Das Fahrrad im Wirtschaftsverkehr
Das Rad dient nach Angaben des World-Watch-Instituts in den meisten Ländern der Erde als Hauptverkehrsmittel: Viele Millionen Menschen in China und Indien fahren damit täglich zur Arbeit, in Kenia und Indonesien werden darauf zum Beispiel Früchte zum Markt gebracht, in Botswana und Uganda befördert man sogar Touristen per Rad, in Tansania die Briefpost.
Auch von den fünf bis sechs Millionen jährlich in Deutschland verkauften Fahrrädern werden viele außer zum Sport und als Freizeitgefährt auch im Wirtschaftsverkehr eingesetzt, etwa von den 23000 Velo-Briefträgern, die nach Angaben der Post bis zu 50 Kilogramm in den Packtaschen befördern und im Mittel damit bis zu 15 Kilometer pro Tag zurücklegen. Im Wartungswerk der Deutschen Bahn AG in Hamburg transportiert man Werkzeuge und Ersatzteile per Spezialrad "Long John" (Bild 1). Automobil- und Chemiewerke haben ähnliche Dienste eingerichtet, desgleichen Flughäfen und weitläufige Großforschungseinrichtungen. In Innenstädten bevorzugen manche Handwerker wie Schornsteinfeger und Installateure das platzsparende Verkehrsmittel (Bild 2).
Lastenräder
Größere Objekte, die nicht in Packtaschen passen, lassen sich auf speziellen Lastenrädern mitführen. Bis zu 100 Kilogramm Zuladung sind beispielsweise beim Modell "Long John" der Hamburger Firma SCO erlaubt, wobei sich der Laderaum zwischen Lenker und Vorderrad nur wenige Zentimeter über dem Boden befindet. Selbst ein Kühlschrank kann so, ohne daß Auspuffgase entstünden, bewegt werden. Die Ladefläche ist nämlich mit Stützrädern versehen und außerdem vom weit nach vorn verlegten Vorderad entkoppelt, so daß die Last nicht mitgeschwenkt werden muß. Ein Transportdreirad, das die Post Dänemarks bevorzugt einsetzt, vertreibt das dänische Unternehmen Christiania bikes. Die 90 mal 60 Zentimeter große Lastenkiste zwischen den beiden Vorderrädern läßt sich mit bis zu 100 Kilogramm beladen. In einer speziellen Version kann gar ein Behinderter im Rollstuhl mitfahren.
Viele neue Konstruktionen haben unkonventionelle Formen. Beim "Lorri" von Kemper-Fahrradtechnik aus Düsseldorf etwa bietet ein Zentralrohrrahmen viel Platz für Transportkisten oder Kindersitze; die 20-Zoll-Räder ergeben einen niedrigen Schwerpunkt und erleichtern das Aufsteigen (Bild 3). Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) wählte es jüngst zum "Fahrrad des Jahres 1995".
Kurierdienste
Anfang der achtziger Jahre wurde in New York der Beruf des Fahrradkuriers, den es in Europa vor der allgemeinen Motorisierung in etlichen Großstädten gab und den früher bald jeder Bäckerlehrling mit dem Brötchenkorb im Morgengrauen ausüben mußte, wiederentdeckt. Kleintransporte bis zu zehn Kilogramm Gewicht etwa von Dokumenten oder Zeichnungsvorlagen sind in Innenstädten mit ihrem alltäglichen Verkehrschaos am schnellsten per Fahrrad zu bewältigen. Mittlerweile radeln in der amerikanischen Metropole vermutlich mehr als 5000 Kuriere; aufgrund elekronischer Datenübermittlung nimmt der Bedarf eventuell künftig ab.
Diese Branche war bislang noch kein Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Forschung. Marktanteile und Potentiale im Rahmen der City-Logistik sind deshalb weitgehend unbekannt. Ein vorläufiges Bild zur Situation in Deutschland konnte ich aber durch Interviews mit Branchenvertretern und durch Literaturrecherche gewinnen.
Bis 1992 gab es bereits in etwa 30 Städten solche Kurierdienste; nach Branchenüberblick der Kölner Firma Ökourier verfügen mittlerweile fast alle Orte mit mehr als 250000 Einwohnern über eine derartige Einrichtung (lediglich im Ruhrgebiet haben manche Städte dieser Größe noch keinen solchen Service). Derzeit dürfte die Zahl selbständiger Fahrradkurierdienste im Bundesgebiet zwischen 70 und 150 liegen.
Die meisten Fahrer arbeiten als Subunternehmer des Disponenten, der in der Zentrale Auftragseingänge und Rechnungswesen steuert. Sie erhalten ihre Aufträge über das offene Funknetz und werden mit 60 bis 70 Prozent am jeweiligen Umsatz beteiligt. Die Betriebsgröße reicht von kleineren Unternehmen wie dem Bremer Sprint mit insgesamt 23 Fahrern, von denen fünf täglich im Einsatz sind, bis zu großen wie dem Berliner Messenger mit einem Pool von 200 Kurieren (davon 150 hauptberuflichen) und einem Jahresumsatz von etwa drei Millionen Mark.
Fahrradkuriere sind in der Regel männlich, zwischen 18 und 30 Jahren alt, oft Studenten, fahrradbegeistert, mit etwas freier Zeit und guter Kondition. Durchschnittlich legen sie pro Sendung 2,1 Kilometer zurück. Die Tagesbestleistung in Berlin erbrachte eine Kurierin mit 201 Kilometern. Kleinere Büros erledigen pro Tag etwa 45 Aufträge, großstädtische bis zu 800 Touren.
Typische Kunden sind Werbeagenturen, Druckereien und Photolabors, die Entwürfe, Druckvorlagen und -filme, Repros, Lithos oder Datenträger zu befördern haben. Arztpraxen versenden Laborproben, Apotheken Medikamente, Dentallabors Zahnersatz, Kanzleien Schriftstücke, Reisebüros Tickets, Versicherungen und Banken ihre spezifischen Dokumente, Kaufleute Waren und Warenproben, Verlagshäuser Zeitungsnachlieferungen – die Liste ist bei weitem nicht komplett.
Veränderung der Kurierbranche
Die Entwicklung dieses Marktes bewirkte mittlerweile auch eine Vernetzung von Fahrradkurier-Firmen mit anderen Dienstleistern. So arbeitet das Kölner Büro Ökourier mit insgesamt 73 Partnern zusammen, wovon nur etwa die Hälfte reine Fahrradkuriere sind; jeder vierte kooperiert mit einem Autokurier bei längeren Distanzen, zwölf haben sogar ein eigenes Auto oder Motorrad. Umgekehrt sind sechs Partner Autokurierunternehmen, die zusätzlich Radler beschäftigen. Fünf Unternehmen des Verbundes verfügen über ein Lastenfahrrad, das in der Regel bis zu 80 Kilogramm an Ladung aufnehmen kann. Überdies arbeitet Ökourier mit dem IC-Kurierdienst der Deutschen Bahn AG zusammen, um Transporte innerhalb ganz Deutschlands durchzuführen.
In Bremen und Stuttgart nutzen die Kurierdienste auch öffentliche Verkehrsmittel. Die Mitarbeiter des Büros Sprint steigen in einen Schnellbus mit Fahrrad-Mitnahmemöglichkeit, um ihre Sendungen ins Bremer Umland zu befördern. In Karlsruhe und Freiburg ergänzt ein Solarmobil die Fahrradflotte.
Fahrradkuriere übernehmen zudem besondere Dienstleistungen wie die Leerung von Postfächern, Bankgeschäfte, Warten auf Unterschriften oder das Sortieren von Sendungen. Denn die kleinen Unternehmen können es sich kaum leisten, einen Auftrag abzulehnen; sie müssen sich durch Flexibilität und Service gegenüber der motorisierten Konkurrenz behaupten, zumal ihr Zeitvorteil bei Entfernungen von mehr als sechs Kilometern entfällt. Selbst Taxiunternehmen bieten mittlerweile Spezialtarife für Strecken bis zehn Kilometer an, um ihre Wagen in Bewegung zu halten. Sprint sieht seinen künftigen Markt denn auch im individuellen Service; großformatige Briefsendungen beispielsweise, die bei der Post bis zu sieben Mark Porto kosten, kann das Unternehmen nach eigenen Angaben wesentlich günstiger ausliefern.
Für die Allgemeinheit erbringen diese Kuriere eine weitere Leistung: Nach Schätzungen über den Güternahverkehr wird etwa ein Drittel aller Lasten nur fünf Kilometer weit befördert – Fahrradkuriere könnten somit dazu beitragen, die Kohlendioxid-Emissionen zu reduzieren.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1995, Seite 108
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