Rechenverfahren erhalten geblieben.

Seit den fünfziger Jahren prägte die Entwicklung immer leistungsfähigerer Computer das Vorgehen. Die Hartree-Fock-Gleichungen eines Moleküls enthalten aber Differentiale wie auch Integrale von Wellenfunktionen, eine für numerische Berechnungen wenig geeignete Form. C. C. J. Roothan, damals an der Universität Chicago, griff 1951 die Idee auf, daß man die Wellenfunktionen, welche die Bewegung eines Elektrons im gesamten Molekül beschreiben, aus den einfacheren und bekannten Wellenfunktionen der Elektronen der beteiligten Atome zusammenbauen kann. Damit ergibt sich ein für Computer leichter zu verarbeitendes System gewöhnlicher Gleichungen. Ein weiterer entscheidender Schritt war, die Wellenfunktionen der Atome durch mehrere Gaußfunktionen anzunähern.

Auf dieser Basis berechneten der britische Mathematiker S. F. Boys in Cambridge und Heinz-Werner Preuß von der Universität Stuttgart um 1960 erstmals mehratomige Moleküle ab initio, das heißt allein anhand quantenmechanischer Grundprinzipien. Die zur Lösung der Gleichungen unvermeidbaren Näherungen erforderten allerdings eine Eichung anhand experimenteller Ergebnisse. Hinzu kam, daß das Ergebnis der Berechnungen von Zahl und Art der verwendeten Gaußfunktionen – dem sogenannten Basissatz – abhängt. Im Prinzip ließe er sich zwar beliebig vergrößern, um den Fehler der Näherung zu minimieren, doch dann steigt der Rechenaufwand nichtlinear an. Hier liegen die Verdienste von Pople, der mit seinen Mitarbeitern an der Carnegie-Mellon-Universität in Pittsburgh (Pennsylvania) das modular aufgebaute und einfach zu benutzende Computerprogramm GAUSSIAN70 entwickelte, mit dem anwendungsorientierte Chemiker ohne eigene langwierige Programmierung solche Rechnungen durchführen konnten. Die seit etwa Anfang der siebziger Jahre allgemein verfügbare Software enthielt eine Reihe von Standard-Basissätzen, welche die empirische Bewertung der Zuverlässigkeit quantenchemischer Näherungen erleichterten. Diese beiden Aspekte – Verfügbarmachen methodischer Entwicklungen für einen breiten Anwenderkreis und Standardisierung quantenchemischer Näherungen – blieben Poples Markenzeichen, und dafür wurde er nun ausgezeichnet.

Die oben erwähnte Hartree-Fock-Näherung war lange Zeit das Arbeitspferd der Quantenchemie. Es zeichnete sich jedoch bald ab, daß der Genauigkeit Grenzen gesetzt sind, und daß bei einigen wichtigen Phänomenen die Ergebnisse sogar falsch sind. Die einzelnen Elektronen eines Atoms getrennt zu behandeln vernachlässigt nämlich einen Teil der Wechselwirkungen zwischen ihnen, die sogenannte Elektronenkorrelation. Die Berechnung der damit verbundenen Energie ist zwar im Prinzip möglich, doch benötigt man die genaue Wellenfunktion des Moleküls in Abhängigkeit von allen n Elektronen; der Rechenaufwand nimmt dann exponentiell mit der Größe des Systems zu.

Der zweite diesjährige Nobelpreisträger, Kohn, hatte 1964 gezeigt, daß sich die Gesamtenergie eines Moleküls – einschließlich des Anteils der Elektronenkorrelation – aus der Elektronendichte ableiten läßt. Die beschreibt die räumliche Verteilung dieser Elementarteilchen und ist mathematisch viel einfacher als die Wellenfunktion. Somit kann man die Energie als Funktional schreiben: als Funktion einer Funktion; daher der Name "Dichtefunktionaltheorie".

Zwei Probleme blieben. Der Zusammenhang zwischen Energie und Dichte ist für Moleküle nicht bekannt, sondern nur für den einfachen Fall einer gleichmäßigen Verteilung der Elektronen im Raum; man spricht dann vom homogenen Elektronengas. Um überhaupt zu praktischen Lösungen zu gelangen, benutzte man als Näherung diesen Ausdruck auch für Moleküle. Unklar war auch die Berechnung der Elektronendichte. Kohn und L. J. Sham lösten dieses Problem, indem sie insbesondere einen mathematischen Ausdruck benutzten, der sich aus dem Ansatz von Hartree und Fock für die Wellenfunktion ergibt. Ihre Gleichungen sind denen der beiden anderen Wissenschaftler ganz ähnlich und mit denselben Methoden zu lösen. Eine ähnliche Modifikation hatte bereits Anfang der fünfziger Jahre John C. Slater vorgeschlagen.

Während die Festkörperphysiker die Kohn-Sham-Gleichungen anwandten, blieben viele Quantenchemiker zunächst reserviert. Denn erste Programme verwendeten keine Gaußfunktionen und enthielten zum Teil auch weitere Näherungen, so daß ein direkter Vergleich mit anderen Verfahren erschwert war. Hinzu kam, daß manche Versprechungen hinsichtlich Rechenzeit und Qualität der Resultate zu hoch gegriffen waren. Vor allem aber ließ sich das für ein homogenes Elektronengas abgeleitete Funktional nicht systematisch verbessern.

Erst als anspruchsvollere Dichtefunktionale zur Verfügung standen, änderte sich diese Einstellung, und Pople und seine Mitarbeiter haben als erste diesen Ansatz in "konventionelle" quantenchemische Software integriert. Durch systematische Untersuchungen verschiedener Funktionale in Kombination mit verschiedenen Basissätzen sorgten sie auch hier für eine Standardisierung (Bild 1).

Die Entwicklung neuer Methoden in der Quantenchemie schreitet – ebenso wie die Softwareentwicklung – auch heute weiter voran. "Computational Chemistry"-Programme sind längst zu kommerziellen, jedermann zugänglichen Produkten gereift; einige lassen sich bereits auf Personal Computern betreiben. Sie helfen oft, bestimmte Informationen mit vorgegebener Genauigkeit billiger und schneller als durch Messungen zu erhalten. So sind die aktiven Zentren von Feststoffkatalysatoren oft so dünn gesät und ungeordnet, daß eine experimentelle Strukturbestimmung schwierig oder gar unmöglich wäre (Bild 2). Von größtem Nutzen ist die Quantenchemie aber dort, wo die interessierenden Moleküle zu kurzlebig, instabil oder gefährlich für Experimente sind – oder erst in den Köpfen von Chemikern und Pharmazeuten existieren.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1998, Seite 24
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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