Intelligente Schiffe: Computer mit Kapitänspatent
Künstliche Intelligenz auf der Brücke kann die Schifffahrt sicherer machen, aber vorläufig leider kaum wirtschaftlicher.
Schuld war "menschliches Versagen". Wenn dieser Begriff ins Spiel kommt, sind oft schwere Verluste zu beklagen. Als der Öltanker Exxon Valdez1989 im Prince-William- Sund strandete, verschmutzten 232|000 Barrel Öl die Küste Alaskas, töteten Seevögel und andere marine Lebewesen. Grund der Katastrophe: Der Kapitän hatte die Brücke einem mit der Region nicht vertrauten Decksoffizier überlassen. Das Unglück war keineswegs untypisch für den Schiffsverkehr. In achtzig Prozent der Fälle urteilen Seegerichte: menschliches Versagen. Diesen Terminus kennt man auch vom Flug- oder Schienenverkehr. Auch dort können Bedienungsfehler, Fehleinschätzungen und falsche Reaktionen Menschenleben und erhebliche Sachwerte gefährden. Dementsprechend groß ist das Interesse der Betreiber, durch immer mehr Automation den Menschen zu entlasten oder zu ersetzen.
Auch für die Schifffahrt, auf den Weltmeeren oder im Binnenland, gibt es solche Entwicklungen. Schon heute genügen etwa zwanzig Personen Besatzung, um einen Supertanker von 300000 Tonnen rund um den Globus zu steuern. Eine typische Crew besteht aus Kapitän, drei nautischen und vier technischen Offizieren, sieben Seeleuten für Deck und Maschine, sowie natürlich Koch und Steward. Weniger Personal wäre zwar im Interesse der Reedereien, doch die Ersparnis einer umfassenden Automatisierung dürfte nicht einmal ihre Kosten decken, zumal veraltete Frachter unter Billigflaggen nach wie vor zu niedrigen Preisen ihre Dienste anbieten dürfen.
Doch das Problem drängt, denn der globale Handel wächst, während die Zahl qualifizierter Seeleute weltweit zurückgeht. Schärfere gesetzliche Bestimmungen und die hohen Kosten bei einer Katastrophe motivieren mittelfristig zum Umdenken – Exxon zahlte zwei Milliarden Dollar für die Säuberung der verseuchten Küste und eine weitere Milliarde im Rahmen zivil- und strafrechtlicher Verfahren.
Unter diesen schwierigen und komplexen Rahmenbedingungen setzen Forschergruppen weltweit vor allem auf Techniken der Künstlichen Intelligenz (KI): "Expertensysteme" entlasten den Menschen und erlauben, die Mannschaftsstärken weiter zu verringern.
Zunächst sollen "intelligente Schiffbrücken" helfen, Kollisionen zu vermeiden. Auf der Brücke laufen dazu alle Informationen über Position, Geschwindigkeit und Zustand des Schiffes sowie Radarbilder über die Umgebung und andere Schiffe zusammen. Dabei wird bei der Ortsbestimmung zunehmend das Global Positioning System (GPS) genutzt. Computergestützte Brückensysteme verarbeiten alle Daten und zeigen sie dem Schiffsführer in einer integrierten Form, beispielsweise die aktuelle Position und Geschwindigkeit des Schiffes, seinen geplanten Kurs und den hochgerechneten der anderen Schiffe. Darüber hinaus vermag ein Expertensystem mögliche Kollisionen zu erkennen und Ausweichmanöver zu berechnen sowie am Monitor grafisch darzustellen.
Expertensysteme enthalten internationale Schifffahrtsregeln und Erfahrungswissen guter Kapitäne in Form von Regeln der Art "Wenn X eintritt, dann mache Y". Solche Regeln gewinnen die Systementwickler etwa durch Beobachten von Kapitänen in Schiffssimulatoren. Dort lassen sich kritische Situationen unter kontrollierten Umweltbedingungen wieder und wieder durchspielen. Wissen über die Manövrierfähigkeit eines Schiffes, Informationen der Lotsen über bestimmte Fahrtgebiete und vieles mehr werden so in einem Programm verknüpft, das dann die nächsten Fahrtpunkte plant – ähnlich wie ein Schachcomputer die nächsten Züge plant.
Der erste Schritt: KI auf der Brücke
Inzwischen wurden von dem amerikanischen Rüstungskonzern Lockheed Martin und dem japanischen Unternehmen Mitsubishi derartige Brückensysteme erprobt. Mitsubishi entwickelte sogar eine Sprachein- und -ausgabe, die etwa dreißig Befehle und Anfragen sowie achtzig Ansagen kennt. Dadurch soll so mancher Blick hinab auf Anzeigen- und Bedienarmaturen entfallen. Insbesondere wenn nur ein Mann auf der Brücke steht, wird so die Arbeit leichter und Risiken durch Überlastung reduzieren sich.
Europäische Ölgesellschaften beauftragen leider meist Chartergesellschaften, die wenig Geld in die Modernisierung ihrer Schiffe stecken. Dennoch arbeiten auch Wissenschaftler am Institut für Schiffsbetrieb, Seeverkehr und Simulation der Fachhochschule Hamburg und des Fachbereichs Seefahrt der Hochschule Wismar an vergleichbaren Konzepten. Die von der Europäischen Gemeinschaft und dem deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützten Projekte konzentrieren sich aber auf Detailaspekte; der Prototyp einesKI-gestützten Gesamtsystems ist noch in weiter Ferne.
Kann ein solches intelligentes Brückensystem den Menschen an Bord von Schiffen eines Tages ersetzen? Ich glaube, innerhalb der nächsten Jahrzehnte noch nicht. Das hat zum einen rechtliche Gründe: Die Vereinten Nationen müssten dafür die gesetzlichen Rahmenbedingungen schaffen, und Fragen der Produkthaftung wären zu klären. Zum anderen verläuft keine wochenlange Reise von Kontinent zu Kontinent ohne Probleme. Im Mittel tritt heute sogar alle hundert Stunden ein Defekt auf.
Allein schon das billige Schweröl sorgt als verunreinigter Brennstoff häufig für Störungen. Expertensysteme für den Dieselantrieb helfen zwar bei der Fehlerdiagnose und geben Reparaturanweisungen, doch wollte ein Reeder ganz auf den Menschen an Bord verzichten, müssten alle wichtigen Komponenten mehrfach vorhanden sein, um bei Bedarf ein defektes Teil automatisch abschalten zu können. Das gilt auch für andere Komponenten der Maschinen. Ein solches Vorgehen ist derzeit absolut unwirtschaftlich, zumal die Crew auch Routinewartungen während der Überfahrt vornimmt, die sonst im Hafen – also bei teuren Liegegebühren – zu erledigen wären. Die Alternative könnten autonome Reparaturroboter sein, die sich von einem automatischen Diagnosesystem beauftragt selbstständig durch die engen Maschinenräume zur Fehlerquelle bewegen könnten. Doch das sind Visionen, deren – kostengünstige – Realisierung noch in weiter Zukunft liegt.
Realistischer scheint es anzunehmen, dass die Künstliche Intelligenz dem Steuermann eines Tages erlauben wird, auf der Brücke zu schlafen, um gegebenenfalls vom System alarmiert in Aktion zu treten, statt nachts auf hoher See allein zu wachen. Auch auf kurzen Fahrten in der Nähe der Küste oder im Binnenland mag das "automatische" Schiff mittelfristig Wirklichkeit werden, zumal dort Verkehrsleitsysteme die Computer an Bord ergänzen werden.
Brennpunkt Hafen
Ein solcher vessel traffic service (VTS) dirigiert die ein- und auslaufenden Schiffe im Hafen; derartige Systeme gibt es mittlerweile in den meisten großen Häfen der Welt. Ein VTS ist eine Kontrollstation, in der alle Informationen zu den Schiffen einlaufen und wie im Tower eines Flughafens auf elektronischen Karten dargestellt werden. Positionsdaten liefert ein Radarsystem, sie werden durch telefonisch oder per
Funk durchgegebene Informationen der Schiffsführung sowie durch Angaben der "Transponder" an Bord ergänzt. Letztere senden unablässig Angaben zu Schiff und Ladung sowie die vom bordeigenen GPS-System bestimmte Position; umgekehrt empfangen sie Daten von anderen Transpondern. Im Flugverkehr helfen derartige Systeme schon seit einigen Jahren, Kollisionen zu vermeiden – die Maschinen warnen sich gegenseitig. Zu Wasser wären sie besonders wichtig, denn das Radar erkennt keine Holz- und Plastikboote und weiß auch nicht um besondere Umstände, die Sonderbehandlung erfordern, wie etwa eine gefährliche Ladung oder ein blockiertes Steuerruder. Experten glauben, dass diese Technik innerhalb der nächsten Jahre von den Vereinten Nationen auch für Schiffe verbindlich vorgeschrieben wird.
Die Erfahrungen des Hafens von Singapur zeigen, dass VTS-Systeme auch die Kapazität bestehender Wasserstraßen erheblich steigern können, denn ohne Kollisionsgefahr lassen sich dort mehr Schiffe dirigieren. Erfreuliches Nebenresultat: Teure Baumaßnahmen zur Erweiterung entfallen. Um die Sicherheit auf dicht befahrenen Wasserstraßen weiter zu erhöhen, müssen künftig alle Informationen über die Verkehrslage in gleicher Form und ohne Verzug allen Verkehrsteilnehmern zur Verfügung stehen. Ein Beispiel: Lotsen sollten von verschiedenen Computern aus in gleicher Weise auf Daten zugreifen können, sei es auf der Schiffbrücke, von einer VTS-Kontrollstation und über einen Laptop.
Dann entsteht ein distributed intelligent piloting system (DIPS), wie es Forscher unter der Leitung von Martha Grabowski am Rensselaer Polytechnic Institute in Troy, New York, auf dem St. Lawrence-Seaway zwischen den USA und Kanada testen. Es umfasst Rechnernetzwerke an Bord jedes Schiffes, ein Verkehrsleitsystem und ein beide koppelndes Netz. Die Datenbanken sind gleich strukturiert, haben aber unterschiedlichen Inhalt: Die schiffseitige speichert Fahrzeugwissen etwa zum Manövrierverhalten sowie Informationen über die Reederei und deren Anforderungen; die VTS-Datenbank enthält Angaben über alle Schiffe in der Wasserstraße und zur Wasserstraße selbst. Die schnelle Datenleitung zwischen Schiff und VTS sorgt für schnellen Austausch und Abgleich der Informationen.
Erkennt das VTS-Expertensystem, das Erfahrungswerte von heimischen Lotsen enthält und auch auf Wetterdaten Zugriff hat, ein potenzielles Problem, wird es allen Betroffenen eine Warnung anzeigen und Maßnahmen vorschlagen. Beispielsweise könnte ein Engpass an einer Schleuse entstehen, wenn ein Schiff ein zweites einholt, die Lösung wäre vielleicht das Abbremsen des schnelleren oder ein Vor-Anker-gehen des langsameren Verkehrsteilnehmers.
Gefechtssysteme beherrschen die Kunst der Selbstverteidigung
Das Interesse der Militärs an solchen Entwicklungen ist leider deutlich größer als das der zivilen Reedereien. Freilich muss ein intelligentes System, das in der Marine Dienst tut, deutlich höheren Anforderungen genügen. Ein Objekt auf Kollisionskurs kann ein Torpedo oder eine Rakete sein. Ist das Schiff imstande, auszuweichen, lässt sich die Waffe täuschen oder bekämpfen? Und wenn nicht: Wo würde sie treffen und mit welchen Folgen? Oder besser: Wo sollte der Torpedo oder die Rakete treffen, um den Schaden gering zu halten? Auf Kriegsschiffen sind es solche Notfallsituationen, die die Besatzungsstärke und damit Bau- und Betriebskosten bestimmen. Einer amerikanischen Studie von 1995 zufolge ermöglicht Automation, die Besatzung eines Zerstörers von derzeit 359 auf 101 Mann zu verringern. Tatsächlich sollen die jetzt geplanten amerikanischen Zerstörer der DD-21-Klasse zukünftig mit nur 95 Mann auskommen.
Computerintelligenz bildet die Grundlage solcher Gefechtsberatungssysteme. Die britische und die amerikanische Marine erproben bereits erste Versionen, die auf Grund ihrer Wissensbasis Ratschläge zur Verteidigung gegen einen Angriff geben können. Ein künftiges System wäre in der Lage, einkommende Raketen und Torpedos zu identifizieren und Gegenmaßnahmen festzulegen. Kommt ein Abschuss nicht in Frage, wird der Kurs des Schiffes automatisch so geändert, dass es möglichst wenig Profil zeigt, ohne dabei zu stranden.
Anhand von Schiffsdaten und taktischen Szenarien ermittelt ein Computer den zu erwartenden Schaden. Weil die Besatzungsmitglieder Standortmelder tragen, kann er vom Einschlag betroffene Räume vermutlich mit Inertgas fluten, um Feuer zu vermeiden. Das Kriegsschiff der Zukunft besitzt überdies Rechnernetze aus Standardcomputern und mindestens zwei Kommandozentralen. Wahrscheinlich bei einem Treffer zerstörte Subsysteme lassen sich dann vorsorglich stilllegen und die jeweiligen Funktionen auf andere verlagern. Natürlich vermag sich das eigene System auch mit denen des Flottenverbandes abzustimmen, also beim Angriff Kollisionen innerhalb des Verbandes vermeiden und Gegenmaßnahmen koordinieren.
Schließlich ist es nur ein kleiner Schritt vom intelligenten zum autonomen, das heißt unbemannten Kriegsschiff. Für einige gefährliche Anwendungen wie das Suchen von Minen oder die Aufklärung im feindlichen Gewässer erscheint eine so weitgehende Automatisierung durchaus sinnvoll. Amerikanische Studien gingen noch weiter: Bis zu zwei Tage lang sollte ein Arsenalschiff unbemannt operieren können, um mehr als hundert Raketen und Marschflugkörper vor die Küste des Gegners zu befördern; sie wären dann aus sicherer Distanz per Funk abgeschossen worden. Der Kongress hat das Vorhaben zwar aus politischen Gründen abgelehnt, die erforderliche Technologie kommt aber bei der erwähnten nächsten Generation amerikanischer Zerstörer zum Einsatz.
Moderne Telekommunikation und Informationstechnologie werden die Schifffahrt verändern. Computer ersetzen dann manchen Seemann und entlasten die verbleibende Crew. Vor allem in der Handelsschifffahrt lautet das Hauptargument aber nicht "mehr Wirtschaftlichkeit", sondern wie im Luftverkehr – "mehr Sicherheit".
Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 2000, Seite 88
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben