Das digitale Universum. Zelluläre Automaten als Modelle der Natur
Vieweg, Braunschweig/Wiesbaden 1995.
320 Seiten, DM 58,-.
320 Seiten, DM 58,-.
Martin Gerhardt, Mathematiker am Wissenschaftlichen Zentrum der IBM in Heidelberg, und seine Frau, die freie Wissenschaftspublizistin Heike Schuster, führen eine breitere Leserschaft in die abstrakte Welt der zellulären Automaten ein. Dank moderner Rechner und der Möglichkeiten der Computergraphik sind diese nicht nur die schönsten Spielzeuge, welche die Mathematik in diesem Jahrhundert erfunden hat; sie haben sich auch zu anerkannten wissenschaftlichen Werkzeugen insbesondere für Simulationsprozesse entwickelt. Dadurch hat fast jedermann Zugang zu einem Grundthema der Wissenschaft: der Auseinandersetzung mit den komplexen Systemen, die unser Leben auf allen Ebenen bestimmen, sowie den Möglichkeiten, diese Komplexität auf ein handhabbares Maß zu reduzieren, ohne dabei Wesentliches durch Übervereinfachung zu verfälschen oder zu zerstören.
Als geistiger Vater der zellulären Automaten gilt der ungarisch-amerikanische Mathematiker John von Neumann (1903 bis 1957). Er wollte das mathematische Modell eines Automaten formulieren, der sich selbst reproduzieren kann und damit wesentliche Züge des Lebens trägt. Sein polnisch-amerikanischer Fachkollege Stanislaw Ulam (1909 bis 1984) entwickelte für von Neumann eine geeignete formale Sprache, mit der man die Wechselwirkung einer Vielzahl von Komponenten nach wohldefinierten Regeln beschreiben kann; als Komponenten schlug er Felder eines einfachen – etwa schachbrettartigen – Gitters vor, die Informationen aus ihrer unmittelbaren Nachbarschaft in die eigene Entwicklung mit einbeziehen. Von Neumann nannte die Komponenten "Zellen" in Analogie zu den Grundbausteinen des Lebens.
In der Sprache der Automatentheorie sind alle Zellen Kleinstautomaten, die nach exakt den gleichen Regeln funktionieren. Ihre zeitliche Entwicklung hängt ebenso vom eigenen Ausgangszustand wie von den Zuständen der benachbarten Zellen ab. Dabei muß "Nachbarschaft" für jedes Modell wohldefiniert sein (Bild rechts). Die geometrische Grundform der einzelnen Zelle bestimmt die Geometrie des Zellraums; sie ist für alle Zellen gleich, typischerweise dreieckig, sechseckig oder quadratisch (Bild links).
Das Urmodell von Neumanns arbeitete mit einem zweidimensionalen quadratischen Gitter; nur die mit einer ganzen Seite angrenzenden Zellen – nicht aber die über Eck – galten als Nachbarn. Dieser Automatentyp wird bis heute wegen seiner Einfachheit und leichten Visualisierbarkeit am Bildschirm viel benutzt.
Mit dem Spiel Life des Mathematikers John Horton Conway von der Universität Cambridge (England) begann 1968 der Siegeszug der zellulären Automaten an den Universitäten und Forschungszentren (vergleiche "Computer-Kurzweil", Spektrum der Wissenschaft, Juni 1984, Juli 1985 und Mai 1987). Die Gitterzellen sind rechteckig, jede hat acht Nachbarn und nur zwei mögliche Zustände – "tot" oder "lebendig". Eine Zelle wird neu geboren, wenn sie genau drei lebende Nachbarzellen hat; sie überlebt den nächsten Zeittakt, wenn sie zwei oder drei lebende Nachbarn hat, und stirbt, wenn es weniger oder mehr sind. Leben oder Tod hängen somit von der Populationsdichte ab.
Conway selbst betrachtete Life primär als abstraktes Verfahren zur Demonstration der höchst komplexen Abläufe, die aus einfachsten Regeln resultieren können. Das belebte Gitter ist sogar selbst ein Computer: Mit den Regeln des Spiels lassen sich alle Elemente gestalten, die einen Digitalrechner ausmachen.
Startet man die Evolution dieser künstlichen Lebenswelt mit einer willkürlichen Verteilung der Zellen, entstehen vielfältige Strukturen. Teilweise finden sich Zellen in stabilen Mustern zusammen, die für ein ewiges Leben geeignet zu sein scheinen. An anderer Stelle erwachsen aus der "Ursuppe" kleine Gestalten, die unermüdlich durch die Gitterwelt wandern und dabei bislang stabile Strukturen durcheinanderbringen. Der Ausgang des Geschehens ist – was man beweisen kann – völlig unvorhersehbar.
Was sich in Life spielerisch andeutete, zeigt sich inzwischen bei vielen Anwendungen von zellulären Automaten als Modellen der Natur in Physik, Chemie, Biologie, Ökologie bis hin zu den Sozialwissenschaften immer deutlicher: Das Prinzip lokaler Wechselwirkungen einfacher Bausteine modelliert auf leicht zugängliche Weise Grundcharakteristika einer sich selbst organisierenden Welt. Seit Mitte der achtziger Jahre vermuten der Mathematiker Stephen Wolfram, der damals an der Universität von Illinois in Urbana-Champaign tätig war, und manche seiner Kollegen in der methodischen Anwendung von zellulären Automaten eine Möglichkeit, "die Software der Natur" auf einfache Weise zu codieren.
Wolfram, der als Autor des Software-Pakets "Mathematica" bekannt wurde, wollte nicht nur komplexe physikalische Phänomene erklären; er versuchte, dem Wesen der Komplexität selbst auf die Spur zu kommen. Bei mehrdimensionalen zellulären Automaten stößt die Forschung bald an die Grenze des technisch Machbaren. Wolfram beschränkte sich deshalb zunächst auf eindimensionale Systeme – bei denen die Zellen wie Perlen an einer Schnur aufgereiht sind – mit vollkommen deterministischen Regeln.
Die Autoren selbst haben vor allem mit ihrer an der Universität Bielefeld entwickelten Mischmasch-Maschine zu dem Fachgebiet beigetragen. Mit dieser Klasse zellulärer Automaten lassen sich unter anderem oszillierende chemische Reaktionen simulieren (Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1988, Seite 8).
In den letzten Jahrzehnten trafen die Naturforscher auf Phänomene im Bereich kleinster Teilchen weit unterhalb der Ebene der Atome, die sich der Erklärung durch deterministische Naturgesetze entziehen. Das bringt nicht nur die eindeutig deterministische Newtonsche Mechanik, sondern auch die – von erstrangigen Physikern wie Max Planck (1858 bis 1947) und Albert Einstein (1879 bis 1955) deterministisch interpretierte – Quantenmechanik ins Wanken. Hier scheinen nur noch stochastische Verfahren weiterzuhelfen: Man faßt den Zufall nicht mehr als lästige Störung, sondern als Wesenszug des Phänomens auf und begnügt sich mit statistischen Aussagen. Denkansätze, die mit Schlagwörtern wie Komplexität, Chaos, Fraktale, Selbstorganisation oder Irreversibilität skizzierbar sind, seien hier als Hinweise auf die Probleme der Teilchenphysik angeführt. Vielleicht lassen sich in Zukunft solche Probleme - unter anderem – durch Simulationsmodelle auf der Basis zellulärer Automaten lösen.
Martin Gerhardt und Heike Schuster stellen ihr Thema kompetent und mit vielen schönen Graphiken angereichert vor (vergleiche auch ihren Videofilm "Simulationen des Lebens", Spektrum Videothek 1995). Es macht Spaß, sich mit ihnen auf eine spannende Reise einzulassen. Nicht berücksichtigt sind die Arbeiten des Computerpioniers Konrad Zuse (1910 bis 1995) zu diesem Thema wie auch deren Fortführung im GMD-Forschungszentrum Mathematik in Sankt Augustin. Informatiker mögen sich daran stören, sie sind aber nicht die Zielgruppe des Buches.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1996, Seite 120
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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