Biologie: Das ist Biologie
Die Wissenschaft des Lebens Aus dem Englischen von Jorunn Wißmann. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2000. 440 Seiten, DM 24,90
Dieses Buch kann man getrost als eine Synthese der Biologie des 20. Jahrhunderts bezeichnen. Ernst Mayr, der in drei Vierteln des 20. Jahrhunderts bedeutende biologische Arbeiten und Bücher veröffentlicht hat, zeigt hier mit überzeugenden Argumenten auf, dass – und wie – die Biologie eine eigenständige Wissenschaft ist. Trotz seines Umfanges bleibt es ein spannendes, lesbares und lesenswertes Gesamtwerk.
Im Vorwort und im ersten Kapitel "Was ist Leben?" legt Mayr dar, worin sich die Gegenstände der Biologie von denen der anderen Naturwissenschaften grundlegend unterscheiden: in der hierarchischen Ordnung mit der jeder Hierarchiestufe eigenen Komplexität ("Emergenz") und dem genetischen Programm.
Mayr ist ein entschiedener Verfech-ter einer holistischen, organizistischen Biologie. Der Satz "Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile" sei nichts Mystisches, sondern laufe auf die Forderung nach Analyse und Untersuchung auf allen Ebenen hinaus – nur eben mit jeweils der betreffenden Ebene angepassten Methoden.
Im weiteren Verlauf des Werkes verteidigt Mayr seine Wissenschaft gegen herabsetzende Vorurteile: Die deskriptive Arbeit sei weder eigenständige Disziplin noch minderwertige Biologie, sondern die unverzichtbare Grundlage jeder biologischen Disziplin. Die Biologie sei keineswegs provinziell, sprich den Eigenheiten des Einzelfalls verhaftet, sondern ebenso wie die Physik allgemeingültig, eben überall dort, wo es Leben gibt. Die Biologie verfüge häufig nicht über das Experiment als letzte Bestätigung bestimmter Tatsachen? Auch andere Wissenschaften nutzen "natürliche Experimente" wie Vulkanausbrüche, Sternbedeckungen oder die Ausbildung von Landbrücken zwischen Kontinenten. Die Gesetze der Biologie haben nicht die Allgemeingültigkeit physikalischer Gesetze? Doch, aber sie sind oftmals als Wahrscheinlichkeitsgesetze zu verstehen. Die Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften sei nicht unausweichlich, sofern eben nicht die Physik als allein richtungweisende Naturwissenschaft gilt.
In den nächsten drei Kapiteln geht es um die spezifisch biologischen Denkansätze und die Geschichte der Biologie. So wie Mayr sie darstellt, ist sie ein Triumph der Dialektik in dem Sinne, dass fast immer keines von zwei konkurrirenden Konzepten, sondern eine Synthese als beste Erklärung der Tatsachen letztendlich die Oberhand gewinnt. Die noch aktuelle Diskussion, ob Verhalten angeboren oder erworben sei, liefert dafür ein gutes Beispiel.
Nach dieser Grundlegung schildert Mayr beispielhaft an vier Teilgebieten der Biologie – Systematik und Beherrschung der Vielfalt, Entwicklungsbiologie, Ökologie und Evolutionsbiologie – historische Entwicklung, frühere und derzeitige Erklärungsansätze, wichtige Begriffe und Teildisziplinen. Auf eine ausführliche Besprechung von Neurobiologie und Molekularbiologie verzichtet er, nicht weil diese Fachgebiete weniger bedeutend wären, sondern weil ihm dort die Fachkompetenz fehle.
In einzelnen Punkten kann man anderer Meinung sein. So erscheint mir die Besprechung der ökologischen Nische etwas zu knapp und zu nahe am klassischen "Planstellenkonzept", auch wenn die vieldimensionalen Nutzungsräume erwähnt werden. Neben der Einteilung der Ökologie in eine solche von Individuum, Art und Gemeinschaft könnte man sich auch eine Gliederung in Ökophysiologie, Verhaltensökologie und Evolutionsökologie vorstellen. Im Kapitel "Evolution" trennt Mayr nicht klar zwischen Evolutionstheorie und Rekonstruktion der Evolutionsgeschichte, womit er Kritikern der Evolutionsbiologie vermeidbare Angriffspunkte gibt. Bei der Frage, warum nicht alle evolvierten Merkmale die beste denkbare Lösung bieten, hätte er erwähnen sollen, dass häufig Merkmale nicht unabhängig voneinander variieren können: Ein nicht-optimales Merkmal kann sehr wohl Bestandteil eines insgesamt optimalen Kompromisses zwischen verschiedenen Anforderungen sein. Trotzdem sind diese Kapitel, sowie das anschließende über den evolutiven Werdegang des Menschen, ausgezeichnete Übersichten.
Den letzten Teil des Buches bildet ein Kapitel über mögliche Standpunkte zu Ethik und Moral. Mayr fordert einen neuen evolutionären Humanismus und einen Moralkodex namens "Umweltethik". Seine Ausführungen sind zwar sehr stark auf die Verhältnisse in der US-amerikanischen Gesellschaft abgestimmt, aber insgesamt keineswegs biologistisch im Sinne eines unzulässigen Reduktionismus. Manche Ideen über Sozialisationen als "offene Programme", das heißt Vorgänge, deren Endzustand nicht im genetischen Programm festgelegt ist, und die Notwendigkeit vertiefter Ethik- und Moralunterweisung im frühen Kindesalter sind zweifellos kontrovers. Aber dem Autor ist zugute zu halten, dass er sich nicht um eine Stellungnahme drückt.
Ein Buch, das jedem zur Pflichtlektüre gemacht werden sollte, der sich mit dem Gedanken trägt, Biologie zu studieren oder Biologie in die heutige Gesellschaft hineinzutragen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 2001, Seite 98
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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