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Cluny. Architektur als Vision

Braus, Heidelberg 1993.
104 Seiten, DM 68,-.

Dieses Buch illustriert an einem konkreten Projekt den Einsatz von Computergraphik im Bereich der Kunstgeschichte.

Cluny, eine französische Kleinstadt im Tal der Grosne, war im Mittelalter Sitz eines großen und mächtigen Benediktinerklosters und ist auch heute noch Pilgerstätte für Christen aus ganz Europa. In der Blütezeit seiner Macht im 11. Jahrhundert spielte Cluny eine wichtige Rolle in der Auseinandersetzung zwischen dem Papsttum einerseits und den weltlichen Herrschern, vor allem den Salier-Kaisern, andererseits.

Im Rahmen einer mehrteiligen Dokumentation des Südwestfunks Baden-Baden über die Salier wollte der Drehbuchautor, der Kunsthistoriker Ulrich Best, dem Fernsehzuschauer einen Eindruck von diesem Gegenpol der Macht vermitteln, repräsentiert durch seine riesige Klosterkirche, die jedoch in der Folge der Französischen Revolution bis auf die Grundmauern abgerissen worden war. So entschloß sich der Südwestfunk auf Initiative von Horst Cramer, dem Leiter der Abteilung Kooperation und Entwicklung, zu einem bis dahin noch nicht oft unternommenen Vorgehen: zur Rekonstruktion des geschichtsträchtigen Bauwerks mit Mitteln der virtuellen Realität. Beauftragt wurde ein Bensheimer Architekturbüro unter Leitung von Manfred Koob, der über langjährige Erfahrung im Einsatz von Computer Aided Design (CAD) für Büro- und Industriebauten verfügte und von der neuen Aufgabe begeistert war.

Im vorliegenden Buch liefern Horst Cramer und der Jurist und Kirchengeschichtler Karl J. Svoboda zunächst den geschichtlichen Kontext: Sie berichten über die Gründung des Klosters, den Bau der bis dahin größten Klosterkirche der Christenheit, die machtpolitische Rolle des Ordens, das Klosterleben selbst und den Investiturstreit. Ulrich Best beschreibt des weiteren, wie wunderbar es auf die Menschen der damaligen Zeit wirken mußte, wenn sie das Kloster mitsamt seiner Kirche das erste Mal zu Gesicht bekamen. Der Leser soll förmlich in die Vergangenheit eintauchen, um die Faszination des monumentalen Bauwerks spüren zu können. Dies gelingt weniger durch die Texte als durch zahlreiche historische Skizzen, zeitgenössische Zeichnungen und stimmungsvolle Photographien vom heutigen Cluny, aufgenommen von Werner Richner.

Der zweite Teil informiert über die Computerrekonstruktion, aus der schließlich ein vierminütiger Kurzfilm hervorging. Als Arbeitsgrundlage wählten die Architekten ein kommerzielles Software-Paket. Die Herausforderung lag nun darin, diese auf die Zweckbauten unserer Tage ausgerichtete Programmsammlung für den virtuellen Wiederaufbau eines historischen Gebäudes zu verwenden.

Die Klosterkirche war von äußerst komplexer Struktur, ihre Beschreibung erforderte also eine große Menge Daten. Die aber standen nur sehr mangelhaft zur Verfügung; beispielsweise fehlten exakte Grund- und Aufrißzeichnungen. Deshalb wurden zunächst elementare Bauteile anhand des spärlichen kunsthistorischen Materials klassifiziert und in Grund- und Aufriß dargestellt. Danach erst konstruierten die Architekten Computernachbildungen dieser Bauteile, indem sie die dreidimensionalen Elementarkörper wie Kegel, Kugel, Quader und Zylinder, die das Software-Paket zur Verfügung stellt, durch Vereinigung, Differenzbildung und Verschneidungen geeignet zusammenfügten. Innerhalb der virtuellen Realität des CAD-Programms bauten sie diese Teile zu größeren Baugruppen zusammen und setzten sie an ihren Bestimmungsort. Am Ende wurde dadurch das altehrwürdige Bauwerk wieder sichtbar und – virtuell – begehbar.

Kann eine solche Rekonstruktion mittels eines – im kunsthistorischen Sinne – unangepaßten Systems exakt sein? Kann man arabische Kuppeldächer, gotische Gewölbe und komplizierte Baldachine ebenso einfach wie Spitzbögen und Säulen aus einer endlichen Abfolge von Grundoperationen auf der Menge dieser Elementarkörper rekonstruieren? Koob ist davon überzeugt; ich bezweifle es. Jedenfalls ist ihm eine eindrucksvolle Näherung gelungen.

Wer genauer hinschaut, entdeckt, daß die Bilder nicht mehr gänzlich dem Stand der Technik entsprechen. So gibt es keine realitätsgetreuen Schattenwürfe, weil die Autoren nicht die Wege virtueller Lichtstrahlen im einzelnen nachrechnen ließen (zum sogenannten ray tracing vergleiche Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1991, Seite 128). Die Oberflächeneigenschaften des verbauten Steins hätte man durch texture mapping präziser wiedergeben können. Es muß auch nicht erkennbar sein, daß jede Oberfläche in der internen Darstellung aus ebenen Teilflächen besteht. Wenn man eine Teilfläche nicht einheitlich (flat shading), sondern Punkt für Punkt entsprechend der virtuellen Einfallsrichtung des Lichtes einfärbt (Phong shading), wirken beispielsweise Säulen und Apsiden nicht gekachelt, sondern so rund wie die echten. Schließlich hätte man die Zackigkeit schräger Linien, die durch die Pixeldarstellung entsteht, durch sogenanntes Anti-Aliasing glätten können.

Diese Mängel sind allerdings auf den damaligen Entwicklungsstand der Software zurückzuführen. Sie wurden von den Autoren auch bewußt in Kauf genommen. Es kam ihnen gar nicht darauf an, neue Darstellungs- oder gar Konstruktionsmethoden zu entwickeln, sondern dem Leser durch die zahlreichen, zum Teil ästhetisch sehr ansprechenden Abbildungen zu demonstrieren, was der Einsatz von Computern und die Schaffung von virtuellen Realitäten auch und gerade in der Kunstgeschichte zu leisten vermögen.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1996, Seite 130
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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