Hirnforschung: Das bayesianische Gehirn
Samstag, 10 Uhr am Rand eines Alpengletschers. Das Eis schimmert milchig blau in der Augustsonne. Der Aufstieg hat drei schweißtreibende Stunden gedauert. Nun werden wir mit einem einheimischen Bergführer den Gletscher queren. Der Wetterbericht hat für den späten Nachmittag starke Föhnwinde angekündigt, aber bis dahin wollen wir eine Hütte erreicht haben, die uns Schutz bieten soll. Vor dem Gletschereinstieg stärken wir uns mit Brot und einem Stück herzhaften Käse.
Als wir Steigeisen und Seile zurechtlegen, kommt der Bergführer auf uns zu und sagt: "Wir steigen wieder ab. In einer Stunde geht der Föhn los." – "Woher wissen Sie das so genau?", frage ich. "Haben Sie mit ihm telefoniert?" Immerhin sind wir extra angereist, haben diese Tour aufwändig vorbereitet. "Ich spüre das, wir steigen ab", sagt er knapp und setzt sich in Bewegung. Uns bleibt nichts anderes übrig, als ihm enttäuscht zu folgen.
Als wir nach 50 Minuten den Abstieg halb bewältigt haben, setzt ein heftiger Sturm ein. Der Himmel über uns ist wolkenlos, die Sonne scheint, aber wir kämpfen mit Orkanböen. Mit Mühe erreichen wir das Tal.
Wie hat der Bergführer den Föhn vorausahnen können? Der Wetterbericht vom Vortag klang präzise. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Unwetter mehrere Stunden früher einsetzen würde als gedacht, schien sehr gering. War es etwa die am Vormittag noch kaum erkennbare, einzelne Wolke weit im Süden über dem Alpenkamm? Ein sehr unsicheres Anzeichen, wie der Bergführer zugeben muss. Die Hitze? Nicht ungewöhnlich im August. Die klare Fernsicht? Kommt auch ohne Föhn vor.
Kein einzelnes dieser Anzeichen zeigt sicher an, dass ein Sturm bevorsteht. Doch was passiert, wenn man alle Indizien zusammenzählt? Wird die Vorhersage vielleicht ungenauer, je mehr vage Informationen man hinzunimmt – so wie bei einer Flüsterpost? Mathematisch gesehen ist genau das Gegenteil der Fall: Mit Hilfe eines Algorithmus lassen sich Wahrscheinlichkeiten so kombinieren, dass die Gesamteinschätzung immer präziser wird, je mehr ungenaue Informationen hinzukommen. Den dafür benötigten "Satz von Bayes" nutzt offenbar auch unser Gehirn ständig, ohne dass wir es merken. ...
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