Schmecken: Das Geheimnis des Geschmackssinns
Wie Geschmackszellen Substanzen erkennen, beginnen Forscher erst jetzt zu verstehen. Allmählich klärt sich auch, wie einzelne Geschmacksqualitäten im Gehirn repräsentiert werden.
Was ist das süße Geheimnis köstlicher Pralinen? Die gelungene Komposition verschiedener Empfindungen im Mund. Süßer Zucker weckt Appetit, bittere Schokolade liefert einen pikanten Gegensatz. Eine Praline ist innen cremig, eine andere sahnig-flüssig, die dritte enthält einen Fruchtkern. Bei jeder erwarten wir gespannt das Gefühl beim Schmelzen und Zerkauen, freuen uns auf ein Aroma, das in die Nase steigt, sobald wir den Mund zum Schlucken schließen.
Dass der Geruchssinn dabei mitwirkt, den Geschmack der Nahrung zu erkennen, weiß jeder spätestens seit seinem letzten Schnupfen. Mit verstopfter Nase schmeckt jedes Essen fade. Auch das so genannte Mundgefühl der Speisen ist für ihren Geschmack wichtig. Sinnesphysiologen verstehen darunter die Berührungsreize beim Lutschen, Beißen und Kauen, ebenso Wärme- und Kälteempfindungen.
Nach herkömmlicher Meinung registriert der eigentliche Geschmackssinn allerdings nur die vier Grundgeschmäcke "salzig", "sauer", "süß" und "bitter". Denn auf diese Eigenschaften reagieren die Geschmackssinneszellen auf der Zunge und im Gaumen. Möglicherweise existieren aber noch ein paar mehr Grundqualitäten. Vor allem japanische Forscher meinen, dass die Geschmackszellen auch eine Qualität "Fleischgeschmack" erkennen, japanisch "Umami". Es handelt sich dabei um den Geschmack, den Glutamat hervorruft, das Salz einer der zwanzig Aminosäuren, aus denen die tierischen und pflanzlichen Proteine bestehen. Nicht zufällig dient Glutamat auch bei uns als Würzmittel und Geschmacksverstärker.
Das Schmecken gehörte bis vor kurzem zu den am wenigsten erforschten Sinnen. Doch in den letzten Jahren wuchs das Verständnis seiner biochemischen und neuronalen Vorgänge beträchtlich. So identifizierten Neurobio-logen – darunter auch einer von uns (Margolskee) – bei den Geschmackssinneszellen Proteine, die beim Erkennen von Süßem und Bitterem entscheidend mitwirken. Die Forscher nennen diese "geschmacksleitenden" Moleküle demgemäß "Gustducine". Bemerkenswerterweise ähneln die neuen Proteine stark einer Proteinklasse in den Sinneszellen der Netzhaut, die hilft, visuelle Reize aufzufangen. Für Salziges und Saures benutzen die Sinneszellen jedoch einen anderen Mechanismus. Von diesen Substanzen gelangen elektrisch geladene Atome oder Moleküle, so genannte Ionen, in die Sinneszellen. Mindestens ebenso spannend sind Befunde über Weiterleitung und Verarbeitung der Sinneseindrücke im Gehirn. An diesen Forschungen war unter anderem das Team des Zweiten von uns (Smith) beteiligt. Wie wir feststellten, können einzelne Nervenzellen des Geschmackssystems auf mehr als nur eine Geschmackssorte ansprechen – ähnlich wie Neuronen beim Farbensehen bei mehr als einer Farbe aktiv sind.
Schmeckzellen in Spezialstrukturen
Seinen Anfang nimmt das Schmecken in den "Geschmacksknospen" oder "Schmeckbechern". So heißen die mikroskopisch kleinen, zwiebelförmigen Gebilde, in denen jeweils fünfzig bis hundert "Geschmackssinneszellen" oder "Schmeckzellen" zusammen lagern wie Schnitze in einer Apfelsine.
Die Geschmacksknospen sitzen hauptsächlich auf der Zunge und im Gaumensegel. Auf der Zunge stecken sie meistens in so genannten Papillen – winzigen, mit bloßem Auge sichtbaren Auswüchsen, die der Zungenoberfläche ihr samtiges Aussehen verleihen. Allerdings enthalten nicht alle Zungen- papillen Geschmackssinneszellen: Die Fadenpapillen, die häufigste Sorte, sind für Berührungsreize zuständig. Von den übrigen, denen mit Schmeckzellen, fallen die
- "Pilzpapillen" auf dem vorderen Teil der Zunge als Erste auf. Das bloße Auge erkennt sie als erhabene rosa Pünktchen. Pilzpapillen sind deutlich zu sehen, wenn jemand gerade Milch getrunken hat oder wenn man ein wenig Lebensmittelfarbe auf die Zungenspitze träufelt. Manche Pilzpapillen tragen mehrere Geschmacksknospen, manche nur eine. Ziemlich weit hinten auf der Zunge sitzen – angeordnet wie ein umgekehrtes "V" – die ungefähr zwölf sehr gut sichtbaren
- "Wallpapillen". Sie sind viel größer als die Pilzpapillen und enthalten jede an die hundert Geschmacksknospen. Auch die großen
- "Blattpapillen", die flachen Einkerbungen am hinteren Seitenrand der Zunge, enthalten jeweils rund fünfzig Geschmacksknospen.
Eine Geschmacksknospe mündet an ihrer Spitze in eine Eintiefung der Schleimhaut, die "Geschmackspore". Dort hinein bilden die länglich gestreckten Sinneszellen fingerförmige Fortsätze (so genannte Mikrovilli). An diesen Fingern kommen im Speichel gelöste Stoffe mit den Sinneszellen in Berührung.
Diese Sinneszellen schicken keine eigenen Zellfortsätze ins Gehirn. Stattdessen signalisieren sie die Ereignisse Nervenzellen, deren Ausläufer in die Geschmacksknospen hineinragen. Über diese Ausläufer gelangen die Signale zum Gehirn.
In den Sinneszellen verursachen die Geschmacksstoffe eine Kaskade von Reaktionen. Dadurch verändern sich an der äußeren Zellmembran die elektrischen Ladungsverhältnisse. (Normalerweise herrscht im Zellinneren der Sinneszellen – wie auch in Nervenzellen – bedingt durch eine entsprechende Verteilung von Ionen eine negative elektrische Ladung gegenüber außen. Nun aber öffnen sich Ionenkanäle in der Zellmembran, und positive Ionen können vermehrt einströmen.) Durch die Ladungsveränderungen an der Zellwand wiederum erhält die Sinneszelle den Anstoß, einen Signalstoff freizusetzen. Diesen Signalstoff – einen neuronalen Botenstoff oder Neurotransmitter – fangen Nervenzellen auf, wandeln ihrerseits das chemische Signal in ein elektrisches um und senden dieses weiter ins Gehirn.
Eine Sinneszelle reagiert auf die Stoffe im Speichel in verschiedener Weise – je nachdem, welche der klassischen Geschmacksqualitäten mit ihr in Berührung kommen. Bei salzigen und sauren Substanzen lösen typischerweise deren Ionen die Empfindung aus. Diese Ionen gelangen teilweise ins Zellinnere – durch Ionenkanäle in den Sinnesfingern –, oder sie verändern das Verhalten von Membrankanälen für andere Ionen.
Bei Bitterem und Süßem setzt die Sinneszelle andere Mechanismen ein. Sie erkennt dergleichen Moleküle mit Hilfe von Rezeptoren, speziellen Proteinen, auf ihren Sinnesfingern. Dabei gelangen die Geschmacksstoffe selbst nicht in die Zelle. Solche besonderen Rezeptorproteine dürften auch beim japanischen Geschmack "Umami" mitwirken. Es hat lange gedauert, bis die Geschmacksforscher dahinter kamen, auf welche Weise Schmeckzellen diese drei Qualitäten erkennen. Erst vor kurzem fanden sie einige der Rezeptoren und deren Helfer.
Dabei zeigten Versuche an Tieren wie auch Menschen, dass eine bestimmte chemische Substanzklasse nicht immer die gleiche Geschmacksqualität hervorruft. Das gilt besonders für bitter und süß. Zum Beispiel schmecken zwar viele, aber nicht alle Kohlenhydrate wie etwa Zucker süß, wenn sie sich im Speichel lösen. Umgekehrt erzeugen manchmal zwei chemisch völlig unterschiedliche Verbindungen die gleiche Geschmacksqualität: Chloroform und die künstlichen Süßstoffe Aspartam und Saccharin schmecken süß, obwohl sie chemisch gesehen nichts mit Zucker zu tun haben. Bei Salzigem und Saurem ist die Bandbreite weniger groß.
Das könnte mit den beiden verschiedenen Wirkungsweisen der Geschmacksqualitäten zusammenhängen. Die Kontaktaufnahme durch Ionenkanäle erfordert nicht so viele Reaktionsschritte. Bitteres und Süßes muss erst an Oberflächenrezeptoren binden, von denen dann Signalkaskaden ins Zellinnere vordringen. Der Geschmacksstoff muss an den Rezeptor passen, etwa so wie ein Schlüssel ins Schloss. Dann erst kann die Signalkaskade "zünden". Dies steuert das Rezeptormolekül aber nicht allein. 1992 identifizierten Margolskee und seine Mitarbeiter ein Schlüsselmolekül am Anfang dieser Reaktionskette. Sie nannten das Molekül "Gustducin" ("geschmacksleitend") – in Analogie zu dem sehr ähnlichen Transducin, welches in der Netzhaut Lichtreize in elektrische Impulse umwandeln hilft.
Molekulare Helfer
Sowohl Gustducin als auch das verwandte Molekül in der Netzhaut gehören zu den so genannten G-Proteinen, einer wichtigen Molekülklasse an Zellmembranen für die Übermittlung von Signalen. (Der Name bezieht sich auf die Verbindung Guanosintriphosphat, GTP, von der die Aktivität dieser Proteine abhängt.) G-Proteine sitzen an vielen unterschiedlichen Rezeptortypen. Wenn ein passendes Molekül im Speichel an einen Geschmackszellrezeptor bindet, zerfällt das Gustducin in seine Untereinheiten. Und das löst nun über weitere Moleküle die Kaskade in der Zelle aus.
Ein entscheidender Versuch gelang einem von uns (Margolskee) im Jahre 1996. Zusammen mit anderen Wissenschaftlern experimentierten wir damals mit Mäusen, die ein defektes G-Protein besaßen. Die Nager waren genetisch so manipuliert, dass den Tieren eine der drei Gustducin-Komponenten fehlte. Was uns interessierte: Würden die Mäuse mit dem defekten G-Protein bitter und süß wirklich nicht mehr schmecken können wie normalerweise? Das Experiment bestätigte unsere Erwartungen: Die Tiere gierten nicht mehr nach Zuckerwasser und tranken selbst stark bittere Lösungen anstandslos, als wäre es reines Wasser. Stimmig dazu zeigten auch die entsprechenden Nervenbahnen ins Gehirn bei süßen und bitteren Substanzen eine ungewöhnlich geringe Aktivität. Auf salzig und sauer reagierten diese Nervenzellen aber normal.
Im letzten Jahr gelang es dann endlich zwei Forschergruppen, einige der Rezeptoren zu identifizieren, die Gustducin aktivieren – und zwar Rezeptormoleküle, an die sich Bitteres anlagert (siehe Spektrum der Wissenschaft 7/00, S. 16). Die eine Gruppe arbeitete an der Universität von Kalifornien in San Diego und am Nationalinstitut für Zahn- und Gesichtsschädelforschung in Bethesda (US-Bundesstaat Maryland), die andere an der Harvard Universität. Wie die Forscher feststellten, gehören diese Bitter-Rezeptoren zu einer Familie mit geschätzten 40 bis 80 verwandten Proteinen. (Sie nannten die Moleküle T2R oder T2B; "T" steht für englisch taste, Geschmack, "R" für Rezeptor).
Als die Forscher die Gene von zwei dieser Rezeptoren von Mäusen (bezeichnet als mT2R5 und mT2R8; "m" für Maus) in kultivierte Zellen einbauten, konnten sie diese Zellen später mit zwei verschiedenen Bitterstoffen tatsächlich aktivieren. Zudem stellten die Wissenschaftler fest, dass gewisse Mäusestämme eine bestimmte Variante des Gens für mT2R5 weitervererben. Tieren mit diesem Gen schmeckt das Antibiotikum Cycloheximid bitter. Nach all dem dürften die T2R-Rezeptoren wirklich für das Schmecken von bitteren Stoffen verantwortlich sein. Auch den Rezeptoren für Süßes sind Wissenschaftler inzwischen auf der Spur.
Ein Rezeptor-Kandidat für den Umami-Geschmack wird ebenfalls untersucht. 1998 konnten Wissenschaftler von der Universität Miami (US-Bundesstaat Florida) aus Rattenzellen einen Rezeptor isolieren, an den sich Glutamat bindet. Das japanische Wort "Umami" könnte man genauso mit "fleischartig" übersetzen wie mit "wohlschmeckend" oder "würzig". Manche Forscher meinen, dass der gefundene Rezeptor tatsächlich diese besondere Geschmacksqualität übermittelt.
Doch andere Wissenschaftler sind noch nicht überzeugt, dass "Umami" überhaupt eine fünfte Hauptgeschmacksrichtung darstellt. Zwar scheint Glutamat einen ganz eigenen Sinneseindruck zu vermitteln. Doch nur in Japan existiert dafür ein eigenes Wort.
Unsere Geschmackswahrnehmung erfasst aber weit mehr, als dass eine Speise süß oder sauer, bitter oder salzig ist. Denn das Geschmackssystem registriert neben den Hauptgeschmacksrichtungen weitere Eigenschaften der chemischen Reize und leitet diese zeitgleich zum Gehirn. Wir spüren zum Beispiel, wie intensiv etwas schmeckt, und ebenfalls, ob eine Speise wohlschmeckend ist, ob sie nach Nichts oder ob sie widerlich schmeckt. Ähnlich übermitteln im Sehsystem die beteiligten Nervenzellen Form, Helligkeit, Farbe und Bewegung simultan. Die Geschmacksnervenzellen sprechen zudem oft bei Berührungs- und Temperaturreizen an.
Geschmack im Gehirn: ein übergreifendes Erregungsmuster
Wie aber kommt nun eine Geschmacksempfindung zu Stande? Die einzelnen Sinneszellen reagieren auf mehrere Geschmacksqualitäten. Geben jedoch die einzelnen Nervenzellen, die das Signal zum Gehirn tragen beziehungsweise die es dann zu aderen Verrechnungsstationen weiterleiten, ebenfalls ein gemischtes Signal weiter oder sind sie jeweils nur für eine bestimmte Geschmacksart zuständig? Die Ansichten darüber wechselten mehrmals. Denn wie können wir einzelne Geschmäcke trotzdem unterscheiden, wenn die Neuronen keine eindeutigen Signale übermitteln?
Inzwischen wissen wir, dass die Nervenzellen im typischen Fall bei mehr als nur einer Reizqualität ansprechen. Das gilt sowohl für die Neuronen, die von den Geschmacksknospen Signale aufnehmen und zum Gehirn senden, als auch für die, welche die Signale im Gehirn weiterverarbeiten. Zwar spricht jedes Neuron auf eine von den Grundqualitäten stärker an als auf die jeweils anderen. Doch in der Regel lassen die Geschmacksnervenzellen sich auch bei einem oder mehreren der anderen Geschmacksrichtungen erregen.
Wie hält das Gehirn dann die einzelnen Qualitäten auseinander? Viele Wissenschaftler sind mittlerweile der Ansicht, dass die spezifischen Wahrnehmungen in den Aktivitätsmustern repräsentiert sein müssen, die zahlreiche Nervenzellen miteinander bilden.
Ähnliches hatte vor einem halben Jahrhundert schon der amerikanische Neurobiologe Carl Pfaffmann vermutet. Anfang der vierziger Jahre hatte er die ersten elektrophysiologischen Messungen an Geschmacksneuronen durchgeführt und nachgewiesen, dass die einzelnen Nervenzellen, die von den Sinneszellen ins Gehirn ziehen, nicht spezifisch bei einer einzigen Geschmackssorte reagieren, sondern zugleich ein Spektrum von Geschmäcken repräsentieren. Weil sie also mehrdeutige Signale liefern, vermutete Pfaffmann, dass der empfundene Geschmack in dem Muster aus den Erregungen vieler Nervenzellen verschlüsselt liege.
Später gewann allerdings eine andere Auffassung die Oberhand. In den siebziger und achtziger Jahren fanden Wissenschaftler immer mehr Hinweise auf ein doch relativ eindeutiges Verhalten der Geschmacksneuronen. Sie konnten messen, dass die einzelnen Nervenzellen bei einer bestimmten Geschmacksqualität ganz besonders stark ansprechen (siehe Grafik rechts). Daraus schlossen die Forscher, dass jede dieser Nervenzellen für eine bestimmte Reizqualität zuständig, also darauf feinabgestimmt ist und dass folglich verschiedene Typen von Geschmacksneuronen existieren müssen. Ein Neuronentyp übermittelt nach dieser Hypothese folglich die Information "Süße", ein anderer Typ "Bitterkeit" und so weiter.
Kooperation der Neuronen
Wie sich allerdings 1983 herausstellte, bestimmen diese angeblich spezifischen Nervenzelltypen ebenfalls das jeweilige Aussehen der übergreifenden Erregungsmuster, nämlich deren Ähnlichkeiten und Unterschiede. Die Forscher konnten dann auch belegen, dass unterschiedliche Typen dieser Neuronen gleichzeitig aktiviert sein müssen, damit das Gehirn Reizqualitäten auseinander halten kann. Wiederum zeigt sich eine Parallele zum visuellen System: Auch bei der Farbwahrnehmung müssen verschieden ausgestattete Photorezeptorzellen zusammenwirken. Wegen solcher Befunde favorisieren wir heute die These, dass die Geschmacksinformationen in übergreifenden Aktivitätsmustern der Neuronen enthalten sind.
Wir wissen sogar schon einiges über diese Erregungsmuster der Geschmacksneuronen: Ähnlich schmeckende Stoffe erzeugen nämlich ähnliche Aktivitätsbilder bei Neuronengruppen. Mit statistischen Verfahren lassen sich auch die Muster vergleichen, die bei verschiedenen Geschmacksstoffen entstehen. Bisher gelang das bei Hamstern und Ratten. Erfreulicherweise passen diese Befunde gut zu den Ergebnissen von Verhaltensstudien, mit denen Wissenschaftler prüfen, ob Tiere zwei Substanzen geschmacklich auseinander halten können. Die übergreifenden Erregungsmuster tragen also offensichtlich genügend Information dafür, dass einzelne Geschmäcke erkannt werden können.
Ein simpler Versuch demonstriert dies. Gibt man Nagern die Substanz Amilorid auf die Zunge, so unterscheiden die Tiere in Verhaltenstests nicht mehr zwischen Kochsalz (Natriumchlorid, NaCl) und dem chemisch nahe verwandten Kaliumchlorid (KCl). Wie neurophysiologische Untersuchungen ergaben, "schweigen" dann tatsächlich bestimmte Neuronentypen in den Geschmacksnerven. Das sind offenbar hauptsächlich jene Nervenzellen, die normalerweise am stärksten bei Kochsalz reagieren, denn andere Fasern der Geschmacksnerven lassen sich immer noch unvermindert erregen. Amilorid blockiert nämlich Natriumkanäle an den "Fingern" der Geschmackssinneszellen, in die sonst Natrium-Ionen eindringen können.
Vor kurzem konnten wir außerdem zeigen, dass die Amiloridbehandlung bei Ratten den Unterschied in den übergreifenden neuronalen Erregungsmustern aufhebt, der gewöhnlich zwischen Natrium- und Kaliumchlorid auftritt. Das erklärt, weswegen die Ratten die beiden Stoffe nun nicht mehr getrennt herausschmecken können.
Man kann die Unterscheidung zwischen den beiden Salzen aber auch stören, indem man andere Typen von Geschmacksneuronen behindert, die normalerweise am Gesamterregungsmuster im Gehirn mitwirken. All dies zeigt deutlich, dass nicht jeweils ein spezifischer Geschmacksneuronentyp allein für die Zuordnung einer Geschmacksqualität verantwortlich ist, sondern andere Typen mitwirken. Erst das gesamte Erregungsmuster ermöglicht die Unterscheidung. Bei der Geschmackserkennung kommt es also auf den relativen Beitrag der einzelnen Typen von Geschmacksneuronen an. Kein Anteil darf fehlen.
Das bedeutet natürlich, dass die Forscher immer das Aktivitätsniveau einer großen Zahl von Neuronen zugleich messen müssen, um einen Eindruck davon zu erhalten, welche Reizempfin-dung sie nun gerade registrieren. Für sich genommen vermag kein Neuronentyp allein Reizqualitäten zu repräsentieren oder zwischen ihnen zu unterscheiden. Denn die einzelne Zelle antwortet unter Umständen auf verschiedene Geschmacksstoffe gleich, beim einen allerdings bei einer hohen, beim anderen bei einer niedrigen Konzentration. Auch solches Verhalten kennen wir von den Sehzellen im Auge: Die drei Sorten von Rezeptoren für das Farbensehen sprechen jede auf eine bestimmte Wellenlänge am empfindlichsten an, lassen sich aber auch von anderen Wellenlängen aktivieren. Erst die drei Photopigmente zusammen ermöglichen uns, die vielen Farbabstufungen des Regenbogens wahrzunehmen. Fehlt eines davon, stört das die Farbwahrnehmung empfindlich, weit über den Frequenzbereich hinaus, auf den der betroffene Rezeptortyp am empfindlichsten reagiert. So werden Rot und Grün ununterscheidbar, sobald entweder das rote oder das grüne Pigment fehlt.
Ähnlich könnte man sich die neuronale Codierung des Geschmacks vorstellen. Allerdings sind sich Geschmacksforscher noch nicht sicher, ob die einzelnen Neuronentypen beim Schmecken nicht doch mehr zu sagen haben als beim Farbensehen. Und sie überlegen, ob es sich beim Geschmackssinn um einen "analytischen" Sinn handelt, der jede Reizqualität separat erfasst. Im Gegensatz dazu erzeugt ein synthetischer Sinn – wie der Farbensinn – aus den Einzelqualitäten einen einzigen Gesamteindruck. Bei Mischfarben sehen wir nur eine Gesamtfarbe. Zu den großen Fragen gehört vor allem, wie das Geschmackssystem mit seinen eher unscharf eingestellten Nervenzellen mehrere Substanzen zugleich registrieren kann.
Auch wenn das Geschmackssystem immer noch zu den am wenigsten verstandenen Sinnen gehört: Allmählich ergeben die neuen Erkenntnisse ein zusammenhängendes Bild. Dieses Wissen dient nicht zuletzt unserer Gesundheit und Lebensqualität. Das fängt an bei künftig besseren Ersatzstoffen für Zucker, Salz oder Fett und reicht bis in die Versorgung kranker und alter Menschen, denen aus physiologischen Gründen das Essen nicht mehr schmeckt.
Literaturhinweise
The Molecular Physiology of Taste Transduction. Von T. A. Gilbertson, S. Damak und R. F. Margolskee in: Current Opinion in Neurobiology, Bd. 10, Heft 4, S. 519, 8/2000.
Neural Coding of Gustatory Information. Von David V. Smith und Stephen J. St. John in: Current Opinion in Neurobiology, Bd. 9, Heft 4, S. 427, 8/99.
Steckbrief
Problem – Beim Schmecken müssen Sinneszellen im Mund chemische Reize erkennen und dies Nervenzellen signalisieren, welche die Information ins Gehirn senden.
– Einzelne Nervenzellen codieren nicht eine spezifische Geschmacksqualität, sondern schicken ein gemischtes Signal zum Gehirn.
Lösung
- Auf jede der Grundgeschmacksqualitäten reagieren Sinneszellen anders. Ionen von sauren und salzigen Substanzen dringen unter anderem direkt in die Zellen ein. Für die größeren Moleküle von süßen und bitteren Stoffen tragen die Sinneszellen spezifische Erkennungsstrukturen. Geschmacksstoffe lösen in den Sinneszellen Reaktionskaskaden aus. Das veranlasst die Sinneszellen, einen chemischen Botenstoff auszuschütten, auf den anschließend Nervenzellen reagieren.
– Im Gehirn werden Geschmacksqualitäten durch Erregungsmuster repräsentiert, an denen viele Nervenzellen mitwirken.
Wie eine Sinneszelle auf Geschmacksstoffe reagiert
Die Grundgeschmacksqualitäten – salzig, sauer, süß, bitter, "Umami" – erregen die Sinneszellen in jeweils eigener Weise. Bei salzigen und sauren Substanzen geschieht das weitgehend durch Ionen (elektrisch geladene Teilchen), bei den anderen Geschmacksqualitäten durch einen komplizierteren Mechanismus. Zur besseren Übersichtlichkeit sind hier fünf verschiedene Zellen dargestellt. An sich ist jede Sinneszelle für mehrere Geschmacksqualitäten empfänglich.
Salzig: Die Natrium-Ionen von Kochsalz (Natriumchlorid) etwa dringen durch Ionenkanäle auf den fingerförmigen Fortsätzen der Sinneszelle ein. Solche Ionenkanäle trägt die Zelle auch andernorts. Durch die positiv geladenen Ionen verringert sich das innen gegen außen negative Spannungsgefälle an der Außenmembran der Zelle. Auf diese so genannte Depolarisation reagiert die Zelle, indem sie Calcium-Ionen einströmen lässt. Das Calcium wiederum gibt den Anstoß dafür, dass die Sinneszelle an Nervenzellen einen Signalstoff (Neurotransmitter oder neuronalen Botenstoff) abgibt, den sie aus Vesikeln, kleinen Bläschen, freisetzt. Angrenzende Nervenzellfortsätze empfangen die chemische Botschaft und leiten sie als Nervensignale an das Gehirn weiter. Ihren Grundzustand stellen die Sinneszellen unter anderem dadurch wieder her, dass sie Kanäle öffnen, durch die sie nun speziell Kalium-Ionen nach außen lassen.
Sauer: Den sauren Geschmack erzeugen die Wasserstoff-Ionen von Säuren. Diese positiv geladenen Ionen können erstens selbst in die Sinneszelle eindringen. Zweitens blockieren sie auf den Fingerfortsätzen der Zelle Kanäle, durch die sonst Kalium austritt. Drittens können sie sich an Kanäle anlagern, durch die daraufhin noch andere positiv geladene Ionen in die Zelle gelangen. Aus alldem resultiert eine Ansammlung positiver Ladungsträger in der Zelle. Die Sinneszelle reagiert, indem sie Calcium einlässt, und schüttet am Ende Botenstoff aus.
Süß: Zucker und künstliche Süßstoffe dringen nicht in die Geschmackszellen ein. Sie binden sich an Rezeptoren auf der Zelloberfläche. Diese Erkennungsmoleküle sind an G-Proteine gekoppelt, so genannte Gustducine. Bei Anlagerung des Geschmacksstoffs zerfällt das G-Protein in zwei Teile. Das aktiviert ein benachbartes Enzym, welches ein Vorläufermolekül in der Zelle in einen so genannten sekundären Botenstoff umwandelt. Dieser Botenstoff sorgt für die Schließung der Kaliumkanäle und löst damit die weiteren Abläufe aus.
Bitter: Chinin und andere bittere Stoffe erregen die Zelle über die Aktivierung von G-Protein-gekoppelten Rezeptoren und sekundären Botenstoffen. Allerdings bewirken die sekundären Botenstoffe in diesem Fall, dass aus dem endoplasmatischen Reticulum (einem Membransystem in der Zelle) gespeichertes Calcium ins Zellplasma freikommt. Die Ansammlung von Calcium-Ionen bewirkt eine Depolarisation; diese lässt noch mehr Calcium einströmen. Das viele Calcium löst die Ausschüttung von neuronalen Botenstoffen aus.
Die alte Zungenkarte stimmt nicht!
Ältere Lehr- und Schulbücher zeigen sie noch: die Karte von einer Zunge, die an der Spitze Süßes schmeckt und hinten Bitteres. Diese Darstellung kam im frühen zwanzigsten Jahrhundert auf und wurde bald populär. Doch sie ist falsch! Sie bezieht sich auf über hundert Jahre alte Studien, deren Ergebnisse spätere Wissenschaftler falsch deuteten.
Geschmacksforscher wissen seit langem, dass die Zunge nicht einzelne exklusive Zonen für bestimmte Geschmäcke aufweist. Denn sämtliche Bereiche, die Geschmacksknospen tragen, können alle Geschmacksqualitäten erfassen. Die Empfindlichkeit für die einzelnen Qualitäten unterscheidet sich zwar etwas an einzelnen Stellen von Zunge und Gaumen. Doch bisher weist nichts darauf hin, dass die Repräsentation von Geschmack im Gehirn sich irgendwie in einer räumlicher Aufteilung auf der Zunge wiederfindet.
Heißhunger und Ekel
Die Geschmackszellen im Mund helfen uns, das Richtige zu essen – das, was der Körper braucht. Beispielsweise erzeugt der süße Geschmack von Zucker ein starkes Verlangen nach Kohlenhydraten. Aber die Geschmackssignale lösen auch physiologische Reaktionen aus. Sie regen etwa die Freisetzung des "Zuckerhormons" Insulin an, bereiten den Körper also auf die Verwertung der Nährstoffe vor. Fehlt dem Organismus Natrium, eines der Elemente von Kochsalz, verspüren wir Hunger auf Salziges. Und Mangelernährung weckt oft besonders den Appetit auf vitamin- und mineralstoffreiche Speisen.
Ebenso wichtig ist, dass wir giftige und verdorbene Nahrung instinktiv ablehnen. Stark Bitteres speien wir unwillkürlich aus. Dass viele Pflanzengifte, wie Strychnin, intensiv bitter schmecken, ist wohl kein Zufall. Denn Pflanzen schützen sich so gegen Tierverbiss. Auch der oft säuerliche Geschmack von verdorbenen Lebensmitteln erregt Ekel.
Anscheinend sind die Lust auf Süßes und der Ekel vor Bitterem angeboren. Hierfür dürften neuronale Verschaltungen im unteren Hirnstamm verantwortlich sein. Denn Neugeborene, deren Großhirn fehlt, wie auch Tiere mit durchtrenntem Vorderhirn verziehen das Gesicht, wenn sie etwas Bitteres schmecken. Bei Süßem entspannt sich die Mimik.
Diese sehr starke Kopplung zwischen einem Geschmackseindruck und einer Emotion bildet die Grundlage für gelernte Abneigungen gegen bestimmte Speisen. Dazu genügt oft ein einziges Ereignis im zeitlichen Zusammenhang. Wenn wir nach dem Verzehr einer uns ungewohnten Nahrung Bauchschmerzen bekommen, geben wir gewöhnlich dem Essen die Schuld – auch wenn beides gar nicht zusammenhängt – und meiden diese Speise in Zukunft. Auch Tiere fressen ein Futter nicht mehr, wenn es ihnen danach übel erging, selbst wenn dies Stunden später geschah.
Dieser Effekt erklärt großenteils auch die Appetitlosigkeit, unter der Krebspatienten während einer Chemo- oder Bestrahlungstherapie leiden. Übelkeit gehört zu den Nebenwirkungen solcher Behandlungen. Der Patient lastet sein Befinden aber unwillkürlich auch den Speisen selbst an und empfindet einen Widerwillen gegen sie.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 2001, Seite 38
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