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Das Schattensyndrom. Neurobiologie und leichte Formen psychischer Störungen.

Aus dem Amerikanischen von Max Looser. Klett-Cotta, Stuttgart 1999. 444 Seiten, DM 78,–.


John J. Ratey, Assistenzprofessor für Psychiatrie an der Harvard Medical School, und die Journalistin Catherine Johnson haben ein Buch geschrieben, das sehr charakteristischer Ausdruck der aktuellen, biologisch orientierten Zeitströmung in der amerikanischen Psychiatrie ist. Sie versuchen aufzuzeigen, dass Millionen von Menschen an – wie sie es nennen – Schattensyndromen leiden: leichten Formen schwerer psychischer Störungen.

Sie zeigen nicht das volle Bild einer Depression, einer Zwangskrankheit, eines Autismus; ihre Traurigkeit, ihre Arbeitsstörung, ihr Unbehagen in Gruppensituationen sind jedoch milde Formen, so genannte formes frustes oder eben shadow syndromes von Erkrankungen, wie sie im DSM (dem diagnostischen und statistischen Handbuch psychischer Störungen) beschrieben sind. Die Probleme dieser Menschen sind im Verständnis der Autoren ebenso wie die voll ausgeprägten Krankheiten nicht in ihrer Lebensgeschichte begründet, sondern basieren auf biologischen Dysfunktionen des Gehirns und sind in vielen Fällen medikamentös zu behandeln (auffallenderweise überwiegend mit Prozac).

Der – nicht untypische – Ausgangspunkt dieses Buches ist das auffallende Verhalten des zweijährigen Kindes der Zweitautorin Catherine Johnson, das vor allem durch seine verzögerte Sprachentwicklung beunruhigte. Nach mehreren Konsultationen wurde den Eltern die Diagnose Autismus genannt. Zwar zeigte das Kind kaum eines der typischen Symptome des Autismus, war ausgesprochen kontaktfreudig und zärtlich. Es litt eben an einer leichten Form von Autismus, was im Verständnis der Autoren bedeutet: Ein Teil des Gehirns funktioniert einfach nicht.

Welche Erkenntnisse gewinnt man durch diese Diagnose für den Umgang mit dem Problem und die Therapie? Nach meiner Ansicht überhaupt keine. Aber: Es gibt jetzt ein Erklärungsprinzip, und zwar ein befriedigenderes und entlastenderes, als Ursache und damit Schuld im eigenen Verhalten oder generell in der Vergangenheit zu suchen. Erkauft wird dies damit, dass das Problem nun als Krankheit etikettiert ist und damit zum chronischen Problem zu werden droht, weil die Ursache als unveränderliche Tatsache angesehen wird, mit welcher der "Patient" sich abzufinden habe.

Im Grunde genommen ist die Idee der Autoren nicht neu: Sie lautete bislang halt, dass viele Menschen – vielleicht wir alle – ihre kleinen Neurosen und "Neuröschen" haben. Erschreckend wird sie für mich in der radikalen Übertragung auf Krankheiten, die als biologisch verankert angesehen werden, und in der daraus folgenden Vorstellung der Autoren: Wenn das Gehirn optimal funktioniert, ist auch der zugehörge Mensch glücklich und zufrieden. Jede Abweichung, ein Übermaß an Traurigkeit, an Aktivität, an Ordnungsliebe, an Wutausbrüchen ebenso wie der Mangel an Aktivität oder an Zufriedenheit beruhen auf "Dysfunktionen" des Gehirns, auf "Strukturabweichungen" oder "genetischen Mängeln" (was immer das im Einzelnen sein mag). Der geniale, aber selbstbezogene, nur auf seine Wissenschaft fixierte Professor ist wahrscheinlich ein larvierter Autist. Der sehr auf Ordnung bedachte Mensch oder der Hypochonder leidet ebenso wie der Unternehmer, der seiner Arbeit mit hohem Ehrgeiz und einer gewissen Besessenheit nachgeht, an einer "leichten Zwangskrankheit". Das bedeutet: Die Spielbreite und Vielfältigkeit des Lebens wird in den Bereich des Krankhaften verlagert.

In welchem Maße die Autoren den Krankheitsbegriff ausweiten, zeigt sich beispielhaft im vierten Kapitel "Erwachsene im Koller: Die intermittierende Wutstörung". "Einer von fünf normalen, alltäglichen, klinisch unauffälligen Menschen erleidet … heftige Anfälle von Wut, die er nicht zu kontrollieren vermag." Als Ursache wird angegeben – und solche globalen Angaben ziehen sich durch das gesamte Buch –: "Diese Menschen leiden an subtilen Hirndifferenzen, die zu einer explosiven affektiven Verfassung führen." Zwar präzisieren Ratey und Johnson das später zu "Hypofrontalität", also einer zu geringen Aktivität des Frontalkortex; die biologischen Erklärungen bleiben aber auch hier sehr pauschal und ihre Darstellung sehr kritiklos. Als weiterer Beweis für die biologischen Ursachen wird dann noch die Wirksamkeit des Psychopharmakons Prozac angeführt.

Die Autoren haben in ihren Text zahlreiche Falldarstellungen aufgenommen; sie berichten immer wieder von dankbaren Patienten, die erleichtert reagieren, weil nun endlich die Diagnose gefunden sei. Diesen positiven Effekt will ich nicht bezweifeln; aber wodurch wird er erreicht? Offensichtlich dient die Krankheitsdiagnose und die damit unterstellte "Störung der Hirnchemie" als Externalisierung des Problemverhaltens, die eine Trennung von Verhalten und Person ermöglicht. Es ist dann nicht eine (möglicherweise in früher Kindheit erworbene) Charaktereigenschaft, seine Wut nicht beherrschen zu können. Vielmehr gibt es, so die Diagnose, ein biologisch bedingtes Problem einerseits und eine im Übrigen intakte Person andererseits, deren Aufgabe es ist, mit dem Problem verantwortungsvoll umzugehen (was die Autoren wiederholt betonen) und zum Beispiel ein Medikament zur Beeinflussung der "Hirnchemie" zu nehmen.

Bei dieser Trennung von Verhalten und Person handelt es sich um eine bekannte pädagogische und therapeutische Technik, die möglicherweise in dieser Form heute besonders wirksam ist, weil die in den Klassifikationen DSM und ICD (International Classification of Diseases) niedergelegten herrschenden wissenschaftlichen Auffassungen und die heute modischen biologischen Erklärungsmuster sie unterstützen. Allerdings nimmt man damit die Krankheitsetikettierung mit allen bekannten Nachteilen in Kauf. Die Autoren haben offensichtlich selbst bemerkt, dass der Patient auf die Krankheitsdiagnose hin weniger bereit ist, Verantwortung für seine krankheitsbedingten Handlungen zu übernehmen.

Insgesamt fand ich die Lektüre des Buches wegen seiner starken Redundanz und eines gewissen Fanatismus, mit dem die Idee des Schattensyndroms "verkauft" wird, recht anstrengend. Das Denkmodell der Autoren ist verführerisch einfach, erfasst aber nicht die Komplexität menschlichen Verhaltens und wird in seinen problematischen Konsequenzen kaum reflektiert.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 2000, Seite 108
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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