Mathematik: Das Geheimnis der Rorschachformen
Mit zehn Farbkleksen versuchte der Schweizer Psychoanalytiker Hermann Rorschach im Jahr 1921, die seelische Gesundheit seiner Patienten zu ergründen. Der auf den Faltbildern basierende Test entwickelte sich im 20. Jahrhundert zu einem weltbekannten Diagnoseverfahren der Psychologie, dessen Aussagekraft aus heutiger Sicht allerdings umstritten ist. Menschen fühlen sich von den Tintenbildern an etliche verschiedene Objekte erinnert. Bei einigen der Formen sind bis zu 300 verschiedene Deutungen bekannt.
Nun meint eine Gruppe aus Physikern, Mathematikern und Psychologen um Richard P. Taylor von der University of Oregon in Eugene den Grund dafür gefunden zu haben, weshalb manche Klekse ein größeres Assoziationspotenzial bergen als andere. Offenbar ist die Deutung der Formen immer dann besonders ergiebig, wenn ihr Rand einen eher geringen Grad an Komplexität aufweist.
Die Tintenklekse lassen sich mit so genannten Fraktalen beschreiben. Darunter verstehen Mathematiker unregelmäßige Muster, die sich wiederholen, wenn man die Oberfläche eines Objekts vergrößert. Fraktale Strukturen kommen auch in der Natur vor, zum Beispiel bei Schneeflocken und Wolken. Bereits 1990 stellten Wissenschaftler die Vermutung auf, dass Naturformen vor allem dann die Fantasie anregen, wenn ihre fraktalen Merkmale nur schwach ausgeprägt sind. Das gilt laut der Forschungsarbeit von Taylor und seinen Kollegen auch für Rorschach-Bilder. Das Team entwickelte eine Kennzahl, die Werte zwischen 1,0 und 2,0 annehmen kann und als Maß für die fraktale Komplexität am Rand der zehn historischen Figuren diente. Liegt die Zahl bei 1,0, ist der Rand einer Form glatt wie eine Linie. Nähert sie sich 2,0, ist die Umrandung einer Figur stark zerklüftet.
Die Forscher verglichen die von einem Computeralgorithmus berechneten Kennzahlen mit Aufzeichnungen von Psychologen aus den 1930er und 1950er Jahren. Diese hatten festgehalten, mit wie vielen Objekten die jeweiligen Rorschach-Faltbilder von Patienten in Verbindung gebracht wurden. Dabei stieß Taylors Team auf eine deutliche Korrelation: Je niedriger die Kennzahl eines Kleckses, desto mehr Deutungen hatte er hervorgerufen. Das bestätigte sich bei einem Test in der Gegenwart. Die Wissenschaftler ließen einen Algorithmus verschiedene Rorschach-Formen erstellen und zeigten sie anschließend 23 amerikanischen Psychologiestudenten. Auch diese fühlten sich an umso mehr Objekte erinnert, je geringer die fraktale Komplexität des Randes einer Figur war. Dabei zeigte sich allerdings, dass ein geringes Maß an Zerklüftung nötig zu sein scheint, um die Fantasie anzuregen: Eine Figur mit komplett glattem Rand löst den Wissenschaftlern zufolge kaum Assoziationen aus.
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