Das Altersgesicht des Charles Darwin
Wer immer den betagten Darwin auf seinem Landsitz in Down südlich von London besuchte, zeigte sich beeindruckt von dessen Persönlichkeit. Er soll eine ruhige Kraft und dabei Liebenswürdigkeit und Güte ausgestrahlt haben, zugleich Schlichtheit und Arglosigkeit. Ein Kollege von der Universität Cambridge, die dem Naturforscher und Begründer der Evolutionslehre im Jahre 1877 die Ehrendoktorwürde verlieh, beschrieb ihn nach der Zeremonie gar als "kräftig aussehenden Mann mit eisengrauem Haar, mit einer Aura wie ein vorzeitlicher Megalith, wie aus dem Felsen gehauen".
In jenen Jahren war Darwin längst weltberühmt und aus eigenen Einkünften gut situiert. Dabei ließ ihn sein ausgeprägtes Interesse für naturwissenschaftliche Zusammenhänge bis zuletzt nicht los. Neugierig wie ein Schuljunge schlich er noch als Siebzigjähriger nachts in seinen Arbeitsräumen herum und erschreckte die Regenwürmer, die er dort in zahllosen Behältnissen in Erde hielt, mit plötzlich aufscheinendem Licht; oder er ließ die ganze Familie antreten, um mit sämtlichen verfügbaren Stimmorganen und Musikinstrumenten zu testen, ob seine Versuchstiere etwa geräuschempfindlich seien. Seine Erfindungsgabe und Experimentierlust, um beispielsweise aufzuklären, nach welchen Gesetzen Keimlinge Würzelchen treiben oder ihre Blätter stellen, waren offenbar unerschöpflich.
Darwins große Arbeitsleistung läßt nicht erkennen, daß er im Grunde ernstlich kränkelte und oft bettlägerig war, seit er von seiner fünfjährigen Weltreise (1831 bis 1836) mit dem Vermessungsschiff "Beagle" zurückgekehrt war. Unermüdlich erdachte er neue, manchmal fast wunderliche Experimente für die verschiedensten exotischen wie alltäglichen Lebewesen, die er unentwegt sammelte, züchtete und sich aus aller Welt schicken ließ. Er führte darüber akribisch Protokoll und faßte seine Befunde und Erkenntnisse in umfangreichen Schriften zusammen, in die auch die zahllosen Notizen seiner weitläufigen Korrespondenz einflossen; denn er pflegte stets von überall her minutiöse Auskünfte zu seinen Thesen und Fragen einzuholen.
Dieses starke Interesse hatte er schon als Schüler und Student gezeigt – und galt deswegen in seiner Familie als Faulpelz und schwarzes Schaf, das zu einem Medizinstudium nicht recht taugte, nur noch Theologie studieren konnte mit der Aussicht, daß der vermögende Vater ihm später – wie damals in solchem Falle üblich – eine Pfründe auf dem Lande beschaffen würde, wo er dann seiner Käferleidenschaft würde frönen können. (Die vielen Widersprüche und Konflikte dieses Forscherlebens schildern Adrian Desmond und James Moore in ihrem Buch "Darwin", das auf deutsch 1992 im Paul-List-Verlag und 1994 bei Rowohlt erschienen ist.)
Die Magenkrämpfe und Schwächeanfälle, die Darwin bei jeder kleinsten Aufregung heimsuchten, würde ein Mediziner heute vielleicht als psychosomatisch diagnostizieren. Sie mögen Ausdruck davon gewesen sein, wie schwer er seelisch dafür bezahlte, daß er das Bild vom Menschen revolutionierte und eine neue Evolutionstheorie schuf, gegen die Ansichten der damaligen Gesellschaft – auch seiner eigenen Frau – und vor allem gegen die der Kirche.
Darwin hielt sich denn auch nach Möglichkeit von allen öffentlichen Anlässen fern. Dies ging so weit, daß er im Jahre 1869 die Aufnahme eines gemeinsamen Photos mit seinem einstigen Kontrahenten und Mitstreiter Alfred R. Wallace (1823 bis 1913) ablehnte, weil ihn die Sitzung, wie auch die Fahrt nach London, gesundheitlich zu sehr angreifen würde. Seine wenigen Kräfte setzte er lieber für seine Forschung und seine Publikationen ein.
Weil Darwin so zurückgezogen lebte und sich in öffentliche Dispute ungern direkt einmischte – besonders nicht in die politischen Kontroversen um seine Theorie –, reagierte er überrascht und indigniert, falls Fremde ihn in London erkannten. Dabei mußte sich dieses Philosophen-Gesicht mit dem weiß gewordenen Bart und den starken Brauen, "mit dem zugleich durchdringenden und vergeistigten Blick, dem nichts entging, der zugleich hinter die Dinge zu sehen schien" (so ein Besucher), jedem einprägen, der es einmal sah. (A. S.)
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1996, Seite 112
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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