Kryptologie: Codebreakers - Arne Beurling and the Swedish Crypto Program during World War II
Aus dem Schwedischen von Kjell-Ove Widman. American Mathematical Society, Providence (RI) 2003. 259 Seiten, $ 39,–
Dieses Buch enthüllt eine der größten Leistungen der Kryptologie-Geschichte. Dass die Alliierten während des Zweiten Weltkriegs die deutsche Chiffriermaschine Enigma entziffert haben, ist seit 1975 bekannt (Spektrum der Wissenschaft 6/1999, S. 26). Dass aber auch die Schweden überragende Entzifferungserfolge hatten, ist bislang von der schwedischen Regierung geheim gehalten worden. Während bei den Alliierten ein großes, internationales Team den Erfolg errang, war es hier ein Mann allein: der geniale Mathematiker Arne Beurling. Das Buch beschreibt sein Leben und seine wichtigste Leistung, die Entzifferung der deutschen Chiffriermaschine "G-Schreiber".
Die korrekte deutsche Bezeichnung ist "Siemens-Fernschreib-Geheimzusatz T-Typ 52". Das Gerät verschlüsselte die aus dem Fernschreiber strömenden 5-Bit-Zeichen, indem sie diese zunächst zu den aus einem Quasi-Zufallsgenerator strömenden Bits nach der XOR-Regel (1+0=0+1=1, 1+1=0+0=0) addierte. Die Bits des so entstandenen Zeichens wurden dann – ebenfalls nach Maßgabe des Quasi-Zufallsgenerators – permutiert, dasheißt in ihrer Reihenfolge vertauscht. Dieser Generator war ein Stiftradsystem aus zehn Rädern. Die Deutschen hielten die T-Typ 52 für sicher, und das mit einem gewissen Recht, denn schon die Periode des Schlüsselgenerators betrug etwa 1018, die Gesamtzahl der möglichen Schlüsseleinstellungen sogar mehr als 10220.
Beurling kannte diese Einzelheiten nicht. Zu Beginn des Krieges war der Fernschreiber, und erst recht die Fernschreib-Verschlüsselung, in Schweden noch weitgehend unbekannt. Schließlich handelt es sich um eine typisch deutsche (sprich Siemens-)Entwicklung. Aber Beurling hatte, wie er schrieb, mächtige Verbündete, nämlich die Deutschen selbst. Erstens sendeten die Operatoren, weil sie im Umgang mit dem neuen Medium noch zu ungeschickt waren, fast ausnahmslos Fernsprüche mit stereotypen Anfängen. Zweitens lief der Fernmeldeverkehr zwischen Deutschland und Norwegen durch schwedische Kabel, sodass die dortige Fernmeldeaufklärung eine riesige Zahl von Meldungen erfassen konnte. Schon erste Analysen erbrachten immer wieder Pakete von Geheimtexten, für die derselbe Schlüssel verwendet worden war.
Hätte sich die Verschlüsselung der
T-Typ 52 auf die XOR-Addition beschränkt, so hätte bereits die geeignete Subtraktion zweier solcher schlüsselgleicher Geheimtexte wertvolle Aufschlüsse geliefert. Um jedoch auch die nachfolgende Substitution zu brechen, hätte man mindestens hundert Stück benötigt. Und ein so großes Paket kann auch in dem reichhaltigen Material der Schweden nur sehr selten vorgekommen sein.
Beurling stützte sich daher allein auf die Auswertung der stereotypen Anfänge von schlüsselgleichen Sprüchen. Durch Vergleiche, Subtraktionen, erneute Vergleiche und Zuordnungen gelang der Durchbruch – eine Meisterleistung der Kryptologie, die mit der Lösung der Enigma auf einer Stufe steht. Die genaue Beschreibung dieser Entzifferung in diesem Buch gehört zum Interessantesten, was je über Kryptologie veröffentlicht worden ist.
Nach dem großen Erfolg blieb immer noch die beträchtliche Arbeit, aus der großen Zahl der täglich eingehenden Meldungen die Klartexte zu gewinnen. Die Alliierten hatten für die entsprechende Aufgabe – mit dem Lorenz S-Zusatz SZ 40/42 anstelle der T-Typ 52 – eigens ein wahrhaft kolossales Gerät namens Colossus gebaut, das als der erste Computer der Geschichte gilt. Den Schweden gelang ein Meisterstück, nämlich der Nachbau einer zur T-Typ 52 wirkungsgleichen Maschine, die eingehende Nachrichten automatisch entschlüsselte. Vierzig solcher Geräte befanden sich danach im Einsatz. Die Erfolge waren sensationell, im Jahre 1941 wurden nicht weniger als 41400 deutsche Meldungen entziffert! Wie ein offenes Buch lagen die Aktionen und Planungen der Wehrmacht und der Reichsregierung vor den Schweden. Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion konnte mit genauem Datum vorhergesagt werden.
Der schwedischen Codebreaker-Behörde FRA (Försvarsväsendets Radio Anstalt) gelangen noch weitere große Erfolge, darunter die Entzifferung des überschlüsselten Codes der sowjetischen baltischen Flotte, für die schwedische Regierung eine Nachrichtenquelle von unschätzbarem Wert. Auch diese Leistung wird hier fachlich präzise beschrieben, und auch sie verdient höchste Anerkennung.
Bengt Beckman, der selbst viele Jahre lang Codebreaker war, belässt es nicht beim Fachlichen, sondern geht auch auf Persönliches ein, wodurch das Buch einen besonderen Charme erhält. Denn die Codebreaker, und insbesondere Beurling, sind keineswegs einfache Charaktere, sondern vielfach Exzentriker mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein. Friedfertigkeit gehört nicht zu ihren Eigenschaften. Als ein Mitarbeiter einmal gefragt wurde, wer denn seine Feinde seien, erhielt der Fragende, der wohl als Antwort "die Deutschen" oder "die Russen" erwartet hatte, die verblüffende Antwort: "Alle hier auf diesem Flur!"
Beurling, immerhin Professor, und sein Freund Yves Gyldén, ein bekannter Fachbuchautor, hatten sich einmal über eine Fachfrage so zerstritten, dass sie den Raum verließen und die Diskussion mit den Fäusten fortsetzten. Noch tagelang, so wird berichtet, hätte einer der beiden Kampfhähne ein blaues Auge gehabt. Beurling selbst wurde schließlich so unleidlich, dass ihn seine Behörde entlassen musste. Er ging zurück zur Universität. Die Arbeit litt nicht darunter, denn einerseits wirkte er als Berater weiter mit, andererseits waren die von ihm angelernten Mitarbeiter nun so weit, dass sie selbstständig weiterarbeiten und später auch den veränderten G-Schreiber entziffern konnten.
Für den deutschen Leser bleibt nach der Lektüre ein bitterer Nachgeschmack. Nicht nur die alliierten Kryptologen mit ihren großen Möglichkeiten waren den deutschen weit überlegen, sondern auch die schwedischen mit den Ressourcen eines kleinen Landes. Bengt Beckman, meinem alten Bekannten, ist mit diesem Buch ein großer Wurf gelungen. Er hat nicht nur Arne Beurling, sondern auch sich selbst ein Denkmal damit gesetzt.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 2003, Seite 98
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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