Das Schicksal der Neandertaler
Das Auftreten von modernen Menschen in Europa geht hauptsächlich auf die Einwanderung neuer Bevölkerungsgruppen zurück. Diese These erhärtet sich in letzter Zeit immer mehr. Wahrscheinlich kamen diese Menschen aus dem Nahen Osten, und sie begannen, Europa irgendwann vor 40000 bis 30000 Jahren zu besiedeln. Vieles spricht dafür, dass sie über Anatolien den Balkan und von dort aus über die Flusstäler die Ebenen und Täler Mitteleuropas erreichten. Von hier drangen sie weiter nach Norden und Westen vor.
Bisher hieß es, die Neuankömmlinge hätten, wo immer sie auftauchten, die einheimischen Neandertaler in unwirtliche Regionen abgedrängt. Als letzte Festung der archaischen europäischen Bevölkerung galt die Iberische Halbinsel. Neandertaler-Fossilien aus dem spanischen Zafarraya sind 32000 Jahre alt. Ein Alter von nur 28000 Jahren haben dort gefundene Werkzeuge, die Neandertalern zugesprochen werden. Da es spätere Nachweise nicht gab, glaubten viele Wissenschaftler, diese Menschengruppen hätten sich biologisch im frühmodernen Menschen nicht eingebracht. Die überlegene Hominiden-Art hätte die archaische ausgerottet.
In dieses Bild passen aber neue Befunde für den Nordwesten Kroatiens schlecht. Meine Kollegen und ich haben das Alter von zwei Neandertalern aus der Vindija-Höhle direkt mittels Beschleunigermassenspektrometrie bestimmt. Das Ergebnis war erstaunlich: Diese Menschen bewohnten eine der lebensfreundlichsten Regionen Mitteleuropas noch vor 28000 Jahren. Derzeit sind dies die jüngsten Neandertaler. Offenbar ließen sie sich also doch nicht einfach rasch in unwirtliche Gebiete abdrängen, sondern konnten sich lange neben den neuen Bevölkerungen behaupten.
Das Zusammenleben von Neandertalern und frühmodernen Menschen im Herzen Europas währte mehrere Jahrtausende und bot genügend Möglichkeiten für vielfältigen Austausch. Etwas davon könnte Vindija zeigen. Ivor Karavanic´ von der Universität Zagreb und Jakov Radovc¼ic´ vom Kroatischen Naturgeschichtlichen Museum fanden in derselben geologischen Schicht, aus der die Neandertaler-Fossilien stammen, Werkzeuge der gröberen Moustérien- wie der fortschrittlicheren Aurignacien-Kultur. Diese Neandertaler könnten das modernere Gerät selbst hergestellt oder aber von frühmodernen Menschen erhandelt haben. Die Fossilien der Vindija-Höhle wirken übrigens "moderner" als die meisten Neandertaler-Knochen. Möglicherweise waren unter den Vorfahren dieser Hominidengruppe auch anatomisch moderne Menschen.
Den Verdacht, dass ein Genfluss zwi-schen beiden Populationen stattfand, lassen umgekehrt auch Fossilien von frühmodernen Europäern aufkommen. Es könnte sein, dass Neandertaler ihrerseits in der anderen Gruppe ihre Spuren hinterließen. Anders sind einige anatomische Besonderheiten von erwachsenen frühmodernen Menschen etwa aus der Vogelherdhöhle in Südwestdeutschland oder aus Mladec¼ in Tschechien schwer zu erklären. So besitzen nahezu alle Neandertaler wie auch frühmodernen Europäer am Hinterhaupt eine Ausbuchtung, den Hinterhauptsknoten. Diese Ausbildung fehlt bei anatomisch modernen Fossilien von den Nah-Ost-Fundplätzen Skhul und Qafzeh, obwohl dortige Populationen als Vorfahren der frühmodernen Europäer gelten. Noch spektakulärer als die oben genannten Fossilien ist das kürzlich in Portugal entdeckte Skelett eines Kindes, das ein Mischling sein könnte (siehe Kasten auf Seite 45).
Meines Erachtens zeigt die Beweislage, dass der biologische und kulturelle Transfer zwischen Neandertalern und frühmodernen Menschen sehr vielschichtig war. Das komplexe Geschehen passt nicht zu der Vorstellung, dass der moderne Mensch, als er sich in Europa entfaltete, dabei den Neandertaler einfach total verdrängte. Als Individuen existieren Neandertaler längst nicht mehr. Vielleicht sind auch ihre Gene inzwischen aus unserem Genom verschwunden. Trotzdem haben diese Gene mitgemischt, als die biologische Geschichte des modernen Menschen in Europa ihren Anfang nahm.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 2000, Seite 48
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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