Computerspiele: Mein Freund, der Avatar
Ein greller Blitzstrahl haut den Krieger aus den Schuhen. Noch bevor er zu Boden geht, holt das Ungeheuer Heigan schon zum nächsten Schlag aus. Doch auch die Hexenmeisterin Darkjeanie feuert einen weiteren Schattenblitz ab. Acht ihrer neun Mitstreiter hat das Ungetüm bereits zerschmettert. Gemeinsam mit ihrem letzten verbliebenen Gefährten attackiert sie den Giganten unermüdlich, was diesen jedoch kaum zu beeindrucken scheint.
Vor dem Computermonitor sitzt Övünc und lenkt hoch konzentriert seine Hexenmeisterin. Er lässt sie abwechselnd auf Heigan zielen und ihre eigenen Wunden heilen. Es ist still, Schweiß steht auf Övüncs Stirn. Ab und zu murmelt er kurz etwas in sein Headset. Fast acht Minuten rührt er sich nicht. Plötzlich hellt sich sein Gesicht auf. Schnelle Mausklicks, mehr Lichtblitze, und der Gegner stürzt zu Boden. Lautes Jubeln ertönt durch seine Kopfhörer. Die Schlacht ist gewonnen! Övünc atmet auf und rückt seinen Stuhl ein Stück vom Schreibtisch weg. "Jungs, ich brauch mal eine Kaffeepause", brummt er in sein Headset. Zustimmendes Raunen.
Seit acht Jahren spielt Övünc begeistert das Online-Rollenspiel "World of Warcraft" (WoW). Gemeinsam mit seinem virtuellen Charakter, der Hexenmeisterin Darkjeanie, schlägt er sich durch die Fantasiewelt des Computerspiels – ein Abenteuer, das die beiden eng zusammengeschweißt hat. Zu seinen Hochzeiten verbrachte der heute 30-Jährige etwa 25 Stunden pro Woche mit seinem "Avatar". So viel Zeit würden viele Männer nicht einmal ihrer Freundin widmen.
Und tatsächlich: Wenn Övünc von seiner Darkjeanie schwärmt, sie "meine kleine Hexe" oder "mein Kronjuwel" nennt, klingt es, als würde er von einer Geliebten reden und nicht von einem WoW-Charakter. Es gibt kaum einen erfahrenen PC-Spieler, der keine intensive Beziehung zu seiner Spielfigur pflegt.
In der Wissenschaft wurde das Thema Online-Rollenspiele und Avatare lange belächelt. Mittlerweile beschäftigen sich jedoch immer mehr Psychologen, Neurowissenschaftler und Marktforscher damit. Ihre Ergebnisse zeigen, dass die Bindung, die Computerspieler zu ihren Charakteren in der virtuellen Welt entwickeln, oftmals stärker ist als vermutet: Wenn Övünc mit seiner Darkjeanie in die Schlacht zieht, hat er tatsächlich das Gefühl, sich im Körper seiner Spielfigur zu befinden.
So versetzten etwa Forscher um Roger Gassert von der ETH Zürich 22 Freiwillige in ein virtuelles Szenario, in dem diese von hinten auf einen Avatar blickten. Dabei streichelte ein spezieller Apparat 40 Sekunden lang den Rücken der Versuchsteilnehmer. Gleichzeitig konnten sie beobachten, wie ein roter Punkt synchron mit der Streichelbewegung über den Rücken ihres Avatars wanderte.
Der Effekt war beeindruckend: Die meisten Probanden hatten während des Versuchs den Eindruck, sich im Körper ihres virtuellen Charakters zu befinden ...
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