Das Mischlingskind aus Portugal
An dem Novembernachmittag 1998 erkundeten die beiden Mitarbeiter den Felsunterstand nach urzeitlichen Artefakten. In einem Nagetierloch bemerkten sie loses Erdreich. Grabende Tiere befördern manchmal ältere Sedimente nach oben und mit ihnen gelegentlich darin liegende Gegenstände. Also griff einer der Männer tastend in die Höhle. Und dann hielt er die ersten Knochenfragmente eines Kindes in der Hand, das hier, im Abrigo do Lagar Velho, vor fast 25000 Jahren beerdigt worden war.
Die weitere Ausgrabung im zentralportugiesischen Lapedo-Tal unter Leitung von Cidália Duarte brachte ein fast vollständiges Skelett zu Tage. Das Kind war etwa vierjährig gewesen und rituell im Gravettien-Stil beerdigt worden. Es lag auf einem Bett aus verbrannten Pflanzen und war mit rotem Ocker bedeckt. Dabei lagen Grabbeigaben: durchbohrte Hirschzähne und eine Meeresmuschel. Solche Gräber hinterließ der moderne Mensch zu jener Zeit in ganz Europa. Frühmoderne Menschen waren vor knapp 30000 Jahren auf die Iberische Halbinsel vorgedrungen. Nach den archäologischen Befunden muss der Neandertaler danach sehr schnell verschwunden sein. Das Kinderskelett, das die Bezeichnung "Lagar Velho 1" erhielt, sollte demnach von einem frühmodernen Menschen stammen – so meinten wir zunächst.
Tatsächlich passen seine anatomischen Merkmale weitgehend in diese Gruppe: zum Beispiel das ausgeprägte Kinn sowie bestimmte andere Details des Unterkiefers, die kleinen Vorderzähne, die Bildung des Daumens, die schmale Vorderseite des Beckens und verschiedene Merkmale des Schulterblatts und des Unterarms. Aber interessanterweise zeigt das Kinderfossil ebenso eine Anzahl von Bildungen, die vom Neandertaler zu stammen scheinen. Vor allem fällt die Frontpartie des Unterkiefers auf, die trotz des Kinns nach hinten flieht. Ungewöhnlich wirken auch Details an den Schneidezähnen, die Ansätze des Brustmuskels, die Knieproportionen und die kurzen, kräftigen Unterschenkelknochen. Das Kind von Lagar Velho vereint in sich ein buntes Mosaik aus Merkmalen des Neandertalers und des frühmodernen Menschen.
Dieses anatomische Mosaik beruht keineswegs auf irgendwelchen Missbildungen. Wie unsere Untersuchung ergab, war das Kind für sein Alter normal entwickelt gewesen, abgesehen von einem verletzten Unterarm und ein paar Linien auf den Knochen – Zeichen für gelegentlichen Wachstumsstopp, wie es bei Krankheit oder Nahrungsmangel vorkommt. Die ungewöhnliche Merkmalskombination lässt sich unseres Erachtens nur durch eine gemischte Ahnenschaft erklären.
Der Fund ist für Westeuropa einmalig. Wir vermuten, dass iberische Neandertaler und frühmoderne Menschen noch eine Zeit lang gemeinsam Nachkommen hatten. Beide Populationen haben sich wahrscheinlich wirklich genetisch vermischt, denn das Kind lebte einige tausend Jahre, nachdem die Neandertaler nach gängiger Meinung verschwunden waren.
Letzten Sommer fanden wir noch weitere Teile des Schädels und die meisten restlichen Zähne, dazu mehr archäologisches Material. Nun soll ein Spezialistenteam das Skelett näher untersuchen. Unter anderem werden der Schädel und die Gliedmaßenknochen computertomographisch "durchleuchtet". Geplant ist auch, den Schädel am Computer zu rekonstruieren.
Viele werden die weiteren Ergebnisse gespannt erwarten, denn falls dies wirklich ein Mischlingskind war, bröckelt die These vom rein afrikanischen Ursprung des anatomisch modernen Menschen. Nach diesem extremen Modell verdrängte der moderne Mensch weltweit die archaischen Populationen.
Das Kind von Lagar Velho lässt an ein anderes Szenario denken. Demnach wären in Afrika entstandene moderne Menschen zwar in andere Weltregionen vorgedrungen, hätten sich aber mit den dort lebenden archaischen Populationen vermischt. (Die afrikanische Herkunft der frühmodernen Europäer belegen etwa ihre langen Unterschenkel, eine Anpassung an tropisches Klima. "Lagar Velho 1" dagegen hat die kurzen Schienbeine der kälteadaptierten Neandertaler.)
Ein tatsächlich hybrides Kinderskelett würde zudem darauf hinweisen, dass sich das Verhalten von Neandertalern und frühmodernen Menschen geähnelt haben muss. Denn trotz aller anatomischen Besonderheiten können sich dann die Anpassungsmuster, das soziale Verhalten und die Weise der Kommunikation, zu der auch Sprache gehört, im Großen und Ganzen nicht allzu krass unterschieden haben. Für die frühmodernen Menschen waren die Neandertaler einfach andere Jäger und Sammler – und genauso Menschen wie sie selbst.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 2000, Seite 45
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben