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Das Leben wieder im Griff haben

Durch elektrische Stimulation noch gesunder Muskeln sollen Tetraplegiker Arme und Hände erneut nutzen können.


Es ist schon schwer, seine Beine nicht mehr bewegen und seine Ausscheidungen nicht mehr kontrollieren zu können, doch die sogenannten Tetraplegiker trifft es noch härter: Nach Durchtrennung des Rückenmarks im Bereich der Halswirbel können sie auch ihre Arme und Hände nicht mehr oder nur eingeschränkt bewegen, je nachdem in welcher Höhe die Verletzung entstanden ist. Ständig auf fremde Hilfe angewiesen, können nur technische Hilfsmittel eine begrenzte Unabhängigkeit geben.

Wie die voranstehenden Beiträge dieses Schwerpunktes zeigen, kann die Elektrostimulation intakter Nerven Basisfunktionen von Muskeln wieder nutzbar machen, denn sie imitiert quasi die physiologischen Vorgänge beim gesunden Menschen: Elektrische Signale, sogenannte Aktionspotentiale, vermitteln Befehle zum Greifen vom Gehirn über das Rückenmark und weiter über die entsprechenden Nerven zu den Arm- und Handmuskeln. Wird diese Informationsübertragung im Rückenmark unterbrochen, fehlen die Steuersignale und Lähmung ist die Folge.

Mittels mehrerer Elektroden wollen wir kleine, gut abgrenzbare Faserbündel in Nerven stimulieren und so einzelne, noch intakte Muskeln zur Kontraktion anregen. Ein ausgefeiltes Steuerprogramm koordiniert sie und erzeugt so annähernd die natürlichen Bewegungsabläufe des Greifens. Selbständiges Essen und Trinken, davon sind wir überzeugt, kann in naher Zukunft Tetraplegikern dank solcher Implantate wieder möglich sein, sofern die Verletzung des Rückenmarks im Bereich des 5. und 6. Halswirbels erfolgte, also noch ein Bewegen des Armes möglich ist.

Wir sind freilich nicht die ersten, die diesem faszinierenden Gedanken folgen. Tatsächlich gibt es sogar drei kommerziell erhältliche Systeme, die dem Querschnittgelähmten mittels elektrischer Stimulation ein Greifen ermöglichen, allerdings erregen sie die Muskulatur direkt, gehen also nicht den biologischen Weg über die Nerven.

Das Handmaster System der israelischen Firma NESS (neuromuscular electrical stimulation system) in Ra'ananna besteht aus einer aufklappbaren Schiene mit eingebauten Oberflächenelektroden. Wie alle hier vorgestellten Neuroprothesen setzt es gewisse Restfunktionen voraus. Je nachdem, wie hoch die Rückenmarksverletzung sitzt, können die Patienten beispielsweise die Ellbogen beugen oder die Schultern bewegen. So ist die Idee beim Handmaster, daß der Gelähmte seinen Unterarm sozusagen in die Schiene wirft, sie schließt sich dann automatisch. Freilich wird er oft ohne fremde Hilfe kaum auskommen.

Eine Kontrolleinheit wird von der jeweils anderen Hand bedient – da der Arm nur teilweise gelähmt ist, kann der Patient durch Druck auf einen Schalter Programme an- und ausschalten beziehungsweise das Öffnen und Schließen der angesteuerten Hand einleiten.

Der Bionic Glove, entwickelt an der Universität Alberta (Kanada), setzt voraus, daß die Hand noch willkürlich gebeugt und gestreckt werden kann. Oberflächenelektroden werden auf den Unterarm geklebt. Sie müssen genau über denjenigen Stellen justiert werden, an denen die Muskulatur besonders gut auf die elektrischen Reize reagiert. An diesen sogenannten Motorpunkten geht der Nerv in den Muskel über. Daher lassen sich dort die Muskeln mit besonders niedriger Stromstärke erregen. Beim Handmaster werden großflächigere Elektroden benutzt, bei denen die Positioniergenauigkeit geringer sein darf. Die Stromstärke muß dann allerdings auch etwas höher ausfallen. Danach wird eine Art fingerloser Handschuh (daher die Bezeichnung des Systems) über Hand und Arm gezogen, der die elektrischen Kontakte zu den Elektroden herstellt. Er enthält Sensoren, welche die Stellung der Hand zum Unterarm messen, sowie eine Kontrolleinheit. Beugt nun der Patient die Hand, so wird dies vom Sensor der Kontrolleinheit gemeldet, die daraufhin Stimulationspulse zu den Elektroden schickt, die schließlich für das Öffnen der Hand zuständigen Muskeln kontrahieren lassen. Strecken des Handgelenkes löst dann ein Programm zum Schließen aus. Weitere technische Sensoren im Handschuh sammeln Daten, die eine Steuerung der Hand gemäß ihrer benötigten Griffkraft gewährleisten.

Das dritte System ist bereits voll implantierbar. Das Freehand System der Firma NeuroControl wurde 1997 von der amerikanischen Bundesgesundheitsbehörde für Patienten in den USA zugelassen und ist auch in Deutschland in der Erprobung (siehe das folgende Interview). Außer dem Öffnen und dem Schließen der Hand soll damit auch ein Präzisionsgriff möglich sein. Dazu werden acht Elektroden unter der Haut auf einzelne Unterarmmuskeln gesetzt und mit einer ebenfalls implantierten Kontrolleinheit im Bereich des Brustkorbs verbunden. Energie und Information speist eine weitere Kontrolleinheit außerhalb des Körpers drahtlos ein. Vom Arzt wird der Stimulationsstrom, die Breite der Pulse und das Zusammenspiel der Elektrodenkanäle beim Greifen über einen PC auf jeden Patienten individuell eingestellt. Die Handbewegungen lassen sich über die Position der gegenüberliegenden Schulter mittels Schulterjoystick steuern. Wie bei den anderen beiden System sind Zielgerichtetheit und Griffkraft aber nur visuell zu kontrollieren, eine über körpereigene Sinne – beispielsweise den Muskelspindeln (siehe Bild) – sensorisch vermittelte Regelung fehlt und ist auch nicht Teil des Konzepts.

Im Rahmen des EU-Projektes GRIP (An inteGRated system for the neuroelectrIc control of grasP in disabled people) entwickelt deshalb ein Konsortium von europäischen Forschungseinrichtungen aus den Bereichen Mikroelektronik, Mikrosystemtechnik, Informatik, Regelungstechnik, Biomedizintechnik und Medizin ein implantierbares System, das sich in zwei wesentlichen Punkten von den vorgestellten unterscheiden soll: Durch Stimulation der Nerven kann der benötigten Reizstrom um den Faktor 10 bis 20 kleiner sein, und Sensoren melden dem Implantat und dem Patienten die Position der Hand und die Griffkraft. Wie ein Gesunder könnte er dann sogar zerbrechliche und selbst rutschige Objekte festhalten.

Das GRIP-Konzept sieht eine Neuroprothese aus mehreren implantierbaren Komponenten sowie einer äußeren Bedien- und Steuereinheit vor. Zur Stimulation der Nerven dienen sogenannte Cuff-Elektroden, die einen Nerven des gelähmten Unterarmes manschettenförmig umschließen (Spektrum der Wissenschaft, Juni 1995, S. 97). Zuleitungen führen unter der Haut entlang zu einer zentralen und ebenfalls implantierten Empfänger- und Stimulatoreinheit. Ihr Pendant außerhalb des Körpers nimmt über eine Art Joystick in der Rollstuhl-Armlehne die Kommandos des Patienten entgegen und induziert eine elektromagnetische Schwingung, die das Implantat mit Energie und Information versorgt (die ist der Grundschwingung aufmoduliert). Es erzeugt dann die Stimulationspulse und leitet sie an die entsprechenden Elektroden.

Diese zentralen Elemente des gesamten Systems müssen bioverträglich, flexibel und leicht sein und sollen einzelne Muskeln über Nervenfaserbündel gezielt erregen. Wir haben Prototypen in einem von 1993 bis 1996 laufenden Projekt (INTER, Intelligent Neural Interface) entwickelt und getestet. Jeweils drei hintereinander liegende Elektroden wirken zusammen, die Anregung erfolgt also tripolar. Im Gegensatz zu Elektroden mit zwei Polen (bipolar) wird das elektrische Feld dabei auf den Raum zwischen den Elektroden gebündelt, da die beiden äußeren als Anode wirken und nur die mittlere Elektrode als Kathode wirkt. Der Vorteil dieser Anordnung liegt in der geringeren Stromstärke zur Stimulation und der Möglichkeit, dünne Nervenfasern mit speziellen Reizpulsen selektiv zu erregen (Spektrum der Wissenschaft, Juni 1995, S. 98).

Vier solcher Gruppen werden auf dem Umfang einer röhrenförmigen Manschette verteilt (siehe Bild), die einen Nerven komplett umhüllt. Einzelne Faserbündel unter den Elektroden werden erregt; sie führen im allgemeinen zu verschiedenen Muskeln, die sie zur Kontraktion veranlassen. Freilich läßt sich im Vorhinein nicht sagen, welche das sind, doch sind die Elektroden so anzusteuern, daß die von ihnen erzeugten elektrischen Felder miteinander interferieren und so auch zwischen den Elektroden verlaufende Nerven reizen. Die geeignete Kombination wird experimentell ermittelt. Insgesamt sollten ein bis zwei Manschetten für das GRIP-Implantat genügen.

Es ist das ehrgeizige Ziel des Konsortiums, die-se Neuroprothese in einen direkten Regelkreis einzubinden. Theoretisch ist das möglich, denn in den umschlossenen Nerven verlaufen nicht nur efferente Nervenfasern, die zum Muskel ziehen und ihn innervieren, sondern auch afferente, die von ihm und der Hautoberfläche kommen und Meldungen seiner Rezeptoren über Druck auf die Finger, Dehnung oder über Gelenkwinkelstellungen zur – nicht mehr angeschlossenen – Weiterverarbeitung im Rückenmark und Gehirn leiten.

Diese Signale kann man mit den Elektroden aufzeichnen, nach außen leiten und auswerten, um beispielsweise die Griffkraft zu regeln. Soll das gleichzeitig mit der Stimulation erfolgen, fällt aber eine enorm hohe Datenrate an. Wir gehen derzeit von 2,2 Mbps (Megabits pro Sekunde) aus, sofern die Stimulationsparameter online von der extrakorporalen Steuereinheit vorgegeben und gegebenenfalls den Sensordaten entsprechend geändert werden. Bei acht Elektroden beziehungsweise angesteuerten Muskeln sind damit die Grenzen des momentan technisch Machbaren erreicht.

Etwas Erleichterung bringt es, einem in das Implantat integrierten Mikrocontroller die Ausführung der Steuerung im Detail zu überlassen. Beispielsweise würden dann zunächst eine Reihe geeigneter Formen für die Stimulation ermittelt und dem Chip übertragen, die Steuereinheit außerhalb des Körpers befiehlt dann lediglich "Schalte von Puls x auf Puls y", muß also nicht die Parameter der Pulsform im Detail übertragen. Allerdings muß nun für jeden Patienten der optimale Parametersatz zur Stimulation zuerst ausgetestet und danach dem Microcontroller "off-line", also vor dem Alltagsgebrauch des Implantates, übertragen werden. Die Daten werden im Controller gespeichert und erlauben der Regelungseinheit danach die Steuerung des Implantates.

Die Auswertung all dieser Daten bedarf ebenfalls erheblicher Raffinesse. Unterschiede zwischen Patienten, veränderliche Tagesform und Ermüdung lassen starke Schwankungen in der Ausführung der stimulierten Greifbewegungen erwarten; ohnehin sind Muskeln ein hoch nichtlineares und zeitvariantes System. Deshalb empfehlen sich keinesfalls "scharfe" Regelungsstrategien nach Art von "Wenn Greifkraft den Wert x erreicht, Stimulation um y Prozent reduzieren". An ihre Stelle treten "unscharfe" Algorithmen aus dem Bereich der Fuzzy Logic, die beispielsweise zwischen "Geringer" "Mittlerer" und "Starker" Greifkraft unterscheiden. Diese Zuordnung wird mittels künstlicher – also technisch realisierter – neuronaler Netzwerke an die jeweilige Situation adaptiert. Der Patient braucht nur die gewünschte Aktion einzuleiten, das technische System paßt sich den biologischen Größen an.

Bis dahin ist allerdings noch ein weiter Weg zurückzulegen. Immerhin gelang unserem dänischen Projektpartner, dem Zentrum für Sensomotorische Interaktion (SMI) in Aalborg, ein Erfolg bei der Therapie des Fallfußes von Schlaganfall-Patienten. Ihnen gelingt es meist nicht, auf der gelähmten Seite den Vorfuß hochzuziehen; dementsprechend bewegen sie sich schlurfend und Fehlbelastungen sind die Folge. Indem die Wissenschaftler um Ronald R. Riso Signale eines intakten Nerven im Bereich der Ferse über Elektroden aufnahmen, konnten sie ein Hochziehen des Vorfußes elektrisch stimulieren. Trotz dieses Erfolges rechnen wir nicht damit, die angestrebte direkte Regelung bis zum Projektende im nächsten Jahr zu realisieren.

In einer ersten Version von GRIP messen deshalb Sensoren in einem technischen Handschuh die Stellung der Hand und die Greifkraft und leiten diese Information der Steuereinheit weiter. Darüber hinaus versuchen wir, den Patienten über ein kognitives Feedback in den Regelkreis zu integrieren: Statt die Signale der Muskelrezeptoren zu verwenden, erzeugt das Implantat eigene, vom Patienten wahrnehmbare Reize.

Hierzu werden sieben Oberflächenelektroden in einer Reihe auf den Brustkorb geklebt, die mit der Steuereinheit in Verbindung stehen. Sie senden Stimulationspulse aus, die auf der Haut sensible Empfindungen (ein Kribbeln) hervorrufen. Dem Öffnungsgrad der Hand entspricht linear die Elektrodenposition, die Griffkraft wird durch die Reizfrequenz kodiert. Diese Methode erscheint zwar sehr einfach, hat sich aber in ersten Versuchen als sehr robust und äußerst genau erwiesen.

Durch die Kombination neuester Technologien der Mikromechanik und Mikroelektronik sowie neuer Regelalgorithmen für die Kontrolleinheit erhoffen wir, bald einen großen Schritt in Richtung einer geregelten neuroelektrischen Greifprothese voran zu sein. Das ist nur in Zusammenarbeit mit erfahrenen Medizinern möglich, vor allem aber nur in enger Kooperation mit Patienten, deren Bedürfnisse im Mittelpunkt jeder Rehabilitation stehen müssen


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1999, Seite 94
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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