Das Fremde, das Vertraute und das Vergessene. Anatomie des Bewußtseins
Die Neurologie der Jahrhundertwende war durch zwei einander widerstreitende Interpretationen von Wesen und Form höherer geistiger Funktionen geprägt. Auf der einen Seite standen die sogenannten Lokalisationisten oder Diagrammzeichner: Beflügelt durch die Entdeckung des französischen Chirurgen Paul Broca (1824 bis 1880) und des deutschen Psychiaters Carl Wernicke (1848 bis 1905), daß Sprachproduktions- und Sprachverständnisfunktionen in abgrenzbaren Arealen der Großhirnrinde lokalisiert sind, und in Anlehnung an assoziationspsychologisches Gedankengut erklärten sie kognitive Funktionen als aus einzelnen Elementen zusammengesetzt. Nach dieser Vorstellung repräsentieren Erinnerungsbilder ("Engramme") unterhalb der Bewußtseinsschwelle, ohne sich im Zustand aktueller Prozessualität zu befinden, feste Wissensbestände, die unter normalen Umständen produktiv interagieren und nahezu beliebig abrufbar sind, im Falle einer Hirnverletzung jedoch selektiv verloren- gehen. Als geradezu klassischer Beleg für diese Theorie galten die hirnorganisch verursachten Sprachausfälle (Aphasien).
Auf der anderen Seite vertraten Pioniere der modernen Neurowissenschaft wie der deutsch-amerikanische Neurologe Kurt Goldstein und der Engländer John Hughlings Jackson (1835 bis 1911) die These, das Gehirn sei ein holistisch verfahrendes Ganzes vernetzter Aktivität. Laut Goldstein muß man das menschliche Gehirn, um es verstehen zu können, stets in Beziehung zum Bewußtsein sehen; die Natur von (auch sprachlichen) Gedächtnisstörungen definiert sich somit über die entsprechenden bewußten Reaktionen auf den Verlust. Diese These nimmt der New Yorker Neurophysiologe Israel Rosenfield zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Er plädiert für eine weitreichende Einbeziehung psychischer Eigenschaften Hirngeschädigter in die wissenschaftliche und klinische Arbeit.
Um diesen Ansatz zu begründen, untersucht er eine Reihe klassischer neurologischer Studien und Fallbeschreibungen, in denen der erwähnte subjektive Bezug neurogener Ausfälle auf das Selbstbild des Patienten nicht erkannt wurde. Er analysiert ausführlich zentrale Syndrome wie die Farbnamen-Amnesie, das Tourette-Syndrom (eine Störung, die sich in motorischen Automatismen des Gesichts und anderer Regionen äußert) sowie Alexander Lurijas Gedächtniskünstler (einen Mann, der auf Kosten seiner Abstraktionsfähigkeit über eine enorme Speicherkapazität verfügte) und kommt dadurch zu der These, daß erkennendes Verstehen und Körperbild unmittelbar zusammenhängen. Bewußtsein ist demnach ein Wahrnehmungszustand, der aus der Dynamik eines als Erlebnis-, Interpretations- und Inszenierungskontext dienenden Bildes vom eigenen Körper entsteht. Störungen dieses Körperbewußtseins verursachen Störungen des Ich-Gefühls und einen Verlust der Kontinuität von Weltwissen. Erinnerungen sind nicht nur ereignis-, sondern auch subjektbezogen. Vielen neurologischen Syndromen liegt ein Mangel im Körpergefühl als dem unabdingbaren Bezugsrahmen aller übrigen psychischen Funktionen zugrunde. Besonders deutlich wird dies im Falle der Körperschema-Störungen.
Hirnaktivität ist zu keiner Zeit ein isoliertes Ereignis, sondern in einen Zusammenhang mit dem gestellt, was das Gehirn während zuvor vollzogener Wahrnehmungs- und Denkfolgen durchlebt hat. Im Falle einer vollständigen Zerstörung des Selbstbezugs wären sowohl Bewußtsein wie auch jedwedes Verstehen ausgeschlossen. Auch Wesen und Verlauf des Primärspracherwerbs hängen teilweise von dem ebenfalls körperschema-abhängigen Bild der räumlichen Anordnung und Bewegung von Oberflächen und deren Beziehung zu Gegenständen ab.
Die grundlegende Funktion des Selbstbezugs war im Gedankengebäude der klassischen Neurologie nicht enthalten. Zeit und Bewußtsein kamen in den Modellen der Diagrammzeichner nicht vor. Das Gedächtnis als zeitabhängige Instanz kontinuierlichen Weltbezugs gilt Rosenfield als spezifischer Weg des Gehirns, Wissen zu strukturieren. Gedächtnis- und Sprachverlust gelten ihm – ähnlich wie das Erlebnis multipler Persönlichkeit und der Verlust des Langzeitgedächtnisses – als Ausdruck einer tiefgreifend modifizierten Subjektivität, die ihren Ausgang von der Unfähigkeit nimmt, eine konstante und unmittelbare Beziehung zur Umwelt aufzubauen und somit sinnvolle Abstraktionen (Begriffe) zu vollziehen.
Die klassischen Neurologen erlagen dem Irrtum, man könne einzelne Hirnfehlfunktionen aus der Gesamtaktivität des Gehirns isolieren und damit analysieren. Verstehbar werden solche Fehlfunktionen jedoch erst dann, wenn sie in das dem Patienten eigene System krankheitsbedingter Selbstbezüglichkeit eingeordnet werden. Unser Gehirn speichert keine ikonischen (Bild-)Muster unserer Erfahrungen ab, sondern generiert vielmehr ein interdependentes System erfahrungsbedingter und abstrakter Erinnerungen und Denkweisen.
Die moderne Theorie neuronaler Netzwerke bestätigt diese Überlegungen: Nach dem Neurowissenschaftler und Molekularbiologen Gerald Edelman (Nobelpreis 1972) beruht die Kategorisierung von Reizen wesentlich auf der intensiven Kommunikation von Neuronengruppen (die zu sogenannten Karten zusammengefaßt sind). Dieses Modell liefert ein theoretisches Gerüst für die Annahme, mentale Kategorienbildung sei im eigentlichen als Beziehung verschiedener einheitlicher Reaktionen zu verstehen. Letztere können in unterschiedlichen Gehirnarealen lokalisierbare synchrone Schwingungsmuster sein (Spektrum der Wissenschaft, September 1993, Seite 42). Das aus der Wechselbeziehung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Körperbild entstehende Bewußtsein ist Produkt dieser dynamischen Reizfunktionen und repräsentiert deren subjektiven Charakter.
Indem Rosenfield diese Theorie in seine Auffassung von der pathogenen Modifikation von Wissensstrukturen integriert, stimmt er zwar mit den landläufigen Emergenztheorien der kognitiven Neuropsychologie überein. Seine Definition des Ich erliegt jedoch bei näherer Betrachtung einem zirkelhaften Erklärungsmuster: "Mein Ichgefühl stammt aus der Gewißheit, daß meine Erlebnisse sich auf mich beziehen, auf die Person, die sie hatte" (Seite 103).
Die Sprache schafft im erwähnten Komplex von Selbstbezug und daraus erwachsenden Kognitionen eine Systematik von Ordnung und Verfügbarkeit. Namen schaffen Beziehungen auf der Ebene generalisierter Kategorien. Auch hier erzeugen Relationen Bedeutungen. An Aphasie erkrankte Menschen haben den Selbstbezug für die von Wörtern repräsentierten Kategorien verloren. Für sie sind Wörter wie fremde Gegenstände im Umfeld vertrauter Ich-Funktionen, ein dem Ordnungsgefüge einheitlicher Weltinterpretation entronnenes, zufälligen Zugriffsstrategien ausgeliefertes Treibgut. So wie die Sprachentwicklung eine Dokumentation der individuellen Bewußtseinsgeschichte ist, so ist der Sprachverlust als Störung der Symbolverarbeitung ein Spiegel plötzlich veränderter Subjektivität, Teil einer umfassenden Bewußtseinsstruktur. Sprachstörungen sagen etwas über die Dynamik des Bewußtseins aus. Mentale Strukturen sind ihrerseits Formen einer vom Gehirn vollzogenen Organisation von Wissen, so daß das Gehirn als ein ganzheitlich operierendes System von permanent bedeutungserzeugender Dynamik gesehen werden kann.
Rosenfield vereinigt in diesem spannend verfaßten Werk neuere Erkenntnisse konstruktivistischer und kognitionswissenschaftlicher Theorien zu einem hochinteressanten Konglomerat einzelfallanalytischer Studien, welche die klassischen Deutungen sinnvoll neu interpretieren, ihre Defizite aufzeigen und auf moderne Weise ganzheitlich erklären. Damit steht er in der Tradition quasi kriminalistisch arbeitender Neuropsychologen wie des Russen Alexander Lurija (1902 bis 1977) und des Amerikaners Oliver Sacks (geboren 1933), die immer auch der bei neurogenen Störungen zu befragenden Identität der Patienten und der ihnen eigenen Organisation von Krankheit nachspürten.
Hier also liegt eines jener bedeutenderen Bücher vor, denen sowohl der Laie als auch der Fachmann Wertvolles abgewinnen kann.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1994, Seite 122
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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