Chemie: Das neue Einmaleins von Wasserstoff und Sauerstoff
Bisher als exotisch eingestufte Oxide des Wasserstoffs haben sich in Immunologie und Umweltschutz als überraschend bedeutsam erwiesen. Quantenmechanische Berechnungen zeigen warum.
Vermutlich ist H2O die bekannteste chemische Formel überhaupt. Zwei Wasserstoff- und ein Sauerstoffatom ergeben lebenswichtiges Wasser. Aber können sich dieselben Elemente auch in anderen Zahlenverhältnissen zu anders gearteten Substanzen verbinden? Dem einen oder anderen wird noch Wasserstoffperoxid (H2O2) einfallen – jener Stoff, der Brünette erblonden lässt. Und damit endet gewöhnlich das Einmaleins mit H und O. In Chemie-Lehrbüchern findet sich zwar noch düsteres Gemunkel über Wasserstoffpolyoxide H2On mit vier, fünf oder noch mehr Sauerstoffatomen; doch die sind so instabil, dass sie sich nur in extremer Kälte und für sehr kurze Zeit durch spektroskopische Beobachtungen nachweisen lassen. Derart kurzlebige Molekülsorten können doch keine wichtige Rolle in der Biologie spielen, oder?
Das glaubte man zumindest, bis der Proteinforscher Richard Lerner und seine Mitarbeiter am Scripps-Forschungsinstitut in La Jolla (Kalifornien) vor etwa zwei Jahren eine überraschende Entdeckung machten. Alle Antikörper, die sie testeten, waren ebenso wie der entfernt mit ihnen verwandte T-Zell-Rezeptor in der Lage, Wassermoleküle mit einer energiereichen angeregten Form von Sauerstoff zur Reaktion zu bringen. Dieser so genannte Singulett-Sauerstoff kann durch Lichteinwirkung für kurze Zeit entstehen und ist zum Beispiel für das Vergilben von Kunststoff oder das Abblättern von Lacken in der Sonne verantwortlich. Bei Umsetzung mit Wasser entsteht, wie sich zeigte, zunächst das instabile Wasserstofftrioxid H2O3. Diese stark oxidierende Verbindung kann dann die vom Antikörper erkannten Fremdkörper ohne Mitwirkung anderer Bestandteile des Immunsystems direkt angreifen und wandelt sich dabei in Wasserstoffperoxid um. Da auch der T-Zell-Rezeptor die geschilderte Reaktion katalysiert, dürfte sie aber älter sein als das Immunsystem und zunächst vielleicht nur zum Entgiften von Singulett-Sauerstoff gedient haben.
Unerklärliche Synergie
Noch bevor die chemischen Einzelheiten der Wasseroxidation durch Antikörper aufgeklärt werden konnten, tauchte das ominöse H2O3 ebenso überraschend in einem ganz anderen Zusammenhang auf, der für den Umweltschutz bedeutsam ist. Seit mehreren Jahren wusste man, dass eine Kombination von Wasserstoffperoxid und Ozon (O3) bei der Reinigung von kohlenwasserstoffverseuchtem Boden oder Wasser eine stärkere Wirkung entfaltet, als auf Grund der Reaktivität der einzelnen Bestandteile zu erwarten wäre. Niemand konnte sich diese Beobachtung so recht erklären. Im Januar 2002 präsentierten Anders Engdahl rund Bengt Nelander von der Universität Lund (Schweden) dann experimentelle Belege dafür, dass in diesem Gemisch ebenfalls das Trioxid H2O3 entsteht: Bei tiefen Temperaturen, eingefangen in einer »Matrix« aus gefrorenem Argon, ließ sich die flüchtige Verbindung anhand ihrer Molekülschwingungen identifizieren.
Damit ergibt sich eine völlig neue Landkarte von chemischen Reaktionen zwischen Wasserstoff und Sauerstoff. Bill Goddard vom California Institute of Technology in Pasadena und sein chinesischer Gastwissenschaftler Xin Xu machten sich kürzlich an die exakte Kartografierung, indem sie die verschiedenen Reaktionsmöglichkeiten und nötigen Energien quantenmechanisch berechneten (Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA, Bd. 99, S. 3376 und 15308).
Zentrale Wegkreuzung
Dabei kam heraus, dass das ehemals obskure Trioxid eine zentrale Wegkreuzung darstellt: Aus beiden Richtungen, sowohl von Wasser/Singulett-Sauerstoff als auch von Wasserstoffperoxid/Ozon aus, ist es relativ leicht zu erreichen. Der letztgenannte Reaktionsweg führt über eine weitere überraschende Verbindung aus Wasserstoff und Sauerstoff: einen siebengliedrigen Ring der Zusammensetzung (HOOO)(HOO). Dieser kann auf verschiedenen Wegen H2O3 freisetzen, je nachdem ob er die nötige Energie als Licht oder als Wärme erhält.
Auch auf dem Reaktionspfad, der vom Wasser ausgeht und von Antikörpern geebnet wird, fanden Xu und Goddard viele interessante Wegmarken und Zwischenstationen. So stellte sich heraus, dass Wassermoleküle außer als Reaktionspartner auch als Katalysatoren benötigt werden. Im Überschuss würden sie allerdings die Reaktion verhindern. Der entscheidende Beitrag der Antikörper liegt also vermutlich darin, dass sie genau die richtige Menge an Wassermolekülen in einer ansonsten von Wasser abgeschirmten Umgebung bereitstellen. Als wichtiger Zwischenstopp auf dieser Route entpuppte sich außerdem das bislang gleichfalls unterschätzte Tetraoxid H2O4.
Anhand der nun vorliegenden Steckbriefe dürfte es Forschern leichter fallen, die Polyoxide des Wasserstoffs zu erkennen, auch wenn sie nur für Millisekunden in Erscheinung treten. Gerade wegen ihrer hohen Reaktionsbereitschaft können kurzlebige Molekülarten besonders wirkungsvoll sein. Nachdem die Polyoxide auf derart unterschiedlichen Gebieten wie der Immunologie und dem Umweltschutz schon erstaunliche Talente an den Tag gelegt haben, wäre es nicht verwunderlich, wenn sich he-rausstellte, dass sie auch anderswo einen kurzen, aber fulminanten Auftritt haben. Sie genauer kennen zu lernen kann da nur von Nutzen sein. Zu den Risiken und Nebenwirkungen zählt, dass Studierende künftig im Kapitel über die Wasserstoff-Sauerstoff-Verbindungen einige Formeln mehr lernen müssen als nur H2O und H2O2.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 2003, Seite 15
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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