Wissenschaftsgeschichte: Vom Weltstar zum Eremiten
Mehr als 20 Jahre lang war der Mann, den man mit einiger Berechtigung den größten Mathematiker des 20. Jahrhunderts nennen darf, praktisch unauffindbar. Alexander Grothendieck hatte sich 1991 von fast allen menschlichen Kontakten zurückgezogen. Die Öffentlichkeit erfuhr erst wieder etwas über ihn, als er am 13. November 2014 in Südfrankreich starb. Dies war das Ende eines in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Lebens. "Wie es mir im Leben ergangen ist, würde viele Bücher beanspruchen, die noch nicht geschrieben sind", so Grothendieck selbst in einem Brief vom 29. September 2006 an einen Schulkameraden.
Nicht nur seine wissenschaftlichen Leistungen sind beispiellos; auch sonst hat er sich weit von allen Normen der bürgerlichen Gesellschaft entfernt. Grothendieck war stets ein Einzelgänger. Er lebte in einer anderen Welt, und sein Leben gibt in vielfacher Hinsicht unlösbar erscheinende Rätsel auf. Bereits sein Beginn war alles andere als bürgerlich. Grothendiecks Vater, ein russisch-jüdischer Anarchist namens Alexander Schapiro, Jahrgang 1890, hatte sich schon als etwa 15-Jähriger anarchistischen Gruppen angeschlossen, die um 1905 gegen das Zarenregime kämpften. Er wurde 1907 gefangen genommen, zum Tod verurteilt, wochenlang täglich zum Erschießungsplatz geführt und dann wegen seiner Jugend zu lebenslanger Haft begnadigt. Die nächsten zehn Jahre verbrachte er in russischen Lagern und Gefängnissen. Im Verlauf der Oktoberrevolution befreit, schloss er sich sogleich den nationalistisch-anarchistischen Kämpfern des ukrainischen Generals Nestor Machno an. Er wurde erneut gefangen genommen, dieses Mal von der Roten Armee, wieder zum Tod verurteilt, konnte jedoch in den Wirren des Ersten Weltkriegs entkommen und gelangte nach Berlin, wo er seinen Lebensunterhalt als Straßenfotograf verdiente. ...
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