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Cholesterin: Das Scheitern eines Dogmas


Ob der Autor sich den überspitzten Titel nach dem Schema "Einzelkämpfer entlarvt Establishment" wohl selbst ausgedacht hat?

Der erste Eindruck täuscht. Im Buch definiert der Mediziner und Sozialepidemiologe Dieter Borgers sein Thema sorgfältiger: "Die Kritik an einem molekülbezogenen Reduktionismus, der sich in Massenmedikation und in cholesterin-freien Warenformen manifestiert, wird von mir zu einer These von der mangelnden Effizienz der individual-medizinisch orientierten Prävention von Herz-Kreislauf-Krankheiten zugespitzt" (Seite 19).

Dabei bestreitet Borgers gar nicht den "epidemiologisch immer wieder nachgewiesene[n] Zusammenhang von Cholesterinspiegel mit koronarer Herzerkrankung und Herzinfarkt" (Seite 54). Er warnt aber davor, die Arteriosklerose-Entwicklung nur unter dem Gesichtspunkt der Cholesterin-Zufuhr zu betrachten und das therapeutische Heil allein in einer Senkung der Aufnahme dieses lebensnotwendigen Moleküls und in der breit gestreuten Verordnung cholesterin-senkender Medikamente zu suchen.

Besonders originell ist dieser Standpunkt nicht. Er wird von der weit überwiegenden Mehrheit der Schulmediziner geteilt. So empfehlen die in der Arteriosklerose-Prävention besonders engagierten Fachgremien wie die European Atherosclerosis Society, die Deutsche Gesellschaft für Herz- und Kreislaufforschung, die Deutsche Diabetes-Gesellschaft, die Deutsche Gesellschaft für Ernährung und die Akademie für Ernährungsmedizin übereinstimmend eine gemäßigt vegetarische Ernährung vom Typ der sogenannten Mittelmeerdiät (viel frisches Obst und Gemüse, Olivenöl, Seefisch, reichlich Teigwaren und wenig gesättigte Fettsäuren sonstiger tierischer Herkunft), den Verzicht auf inhalatives Zigarettenrauchen, eine konsequente Blutdruck- und Diabetes-Einstellung sowie mehr körperliche Aktivität, also ein Vorbeugungsprogramm mit vielen Facetten.

Der Autor ist fair: Er verzichtet zum Beispiel ausdrücklich darauf, die Kosten einer breit gestreuten Lipidsenker-Verordnung zu bewerten, was seine Thesen hätte kräftig stützen können. Er hebt auch nicht allzu pointiert hervor, daß nach prospektiven Untersuchungen diese Medikamente ihre Konsumenten recht erfolgreich vor dem Tod durch Koronarsklerose bewahren, ihr Leben im Durchschnitt jedoch nur unwesentlich verlängern (der Schwerpunkt der Todesursachen verschiebt sich – grob gesprochen – nur in Richtung Krebs und Verkehrsunfall). Mit großem Fleiß hat Borgers die zahlreichen einschlägigen Untersuchungen zusammengetragen.

Seine These, daß die individuelle Bekämpfung eines pathogenetischen Prinzips eine Krankheit nicht allein besiegen könne, erläutert Borgers eindrucksvoll an den Beispielen Tuberkulose und Karies. Die Entdeckung des Tuberkel-Bazillus durch Robert Koch und die Entwicklung wirksamer Medikamente zu dessen Bekämpfung haben die Sterblichkeit an der als Schwindsucht gefürchteten Volkskrankheit weniger gesenkt als die Verbesserungen der Lebensbedingungen und der persönlichen Hygiene, wozu auch gehört, daß das Ausspucken in der Öffentlichkeit allgemein verpönt wurde.

Die Massenerkrankung Karies entsteht durch Bakterien; und doch verhindern weder Impfung noch Desinfektion oder die Gabe von Antibiotika die dadurch verursachte Zerstörung des Zahnschmelzes. Wir haben sie der erheblichen Zunahme des Zuckerkonsums, also einem sozialen Phänomen, zu verdanken. Der Autor empfiehlt die Fluoridierung des Trinkwassers als "quasi natürliche primär-präventive Maßnahme".

Ebensogut hätte er das Beispiel des Diabetes heranziehen können: Die Entdeckung des Insulins und die Entwicklung verschiedener blutzuckersenkender Tabletten hatte nämlich zum Beispiel in Großbritannien die Diabetes-Mortalität viel weniger verringert als – zu anderen Zeiten – die mit den beiden Weltkriegen und der U-Boot-Blockade verbundene Einschränkung der Kalorienzufuhr.

Ein kritisches Buch muß kritisch gelesen werden. Und dabei fällt hier einiges auf. So wirft Borgers den Auswertern einer Zehnjahres-Gemeinschaftsstudie der Lipid Research Clinics (einer Gruppe nordamerikanischer Kliniken) von 1979 vor, die Beweisregeln nachträglich geändert zu haben (Seite 27). Er selbst läßt aber nicht erkennen, nach welchen Kriterien er die Resultate der zahlreichen epidemiologischen Untersuchungen zum Cholesterin-Problem entweder als signifikant ins Töpfchen oder als nicht signifikant ins Kröpfchen einsortiert. Es entspricht meines Erachtens auch nicht mehr dem Stand der Diskussion, sich praktisch auf das Gesamt-Cholesterin zu beschränken und die Differenzierung in das "schädliche" LDL (low-density lipoprotein) und das "koronarprotektive" HDL 2 (high-density lipoprotein) nur am Rande zu streifen. Die Einstufung des Morbus Addison, einer Nebennieren-Unterfunktion, als "Hormon-Überfunktion" (Seite 59) hätte spätestens dem Korrektor auffallen müssen.

Der Stil ist streckenweise sehr unausgegoren. Ich zitiere als Beispiel den abschließenden Satz des Büchleins: "Die Adäquatheit eines solchen Ansatzes muß jedoch vor dem Hintergrund anderer präventiver Möglichkeiten und im Zusammenhang mit gesundheitspolitischen Schwerpunkt-Setzungen erfolgen."

Trotzdem: Man sollte dieses Buch lesen, gerade weil es etwas gegen den Strom schwimmt. Die Vorteile einer Behandlung mit Lipidsenkern werden in der Boulevardpresse oft genug gepriesen und dem praktizierenden Mediziner von den Pharmaherstellern immer wieder durch Sonderdrucke einschlägiger Originalarbeiten nahegebracht. Und geplante Präventionsmaßnahmen für breite Bevölkerungskreise müssen wirklich unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten – nicht nur solchen finanzieller Natur – immer wieder sorgfältig geprüft werden. Da kann man vom bibliographischen Fleiß des Autors profitieren und sein Gesichtsfeld in Richtung Vorbeugung und Sozialmedizin erweitern.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1994, Seite 136
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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