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Das Immunsystem des Gehirns

Zellen der Mikroglia haben normalerweise eine Schutzfunktion im Zentralnervensystem, können aber auch zerstörerisch wirken und tragen möglicherweise zu degenerativen Erkrankungen des Gehirns sowie zur Demenz bei AIDS bei.

Anders als sonstwo im Körper sind in gesundem Gewebe von Gehirn oder Rückenmark nur selten dem Blut entstammende Immunzellen zu finden. Das leuchtet auch ein: Diese Armada zur Bekämpfung von Infektionen und Krebs operiert mit chemischen Waffen, die für Zellen tödlich sein können; untergegangene Nervenzellen aber vermag der Organismus nicht mehr zu ersetzen.

Normalerweise werden die zu den weißen Blutkörperchen gehörenden Immunzellen daran gehindert, aus der Blutbahn ins Zentralnervensystem zu wandern. Der Durchtritt gelingt ihnen eigentlich nur, wenn die Gefäßwände verletzt oder durch Krankheit geschädigt sind.

Daher rührte die früher verbreitete Annahme, dem Zentralnervensystem fehle ein Immunschutz. Wie jedoch Forschungen der letzten Jahre belegen, verfügt es über ein umfangreiches Verteidigungsnetz aus kleineren Zellen des Gliagewebes (benannt nach griechisch glia, Leim). Meist erfüllen diese Mikroglia-Zellen ihre Aufgabe, ohne Neuronen dabei zu schaden. Die Hinweise mehren sich aber, daß sie einige gravierende Leiden mitverursachen oder verschlimmern können, darunter Schlaganfall, Alzheimer-Krankheit, Multiple Sklerose und andere neurodegenerative Erkrankungen.


Die Entdeckung

Als eigenes Gewebe erkannt wurde die Neuroglia im vergangenen Jahrhundert mit der Entwicklung spezieller Färbetechniken für Nervenzellen. Den Begriff eingeführt hat 1846 der deutsche Pathologe Rudolf Virchow (1821 bis 1902); er hielt sie für eine Art einheitliches Bindegewebe, einen uninteressanten Kitt zwischen den Neuronen in Gehirn und Rückenmark. Rund 75 Jahre später waren darin drei verschiedene Zelltypen identifiziert: Astrocyten und Oligodendrocyten (zusammen als Makroglia-Zellen bezeichnet) sowie Mikroglia-Zellen (Bild 1); und in den siebziger Jahren unseres Jahrhunderts war klar, daß zumindest die der Makroglia wichtige Funktionen erfüllen.

So nehmen die sternförmigen Astrocyten, die von allen drei Typen den größten Zellkörper haben, überschüssige Transmittermoleküle aus der Umgebung der Nervenzellen auf und schützen sie auf diese Weise vor übermäßiger Stimulation (Spektrum der Wissenschaft, Juni 1989, Seite 52). Mit solchen Botenstoffen werden an den Schaltstellen zwischen Neuronen Nervensignale übertragen. Oligodendrocyten, die nächstkleinere Kategorie, bilden das Myelin, die elektrisch isolierende Scheide der Axone (der langen Nervenfasern, die elektrische Signale weiterleiten; Bild 1 unten). Myelin ist nicht etwa eine ausgeschiedene Substanz; es handelt sich vielmehr um flache, regelrecht um die Faser gewickelte Zellausläufer (Spektrum der Wissenschaft, Juli 1980, Seite 12).

Einige Forscher vermuteten denn auch bei den kleinsten der Gruppe, den Mikroglia-Zellen, ebenfalls eine spezielle Funktion, und zwar eine immunologische. Aber bis in die achtziger Jahre fehlte das methodische Rüstzeug, dies zu beweisen. Die Idee fußte hauptsächlich auf eingehenden Forschungen von Pio del Río-Hortega (1882 bis 1945) nach dem Ersten Weltkrieg. Der Schüler des spanischen Neuroanatomen Santiago Ramón y Cajal (1852 bis 1934; Nobelpreis 1906) entwickelte 1919 eine auf Silbercarbonat basierende Färbemethode für Gewebedünnschnitte, mit der sich die Zellen der Mikroglia von den übrigen im Gehirn unterscheiden ließen. Mehr als ein Jahrzehnt verbrachte er damit, soviel wie möglich über diese dann nach ihm benannten Zellen herauszubekommen (siehe Kasten auf Seite 84).

Wie er feststellte, treten sie im embryonalen Gehirn zunächst unregelmäßig gestaltet auf und differenzieren sich im weiteren Verlauf zu reich verzweigten Formen, die alle Hirnregionen bevölkern. Dabei nehmen sie Kontakt zu Neuronen und Astrocyten auf, nicht aber zueinander. Nach ernsten Hirnverletzungen jedoch, einer Stichwunde beispielsweise, beobachtete del Río-Hortega eine dramatische Wandlung: Die verzweigten Zellen zogen ihre feinen Ausläufer ein und schienen zu ihrer rundlicheren, unreifen Form zurückzukehren. In diesem Zustand glichen sie Makrophagen, einer Sorte weißer Blutkörperchen, die im Gewebe außerhalb des Gehirns tätig wird. Diese Freßzellen wandern in verletzte oder infizierte Bezirke, vermehren sich und werden zu ausgesprochenen Müllschluckern: Sie verschlingen (phagocytieren) Mikroben, abgestorbene Zellen und andere zu entfernende Überreste und bauen sie ab. Schließlich postulierte del Río-Hortega 1932, das neuerliche Abrunden reifer Mikroglia-Zellen bei Verletzungen zeige die Umwandlung in ein phagocytotisches Stadium an; seiner Meinung nach sollten sie also die Aufgabe von Makrophagen im Zentralnervensystem haben.


Weitere Hinweise auf eine Abwehrfunktion

Die durchaus plausible Annahme verfolgten nur wenige Forscher während der nächsten 50 Jahre weiter, hauptsächlich deshalb, weil sich die Färbemethode als unzuverlässig erwies. Aber ohne eine sichere Nachweismöglichkeit für Mikroglia-Zellen ließ sich nicht viel über ihre Funktionen herausbekommen.

Das änderte sich erst Mitte der achtziger Jahre, als V. Hugh Perry und seine Mitarbeiter an der Universität Oxford (Großbritannien) monoklonale Antikörper auf die Fähigkeit durchmusterten, sich spezifisch an Mikroglia zu binden. Aus tierischem Blut isolierte Antikörper sind stets ein Gemisch; monoklonale hingegen sind eine Art Reinzucht und erkennen alle dasselbe Zielprotein als Antigen. Durch Fluoreszenzmarkierung beispielsweise läßt sich dann im Mikroskop erkennen, an welche Zellen die Antikörper sich geheftet haben.

Verschiedene, von anderen Forschergruppen hergestellte monoklonale Antikörper erwiesen sich tatsächlich als geeignet, Mikroglia-Zellen von anderen Zellen im Gehirn zu unterscheiden. Wenig später folgten weitere. Dies sowie Methoden zur Kultivierung von Mikroglia-Zellen ermöglichten es schließlich, deren Aktivitäten detailliert zu untersuchen.

Mit Antikörpern als Sonde ließen sich zugleich starke Indizien zugunsten der Annahme finden, die Zellen hätten eine immunologische Funktion in Gehirn und Rückenmark. So hefteten sich verschiedene Sondenmoleküle gegen Proteine, die eigentlich nur auf Zellen des Immunsystems vorkommen, auch an solche der Mikroglia. Mehr noch – bestimmte Antikörper zeigten sogar an, daß sich diese Zellen vermutlich wie Makrophagen verhalten. Solche Freßzellen bieten nämlich Bruchstücke der verschlungenen Antigen-Moleküle auf einer Art Präsentierteller dar. Wenn andere Immunzellen dies erkennen, machen sie zum Großangriff gegen den Eindringling mobil. Bei den Präsentiertellern handelt es sich um Moleküle, die vom Haupt-Histokompatibilitäts-Komplex (MHC, nach englisch major histocompatibility complex) codiert werden, und zwar um solche der Klasse II. Daß nun monoklonale Antikörper gegen Klasse-II-Moleküle sich häufig auch gut an Mikroglia-Zellen binden, haben Forscher aus aller Welt in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre nachgewiesen. Somit stellten die Zellen – entgegen der bis dahin vorherrschenden Ansicht – MHC-II-Moleküle her und präsentierten wahrscheinlich Antigene, eben wie Makrophagen es tun.

Dies paßte gut zu Befunden von Georg W. Kreutzberg und seinen Mitarbeitern am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in Martinsried. Die Gruppe ist eine der wenigen, die sich schon lange mit der Funktion von Mikroglia-Zellen befassen. Sie prüfte deren Verhalten gegenüber stark geschädigten Neuronen an Nagern und setzte sich gleichzeitig mit der Behauptung einiger Forscher auseinander, Mikroglia-Zellen seien in Wirklichkeit nichts anderes als Monocyten, die über beschädigte Blutgefäße in Gehirn und Rückenmark eingedrungen sind. Das war bis dahin nur schwer zu widerlegen gewesen, weil alle damals wie heute für Mikroglia-Zellen verwendeten Antikörper und Färbungen zugleich auch Makrophagen markieren, die sich ja von Monocyten aus dem Blut herleiten.

Kreutzberg und seine Mitarbeiter nutzten eine einfache Methode zur Klärung beider Fragen. Dabei konzentrierten sie sich auf jene Neuronen, deren Zellkörper im Gehirn liegt, deren Axon aber Muskeln innerviert: Dicht an den Endigungen injizierten sie einen Giftstoff, der in die Faser gelangte und von dort zum Zellkörper; betroffene Neuronen wurden abgetötet, ohne daß Blutgefäße in Mitleidenschaft gezogen worden wären. Würden irgendwelche makrophagenartigen Zellen auf die Neuroschäden im Gehirn reagieren, könnten sie nur von dort und nicht aus dem Blut stammen. Wie die Auswertung der Hirnregion mit den Überresten der Zellkörper bei vielen der Versuchstiere ergab, wandern Mikroglia-Zellen tatsächlich zu abgestorbenen Neuronen, teilen sich und beseitigen die Überreste. Sie sind also wirklich so etwas wie die Makrophagen des Gehirns.

Experimente an Mikroglia-Zellen in Reinkultur haben inzwischen selbst die größten Skeptiker davon überzeugen helfen, daß del Río-Hortega recht hatte. Zum einen haben sie die hohe Mobilität bestätigt – unerläßliche Voraussetzung für Zellen, die leicht zu verletzten Hirngebieten gelangen sollten. Zum anderen haben sie gezeigt, daß die Zellen bei entsprechender Stimulation etliche Verbindungen erzeugen, die sonst Makrophagen in anderen Geweben herstellen.


Verhalten normaler Mikroglia

Weitere Untersuchungen haben ferner die Funktion der Hortega-Zellen sowohl im gesunden wie im erkrankten Zentralnervensystem erhellt. Beispielsweise sind diese für die korrekte Entwicklung des Embryos entscheidend. Möglicherweise geben sie Wachstumsfaktoren ab, die für die Bildung des Zentralnervensystems wichtig sind.

Definitiver nachgewiesen ist aber eine andere Funktion: Im Fetus entstehen nämlich sehr viel mehr Neuronen und Gliazellen als letztlich nötig; die ungenutzten sterben allmählich ab – und das tote Material beseitigen die jungen, noch immer unverzweigten Mikroglia-Zellen.

Ist die Gestaltung des Zentralnervensystems abgeschlossen, differenzieren sie sich zur Ruheform um: Mit ihren nun stark verzweigten Ausläufern können die Mikroglia-Zellen den Gesundheitszustand vieler Zellen ihrer Umgebung gewissermaßen überwachen.

Über die weiteren Funktionen der Mikroglia im Ruhezustand ist erst wenig bekannt; aber indirekten Hinweisen zufolge setzen die Zellen geringe Mengen an Wachstumsfaktoren frei, die reifen Neuronen und Gliazellen gewöhnlich zu überleben helfen. In Kultur waren das der Fibroblasten- und der Nerven-Wachstumsfaktor; beide Proteine produzierten sie möglicherweise auch im lebenden Organismus.

Ziemlich gewiß ist allerdings, daß Mikroglia-Zellen fast sofort – binnen Minuten – auf Störungen ihrer unmittelbaren Umgebung reagieren und sich anschicken, geschädigte Neuronen oder andere Zellen zu umringen. Kenntlich ist eine solche Aktivierung daran, daß sie ihre Ausläufer einzuziehen beginnen und auch anderweitig ihre Form ändern; gewisse Proteine werden erst jetzt, andere viel reichlicher als zuvor hergestellt (zu letzteren gehören die MHC-Moleküle). Ob diese aktivierten Zellen auch größere Mengen Wachstumsfaktoren als zuvor ausschütten ist unklar, aber durchaus denkbar – als Versuch, verletzte Neuronen zu reparieren.

Welche Form die frisch aktivierten Mikroglia-Zellen annehmen hängt anscheinend großenteils von der Architektur der Hirnregion ab, in der sie sich befinden (siehe Kasten auf nebenstehender Seite). Handelt es sich in erster Linie um einen Trakt von Fasern, werden sie eher lang und dünn, um dazwischenzupassen. Ist hingegen – wie in vielen Bereichen des Gehirns – mehr Bewegungsspielraum vorhanden, wird ihre Gestalt oft kompakt buschig.

Aktivierte Mikroglia-Zellen werden freilich nicht automatisch zu Freßzellen; bei geringen oder reversiblen Schäden können sie in den Ruhezustand zurückkehren. Ist die Verletzung jedoch schwer, so daß Neuronen absterben, entwickeln sie sich zu voll phagocytotischen Makrophagen. Das endgültige Schicksal dieser – rundlicheren – Freßzellen ist ungeklärt.

Wie Untersuchungen in Kultur und an erkrankter Hirnsubstanz vermuten lassen, gehen sie in ihrer Aktivität manchmal zu weit und schädigen die Neuronen, die sie eigentlich schützen sollten. Der Verdacht einer möglichen Verwicklung in neurale Störungen rührt teils daher, daß diese Zellen – wie erwähnt – viele Substanzen freisetzen, die Makrophagen außerhalb des Zentralnervensystems abgeben. Einige davon sind zellschädigend und könnten in größeren Mengen sicherlich Neuronen abtöten. Wie wir – Carol Kincaid-Colton und ihre Kollegen an der Georgetown Universität in der Bundeshauptstadt Washington -feststellten, erzeugen kultivierte Mikroglia-Zellen in Gegenwart bestimmter bakterieller Substanzen extrem zerstörerische Produkte, die man als reaktive Sauerstoffspezies bezeichnet. Dazu zählen das Hyperoxid-Anion (O2-), das Hydroxyl-Radikal (OH.; einer der toxischsten Stoffe im Körper) und Wasserstoffperoxid (H2O2). Diese töten zwar Mikroben, können aber auch Membranen, Proteine und Erbsubstanz von Neuronen und anderen Zellen schädigen.

Zu den weiteren potentiell zerstörerischen Produkten von stark stimulierten Mikroglia-Zellen und anderen Makrophagen gehören Proteasen; die Enzyme bauen Proteine ab und sind imstande, Löcher in Membranen von Zellen zu fräsen. Ferner gehören dazu mindestens zwei der als Cytokine bezeichneten vielseitigen Signalstoffe, die entzündungsverstärkend wirken können: Der Tumor-Nekrose-Faktor und Interleukin-1 beispielsweise helfen nicht selten, andere Zellen des Immunsystems an den Ort einer Schädigung zu locken (Spektrum der Wissenschaft, Juli 1988, Seite 42). Entzündungsreaktionen sind unter Umständen wichtig, um einen Infektionsherd oder einen entstehenden Tumor auszumerzen; dabei können aber auch umliegende gesunde Zellen schwer in Mitleidenschaft gezogen werden.

Die Fähigkeit zur Herstellung all dieser Stoffe in Kultur ist jedoch kein Beweis, daß Mikroglia-Zellen auch im lebenden Gehirn zerstörerisch wirken können. Sie stehen offensichtlich unter strikter Kontrolle, die sie zwingt, die Sekretion bedenklicher Stoffe selbst nach Verletzung und bei Krankheit auf ein Minimum zu begrenzen – sonst würde niemand mit all der Mikroglia im Gehirn überhaupt überlebensfähig sein. Doch deuten Erkenntnisse über eine Anzahl neurologischer Erkrankungen darauf hin, daß in manchen Fällen die Kontrolle lascher wird, entweder weil die Mikroglia-Zellen selbst einen Defekt haben oder weil irgendein anderer Krankheitsprozeß ihre normale Zügelung lockert.


Mikroglia und Erkrankungen

Eine übermäßige Mikroglia-Aktivität ist zweifellos an der Demenz beteiligt, die bei manchen AIDS-Patienten auftritt. Der Erreger des erworbenen Immunschwäche-Syndroms, das Human-Immunschwäche-Virus (HIV), befällt im Gehirn zwar keine Neuronen, aber Mikroglia-Zellen, und er veranlaßt sie, verstärkt entzündungsfördernde Cytokine und andere neurotoxische Moleküle zu produzieren.

Eine gestörte Regulation könnte auch bei der Alzheimer-Krankheit mitspielen, die durch fortschreitenden Verfall geistiger Fähigkeiten gekennzeichnet ist und vorwiegend Ältere trifft. Das Hirngewebe ist dann von zahlreichen Altersplaques durchsetzt, herdförmigen Ablagerungen eines als Beta-Amyloid bezeichneten Proteinfragments zwischen Mikroglia-Zellen, Astrocyten und Fortsätzen geschädigter Neuronen (Bild 2 links). Man nimmt an, daß die Plaques zum Untergang der Neuronen beitragen, der dieser Demenz zugrunde liegt. Wie sie im einzelnen schädigen wird noch heftig debattiert. Nach Auffassung vieler Forscher ist das Beta-Amyloid selbst dafür verantwortlich. Unseres Erachtens dürfte es via Mikroglia sein Zerstörungswerk anrichten (Bild 2 rechts). Zum Beispiel ist in den Plaques, wie sich inzwischen zeigt, der Gehalt an Interleukin-1 und anderen Cytokinen, die dann und wann von Mikroglia-Zellen produziert werden, erhöht. Irgend etwas, vielleicht das Beta-Amyloid, versetzt diese Zellen in solcher Umgebung wohl in den hochaktiven Zustand, und dann ist auch die Abgabe reaktiver Sauerstoffspezies und proteinabbauender Enzyme zu erwarten, was Neuronen schädigen könnte.

Weiteren Befunden zufolge könnten Mikroglia-Zellen sogar zur Bildung der Plaques selbst beitragen. Anscheinend produzieren sie in Reaktion auf Gewebeschäden in Hirn und Rückenmark eine bestimmte Form des Beta-Amyloid-Vorläuferproteins, aus dem Beta-Amyloid abgespalten werden kann. In Kultur lassen sich überdies durch Interleukin-1 verschiedene andere Zellen, möglicherweise sogar Neuronen, zur Produktion von Beta-Amyloid-Vorläufermolekülen anregen. Und schließlich fördern die von Mikroglia-Zellen erzeugten reaktiven Sauerstoffspezies das Verklumpen von Amyloid-Fragmenten.

Man kann sich leicht vorstellen, wie irgendein Umstand, der Mikroglia-Zellen in einen hyperaktiven Zustand versetzt, einen Teufelskreis auszulösen vermag. Stellen sie das Amyloid-Vorläuferprotein her, könnten ihre Proteasen das Molekül durchaus in der Weise spalten, daß Beta-Amyloid entsteht. Gleichzeitig dürfte ihr Interleukin-1 andere Zellen dazu anregen, ebenfalls Amyloid herzustellen. Die reaktiven Sauerstoffspezies lassen dann möglicherweise das Amyloid gleich welcher Herkunft verklumpen. Solche Aggregate könnten irgendwie weitere Mikroglia-Zellen aktivieren. Die Folge: noch mehr Amyloid und resultierende Plaques.

Auch bei einer Erbkrankheit, dem Down-Syndrom (Mongolismus), entwickeln sich verstärkt Altersplaques im Gehirn, allerdings früher als bei Alzheimer-Patienten. Die Möglichkeit, daß sich die Mikroglia-Zellen Betroffener hirnschädigend verhalten, haben wir – Kincaid-Colton und ihre Mitarbeiter – an Mäusen mit einem genetischen Defekt analog zu dem des Down-Syndroms zu prüfen begonnen. Im Fetalstadium erwiesen sich die Zellen als ungewöhnlich reaktiv und waren zahlreicher als sonst vorhanden. Zudem setzten sie bei solchen Tieren verstärkt reaktive Sauerstoffspezies, Interleukin-1 und andere Cytokine frei, die Nervengewebe beeinträchtigen dürften.

Schlaganfall-Patienten verlieren möglicherweise gleichfalls Neuronen durch überaktive Mikroglia-Zellen, wie einer von uns (Streit) und seine Mitarbeiter an der Universität von Florida in Gainsville in Experimenten an Ratten fanden. Wird ein bestimmtes großes, ins Vorderhirn führendes Blutgefäß verschlossen, stirbt das von ihm versorgte Gewebe rasch ab; besonders empfindliche Neuronen in einem benachbarten Gebiet, der sogenannten CA-1-Region des Hippocampus, gehen in den Tagen danach ebenfalls zugrunde. Wie wir entdeckten, werden Mikroglia-Zellen nach dem künstlichen Schlaganfall schon innerhalb weniger Minuten aktiviert, also lange bevor die hippocampalen Neuronen absterben (erkennbar ist die Aktivierung an einer Änderung der Zellform und an einer stärkeren Anfärbbarkeit).

Denkbar ist, daß die Zellen die bedrohten Neuronen zu schützen suchen – vielleicht indem sie verstärkt oder nun erst Wachstumsfaktoren ausschütten, die Schädigungen eventuell zu beheben vermögen. Es ist jedoch genauso möglich, daß die infolge eines Schlaganfalls eintretenden chemischen Veränderungen der Region schließlich die Aktionsbremsen von Mikroglia-Zellen lockern und diese in einen Zustand treiben, in dem sie gefährlich werden.

Vorläufige Ergebnisse deuten ferner auf eine mögliche Beteiligung von Mikroglia-Zellen bei Multipler Sklerose hin (einem Zerfall der Markscheiden um die Axone im Zentralnervensystem), bei der Parkinson-Krankheit (einer Degeneration der sogenannten schwarzen Substanz im Gehirn) und bei der amyotrophen Lateral-Sklerose (einer Rückenmarkserkrankung mit Degeneration von motorischen Neuronen).

Mikroglia-Zellen verändern sich schließlich auch mit zunehmendem Alter; sie tragen dann vermehrt MHC- Moleküle auf ihrer Oberfläche, was ein Anzeichen dafür sein könnte, daß die normale Bremse für den Übergang in den gefährlichen, hochaktiven Zustand mit der Zeit quasi ermüdet. Eine solche Lockerung könnte, weil sie zweifellos eine Schädigung von Neuronen erleichtert, zu Gedächtnisschwund und Senilität beitragen.

Wenn Mikroglia-Zellen tatsächlich eine Übeltäterrolle bei Erkrankungen des Zentralnervensystems zukommt, wofür ein Großteil der Forschungsergebnisse spricht, dann dürfte eine Linderung der Leiden möglich sein, indem man die Zellen oder ihre Produkte spezifisch hemmt. Mit Alzheimer-Patienten unternimmt man zum Beispiel bereits kleine Studien zur Wirksamkeit und Sicherheit von entzündungshemmenden Substanzen, die aktivierte Mikroglia-Zellen in ihren Ruhezustand zurückführen können. Umgekehrt lassen sich vielleicht die schützenden Eigenschaften dieser Zellen zunutze machen, indem man die Produktion ihrer Wachstumsfaktoren ankurbelt.

Vor zehn Jahren haben manche Forscher selbst die Existenz von Gliazellen dieses Typs bestritten. Vor fünf Jahren hätten die meisten Mediziner noch jeden verlacht, der auch nur andeutete, die Zellen könnten maßgeblich an der Alzheimer-Krankheit und anderen degenerativen Erkrankungen des Gehirns beteiligt sein. Nun schwindet diese Skepsis mehr und mehr. Viele Forscher sind sogar zuversichtlich, daß aus Untersuchungen der Mikroglia schließlich Therapien für einige der Krankheiten erwachsen werden, die über die Betroffenen und ihre Angehörigen unnennbares Leid bringen.

Literaturhinweise

- Functional Plasticity of Microglia: A Review. Von Wolfgang J. Streit, M. B. Graeber und G. W. Kreutzberg in: Glia, Band 1, Heft 5, Seiten 301 bis 307, Mai 1988.

– Microglia. Sonderausgabe von Glia, Band 7, Heft 1, Januar 1993. Herausgegeben von M. B. Graeber, G. W. Kreutzberg und W. J. Streit.

– Neuroglia. Herausgegeben von H. Kettenmann und B. R. Ransom. Oxford University Press, 1995.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1996, Seite 80
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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