Das Schmarotzer-Dilemma
In einer Gruppe steht der einzelne oft vor der Wahl zwischen Eigennutz und Gemeinwohl. Mit Modellen sozialer Situationen und Prozesse läßt sich erklären, wie überhaupt Kooperation entsteht – und warum das Gruppenverhalten plötzlich umschlagen kann.
Angenommen, Sie gehen mit Bekannten in ein gutes Restaurant; bezahlt werden soll zu gleichen Teilen. Was würden Sie bestellen? Nehmen Sie das Tellergericht oder den teuren Lammbraten samt Vor- und Nachspeise? Hausmarke oder Cabernet Sauvignon 1983?
Wenn Sie sich keinerlei Zwang antun, können Sie vielleicht ein exzellentes Abendessen fast geschenkt bekommen. Denkt so aber jeder in der Gruppe, gibt es am Ende für alle eine gepfefferte Rechnung.
Diese in privater Runde noch relativ harmlose Zwickmühle – man könnte sie das Schmarotzer-Dilemma nennen – steht für eine Reihe durchaus ernster und schwieriger Probleme, die überall in der Gesellschaft auftauchen (Bild 1). Soziologen, Ökonomen und Politologen entdecken diesen Typ von Konflikt zwischen dauerhaftem sozialem und momentanem persönlichem Nutzen auf so unterschiedlichen Gebieten wie Umweltschutz, Schonung natürlicher Ressourcen, Spenden, Verzicht auf übermäßige Versicherungsansprüche, Verlangsamung von Rüstungswettläufen oder Kontrolle des Bevölkerungswachstums. All diese Ziele erfordern kooperatives Handeln. Nur – wie lassen sich Individuen dazu bringen, zum Gemeinwohl beizutragen, obwohl ihnen Selbstsucht vorderhand mehr verspricht? Die Untersuchung solcher Probleme vermag zu erklären, wie aus persönlichen Entscheidungen und deren Wechselwirkungen soziale Verhaltensweisen hervorgehen.
Zu diesem Zweck hat man oft eine Gruppe von Testpersonen in definierten Situationen vor die Entscheidung zwischen gemeinsamem und individuellem Vorteil gestellt. Diese Experimente bestätigten die Hypothese des Ökonomen Mancur L. Olson von der Universität von Maryland in College Park aus den fünfziger Jahren, daß kleine Gruppen eher zu freiwilliger Kooperation neigen als große. Auch zeigte sich, daß wiederholtes Durchspielen derselben Situation kooperatives Verhalten fördert; dieser Effekt verstärkt sich noch, wenn den Teilnehmern erlaubt wird, miteinander zu kommunizieren.
Seit einiger Zeit simuliert man das soziale Verhalten von Gruppen auch mit leistungsfähigen Computern (Spektrum der Wissenschaft, Februar 1993, Seite 68). Obwohl diese Versuche der Komplexität menschlicher Entscheidungen sicherlich nicht gerecht werden, glauben wir, daß sich damit einige Prinzipien aufdecken lassen, denen die Interaktion zahlreicher Teilnehmer gehorcht. Wir haben in den letzten drei Jahren soziale Kooperation sowohl mit analytischen Methoden als auch mit Simulationen untersucht, wobei uns nicht nur der Ausgang des jeweiligen Entscheidungskonflikts interessiert hat, sondern auch, wie die Dynamik der Wechselwirkungen sich in unterschiedlichen Gruppen entwickelt.
Nach unserer mathematischen Theorie des sozialen Dilemmas läßt sich durchgängig kooperatives Verhalten nicht aufrechterhalten, sobald die Größe der Gruppe einen kritischen Wert überschreitet; er hängt davon ab, für wie lange die Mitglieder erwarten, in der Gruppe zu bleiben, sowie von der ihnen zugänglichen Informationsmenge. Der Charakter des Gruppenverhaltens kann plötzlich und unerwartet von kooperativ in egoistisch umschlagen und umgekehrt. Diese Resultate dürften bei der Interpretation historischer Trends hilfreich sein, aber auch für die sinnvolle Reorganisation von Unternehmen, Gewerkschaften, Regierungen und anderen sozialen Gruppen.
Spieltheoretische Modelle
Das gebräuchlichste Werkzeug zur mathematischen Beschreibung eines sozialen Dilemmas ist die Spieltheorie. Das Fundament legten im Jahre 1944 der ungarisch-amerikanische Mathematiker John von Neumann und der deutsch-amerikanische Volkswirtschaftler Oskar Morgenstern mit ihrem Werk "Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten". Die Strategie jedes Individuums wird dabei mit einer Nutzenfunktion bewertet, die den Folgen jeder Entscheidung einen numerischen Wert – in Mark, Äpfeln oder einer anderen Einheit – zuordnet.
In der Spieltheorie handeln alle Teilnehmer stets rational in dem Sinne, daß sie die Strategie wählen, die für sie selbst den höchsten Nutzen ergibt. (Wirkliche Menschen handeln gewiß nicht immer so; doch für einfache Situationen, in denen die Spieler nur wenige Strategien zur Auswahl haben, trifft die Annahme praktisch zu.)
Es ist nicht schwierig, ein soziales Dilemma in Form von Spielregeln auszudrücken. Allgemein handelt es sich stets um eine Gruppe von Menschen, die sich ein gemeinsames Gut verschaffen wollen, ohne daß eine zentrale Autorität eingriffe. Beim Schmarotzer-Dilemma wird das gemeinsame Ziel umso mehr erreicht, je geringer die kollektive Rechnung ausfällt. Kooperativ nennt man dabei Spieler, die ein dem Anlaß gemäßes oder billigeres Menü wählen, selbstsüchtig jene, die keine Kosten für die ganze Gruppe scheuen und darauf setzen, daß ihr Anteil an der übermäßig hohen Rechnung marginal bleibt.
Wie sich versteht, ist das Spiel nur ein idealisiertes mathematisches Modell – wie sollte man auch psychische Faktoren wie Freude am Essen oder Schuldgefühle gegenüber Freunden, denen man eine unerwartet hohe Ausgabe aufbürdet, quantifizieren? Trotzdem ist die Dynamik des Spiels aufschlußreich.
Wiederholte Spiele
Muß nämlich ein Spieler die Erfahrung machen, daß die Kosten seines Kooperierens höher sind als sein Anteil am zusätzlichen Nutzen, so wird er bei nächster Gelegenheit selbst zum Schmarotzer werden. Ergibt sich noch einmal die Konstellation wie beim ersten Mal, dürfte kein Gruppenmitglied mehr auf Kooperation setzen. Dann stehen freilich sämtliche Teilnehmer ärmer da als nötig. Doch die Voraussetzungen ändern sich, wenn die Spieler wissen, daß sie öfter mit derselben Gruppe zusammenkommen werden. Nun muß jeder einzelne schon anfangs die Folgen seiner Entscheidung in weiteren Durchgängen einkalkulieren. Er kann nicht mehr bloß auf das augenblickliche Verhalten der anderen reagieren, sondern hat seine Strategie aufgrund von Plänen, Zielen und Vermutungen zu wählen. Worauf beruhen diese Erwartungen?
Zum einen hat jedes Individuum eine Vorstellung davon, wie lange eine bestimmte soziale Interaktion dauern wird, und diese Einschätzung beeinflußt seine Entscheidung. Wer nur ein einziges Mal mit einer Gruppe ausgeht, wird eher auf Kosten der anderen über die Stränge schlagen als jemand, der oft dieselben Freunde trifft. Die erwartete Dauer eines Spiels nennen wir Horizontweite.
Des weiteren überlegt jeder Spieler, wie seine Strategie das künftige Verhalten der übrigen beeinflußt. Im Restaurant wird er die Chance auf ein üppiges Menü zu geringfügig erhöhtem Anteil an der Zeche lieber ungenutzt lassen, wenn er fürchten muß, daß sonst beim nächsten Mal auch die anderen großzügig bestellen werden. Diese Vorsicht hängt direkt von der Größe der Gruppe ab: In einer unüberschaubaren Menge kann der einzelne erwarten, daß die Folgen seiner Entscheidung – Kooperation oder nicht – sich kaum auswirken (20 Mark mehr auf der gemeinsamen Rechnung sind leichter zu verschmerzen, wenn sie sich auf 30 Personen verteilen statt auf fünf). Der Spieler wird folgern, daß seine Strategie mit wachsender Teilnehmerzahl immer weniger Konsequenzen hat.
Oberhalb einer bestimmten Gruppengröße läßt sich mithin allgemeine Kooperation nicht mehr aufrechterhalten. Die Wahrscheinlichkeit, daß dem einzelnen aus seiner Selbstsucht Nachteile erwachsen, wird gegenüber dem möglichen Gewinn so gering, daß nichts mehr gegen egoistisches Verhalten spricht. Wie unsere Experimente gezeigt haben, hängt diese kritische Größe allerdings auch von der Horizontweite ab: Je länger das Spiel nach Meinung der Teilnehmer dauern wird, desto eher kooperieren sie. Damit bestätigt sich die naheliegende Vermutung, daß Kooperation in kleinen und langlebigen Gruppen am wahrscheinlichsten ist.
Bei der kleinstmöglichen sozialen Gruppe, die nur aus zwei Spielern besteht, tritt als besonderer Grenzfall das bekannte Gefangenendilemma auf (Spektrum der Wissenschaft, August 1983, Seite 8). Der Name stammt von der Situation, mit der es oft veranschaulicht wird: Ein Gefangener bekommt die Wahl, entweder einen Mitgefangenen zu verraten und dafür entlassen zu werden (Egoismus) oder ihn zu decken und eine harte Strafe zu riskieren, falls der andere ihn verrät (Kooperation). Wegen der psychologisch eindeutig definierten Situation funktionieren im Gefangenendilemma gewisse Strategien, die in größeren Gruppen versagen. Die erfolgreichste namens "Tit for Tat" ("Wie du mir, so ich dir") beruht auf Vergeltung und Vergebung: Der Spieler kooperiert anfangs und tut danach jeweils genau das, was der andere zuletzt getan hat. Das funktioniert, weil jeder Spieler die Handlung des Gegenspielers als direkte Antwort auf seine eigene erkennen kann. Doch in Gruppen mit mehr als zwei Mitgliedern ist es einem Spieler unmöglich, einen anderen gezielt zu belohnen oder zu bestrafen, weil jeder strategische Schwenk die gesamte Gruppe beeinflußt.
In einer größeren Gruppe wird der einzelne, wenn er in ein soziales Dilemma gerät, einer gemischten Strategie folgen, in der die Bereitschaft zur Kooperation vom erwarteten Gewinn abhängt: Er wird nur dann kooperieren, wenn zumindest ein bestimmter Bruchteil der Gruppe dies ebenfalls tut; dann kann er nämlich erwarten, trotz anfänglicher Verluste auf lange Sicht doch einen Gewinn zu erzielen. Fällt die Anzahl der Kooperierenden unter diesen kritischen Wert, so schließt der zu erwartende Verlust Zusammenarbeit aus, und das Individuum wird fortan selbstsüchtig handeln. Die Strategien, Erwartungen und Schwellenwerte der einzelnen Spieler bestimmen, ob die Kooperation in einer Gruppe von Dauer ist.
Ebenso wichtig wie diese Frage ist, auf welche Weise in einem sozialen Umfeld Kooperation oder Selbstsucht entsteht. Angenommen, unser hypothetischer Freundeskreis teilt sich nach vielen kostspieligen Abendessen in kleinere Grüppchen auf, weil er dadurch gemeinschaftsdienlicheres Verhalten zu fördern hofft. Wie lange dauert es, bis eine kleine Gruppe von Egoisten kooperativ wird? Geht der Wechsel allmählich oder abrupt vor sich?
Zur Untersuchung dieser Prozesse benutzten wir Methoden der statistischen Thermodynamik. Dieser Zweig der Physik sucht die makroskopischen Eigenschaften von Substanzen aus den Wechselwirkungen ihrer Moleküle zu erklären. Analog wollen wir das Gruppenverhalten von Individuen erforschen, die mit sozialen Entscheidungen konfrontiert sind.
Die Stabilitätsfunktion
Unsere Methode beruht auf der Konstruktion einer Stabilitätsfunktion. Die entsprechende Kurve beschreibt die relative Stabilität des Gruppenverhaltens in Abhängigkeit von dem jeweiligen Maß an Kooperation der Mitglieder. Der Kurvenverlauf für ein bestimmtes soziales Dilemma ergibt sich aus Kosten, Nutzen und individuellen Erwartungen.
Im allgemeinen hat die Funktion zwei Minima, welche die stabilsten Zustände der Gruppe repräsentieren: weit verbreitete Selbstsucht beziehungsweise generelle Kooperation. Dazwischen erhebt sich eine hohe Barriere, die den instabilsten Zustand verkörpert. Die relative Höhe der Extremwerte hängt von der Größe der Gruppe und der den Mitgliedern verfügbaren Informationsmenge ab. Mit dieser Funktion läßt sich vorhersagen, welche Auswege aus dem Dilemma möglich sind und wie lange die Gruppe in einem bestimmten Zustand verharren wird (Bild 2).
Der Funktionswert des Gruppenverhaltens wird sich vom Anfangszustand stets zur nächsten Senke bewegen. Dort kommt er aber nicht zum Stillstand, sondern schwingt – wie ein Ball, der in eine vibrierende Mulde gerollt ist – um seine Ruhelage. Diese zufälligen Störungen entstehen durch die Ungewißheit der einzelnen Spieler über die Handlungen der anderen. Wenn ein Individuum den Grad der Kooperation in der Gruppe falsch einschätzt, bricht es vielleicht irrtümlich aus der Kooperation aus und bringt damit das System vorübergehend aus dem Gleichgewicht. Je mehr Unsicherheit im System herrscht, desto wahrscheinlicher sind solche Fluktuationen.
Normalerweise sind diese Störungen so geringfügig, daß das System längere Zeit in der Nähe eines Minimums bleibt. Doch langfristig treten große Fluktuationen auf; sie entstehen, wenn viele Individuen die Strategie wechseln, bis schließlich der Funktionswert über die Barriere zwischen den Minima springt. Darum wird das System nach genügend langer Zeit stets im stabileren Gleichgewichtszustand enden, selbst wenn es sich zunächst in den anderen, metastabilen Zustand begeben hat.
Große Fluktuationen sind extrem selten: Die mittlere Zeitspanne bis zur nächsten wächst exponentiell mit der Gruppengröße. Tritt der Übergang vom lokalen Minimum zum Maximum der Kurve aber einmal ein, so gleitet das System in sehr kurzer Zeit – sie ist proportional zum Logarithmus der Gruppengröße – in das globale Minimum hinab. Demnach sagt die Theorie voraus, daß in einem Dilemma das Gruppenverhalten lange gleich bleibt; wenn es sich aber einmal qualitativ ändert, dann sehr rasch.
Computerexperimente bestätigen diese Vorhersage. Dabei wird eine Gesellschaft von abstrakten Agenten – Programmen, die wie Individuen entscheiden – mit einem sozialen Dilemma konfrontiert. Die Agenten bewerten in unkoordinierten Zeitabständen ihre Situation immer wieder neu und entscheiden, ob sie kooperieren oder nicht. Diese Wahl beruht auf mehr oder weniger unvollständiger oder verspäteter Information darüber, wie viele Mitspieler gerade kooperieren. Aus der Summe aller einzelnen Entscheidungen ergibt sich der aktuelle Grad von Zusammenarbeit beziehungsweise Selbstsucht in der Gruppe. Der Experimentator kann auf diese Weise statistische Daten über die zeitliche Entwicklung des Kooperationsniveaus sammeln.
Bei einem typischen Experiment besteht die Gruppe aus zehn Agenten, die anfangs durchweg Egoisten sind. Schätzt ein Agent aber einmal das Kooperationsniveau der anderen falsch ein und ändert sein Verhalten, so steckt er mitunter die ganze Gruppe an. Das heißt, der Funktionswert der Gruppe bleibt lange in der Nähe ihres metastabilen Anfangszustands, springt aber irgendwann auf einmal zu dem des kooperativen Verhaltens (Bild 3).
Dieses plötzliche Auftreten von Gemeinsinn ist offenbar ein gutes Modell für bestimmte soziale Phänomene – etwa für die Ausbreitung umweltbewußten Verhaltens. Auch in vielen Regionen Europas und der USA, wo das Ex-und-hopp-Prinzip herrschte, gehört freiwilliges Recycling seit kurzem zum normalen Alltag (Bild 5).
Wiederverwertung gebrauchter Materialien stellt den Konsumenten vor ein soziales Dilemma: Der Nutzen für den Schutz der Umwelt ist erheblich, wenn sich der Großteil der Bevölkerung daran beteiligt, aber kaum spürbar, wenn nur wenige mitmachen. Der Aufwand für den einzelnen – das getrennte Sammeln und Wegbringen von Altpapier, Flaschen und Verpackungen – bleibt hingegen in jedem Falle gleich. Unsere Theorie vermag zwanglos zu erklären, warum die Gesellschaft sich nach einer langen Phase weitgehender Untätigkeit so plötzlich für Recycling, Schadstoffkontrolle und andere Maßnahmen zum Umweltschutz engagiert.
Heterogene Gruppen
In den bisher beschriebenen Modellen kalkulieren alle Spieler ihren Gewinn auf gleiche Weise und hegen die gleichen Erwartungen über die Folgen ihres Handelns. Doch in Wirklichkeit weichen persönliche Einschätzungen stark voneinander ab. Wir haben darum untersucht, wie individuelle Vielfalt die Dynamik sozialer Gruppen beeinflußt.
Eine Gruppe kann auf zweierlei Art heterogen sein: Die individuellen Unterschiede variieren entweder um einen gemeinsamen Mittelwert, oder die Mitglieder verteilen sich auf Fraktionen. Im ersten Falle stimmen die Einstellungen im wesentlichen überein. Zum Beispiel zieht vielleicht einer unserer Gourmets etwas mehr künftige Restaurantbesuche in Betracht als die Tischnachbarn; doch denkt der typische Gast rund zehn gemeinsame Mahlzeiten weit in die Zukunft, und die individuellen Horizontweiten weichen nur mehr oder weniger davon ab.
Obwohl Modelle, die derlei Abweichungen berücksichtigen, komplizierter sind als solche von homogenen Gruppen, folgt ihre Dynamik dennoch einem deutlichen Muster. Im Grunde wirkt die Vielfalt als zusätzliche Unsicherheit und erzeugt Fluktuationen des Systemzustands. Handeln die meisten Individuen selbstsüchtig, so wird wahrscheinlich zuerst der Teilnehmer mit dem weitesten Horizont zu Kooperation übergehen. Dies könnte dann andere mit überdurchschnittlich weitem Horizont zum Mitmachen anregen, bis eine Kettenreaktion schließlich die ganze Gruppe erfaßt hat.
Der Verlauf der Montagsdemonstrationen in Leipzig, die zum Rücktritt des DDR-Staatsratsvorsitzenden und SED-Generalsekretärs Erich Honecker im Oktober 1989 erheblich beigetragen haben, zeigt deutlich den Einfluß individueller Unterschiede auf den Ausgang eines sozialen Dilemmas. Anfang des Jahres hatte Michail S. Gorbatschow, der damalige Präsident der Sowjetunion, den Regierungen des Ostblocks die vordem massive militärische Unterstützung praktisch aufgekündigt; seine Politik ließ für die Bevölkerungen Osteuropas die Frage zu, ob sie sich der bestehenden sozialen Ordnung überhaupt noch verpflichtet fühlten. Die Einwohner Leipzigs, die Liberalisierung und Demokratisierung ("Wir sind das Volk!") herbeisehnten, hatten abzuwägen: Entweder sie blieben zu Hause in Sicherheit, oder sie gingen auf die Straße und riskierten, verhaftet zu werden – wobei sie nach dem dramatischen weltpolitischen Klimaumschwung annehmen konnten, daß dieses Risiko mit wachsender Anzahl von Demonstranten sank, während zugleich die Chance für einen Wandel in der DDR wuchs (Bild 1).
Ein Ängstlicher stellt sich erst gegen ein Regime, wenn schon Tausende öffentlich ihre Stimme erheben; ein revolutionär gesonnener Opponent ist schon bei den ersten Unruhen dabei. Diese abweichenden Schwellenwerte sind aber nur eine Form individueller Unterschiede; die Bürger schätzen zudem die nötige Dauer von Protesten sowie ihre persönliche Bereitschaft, ein Risiko zu tragen, unterschiedlich ein. Die Soziologen Bernhard Prosch und Martin Abraham von der Universität Erlangen haben die Leipziger Demonstrationen untersucht und gefolgert, die Unterschiede in den Schwellenwerten seien wichtig für das Auslösen der Massenproteste gewesen: Zunächst hatte sich nur eine kleine Schar zu exponieren gewagt – sechs Wochen später waren es mehr als 500000.
Beim zweiten Typ von individueller Vielfalt in einer sozialen Gruppe bilden sich mehrere Fraktionen, die durch jeweils andere Ansichten charakterisiert sind. Wenn in unserer Tischrunde zum Beispiel arme Studenten mit wohlhabenden Berufstätigen zusammenkommen, wird es recht unterschiedliche Vorstellungen davon geben, ob ein Mahl opulent oder frugal ist. Alles in allem werden die Differenzen unter den Studenten jedenfalls gegenüber dem Unterschied zwischen den Mittelwerten beider Untergruppen geringfügig sein.
Geht eine große Gruppe, die mehrere Fraktionen enthält, von generellem Egoismus zu allgemeiner Kooperation über, so geschieht dies schrittweise. Die Teilgruppe mit der größten Kooperationsbereitschaft (zum Beispiel diejenige mit dem im Mittel weitesten Horizont oder mit den niedrigsten Durchschnittskosten bei Kooperation) macht normalerweise den Anfang. Die anderen Untergruppen werden dann – wahrscheinlich in der Reihenfolge ihrer Kooperationsbereitschaft – folgen (Bild 4).
Hierarchien
Die Beziehungen zwischen den Untergruppen können die Entwicklung von Kooperation stark beeinflussen; das gilt vor allem für große hierarchische Organisationen. Wie wichtig eine Person die Handlungen einer anderen nimmt, hängt vor allem von deren Position in der Rangordnung ab. Darum funktionieren Hierarchien ganz anders als egalitäre Gemeinschaften.
Gerade auch in alltäglichen informellen Konstellationen verbergen sich oft funktionelle Hierarchien. So ist Luftverschmutzung zwar ein globales Problem und muß kollektiv gelöst werden; aber wir ärgern uns mehr, wenn der Nachbar Kompost verbrennt, als wenn jemand am anderen Ende des Ortes dasselbe tut. Das Empfinden, betroffen zu sein, nimmt mit wachsender Entfernung ab. Dies läßt sich als hierarchische Schichtung von Interaktionen zwischen Nachbarn, Städten, Kreisen, Ländern, Staaten und Kontinenten darstellen. Der Einfluß, den die Handlung eines anderen auf die eigene Entscheidung hat, hängt von der Anzahl der Hierarchieebenen ab, die dazwischen liegen.
Die effektive Größe einer hierarchischen Gruppe ist deswegen viel geringer als die Anzahl ihrer Elemente. Die Handlungsweise Ihres unmittelbaren Nachbarn kann auf Ihre Entscheidungen ebenso großen Einfluß ausüben wie alle Aktionen in der weiteren Umgebung zusammen – dann ist das Ganze in seiner hierarchischen Bedeutung für Sie weitaus weniger als die Summe seiner Teile.
Die Computerexperimente zeigen, wie sich in großen Hierarchien dennoch gleichsinniges Verhalten auszubreiten vermag. Übergänge von Selbstsucht zu Kooperation (und umgekehrt) werden meist von den kleinsten Einheiten angestoßen, die gewöhnlich die niedrigste Ebene der Hierarchie einnehmen. Von dort kann sich ein solcher Trend sukzessive in höhere Ebenen fortpflanzen. Der Prozeß kommt allerdings mitunter zum Stillstand, wenn der Einfluß auf entfernte Einheiten zu schwach ist; dann kann es innerhalb des Systems einige Zweige geben, die kooperieren, während andere über lange Zeit selbstsüchtig handeln.
Diesen Resultaten zufolge lassen Organisationen sich so umstrukturieren, daß ihre Mitglieder in einem sozialen Dilemma verläßlich kooperieren. Für eine Firma ist es zum Beispiel vorteilhaft, wenn die Manager ihr Wissen miteinander teilen, statt Informationen zurückzuhalten, etwa weil sie fürchten, daß ihre Kollegen damit Karriere machen. Bevor jemand besondere Kenntnisse preisgibt, möchte er sicher sein, daß auch andere dazu bereit sind. Durch Etablieren eines Netzwerks aus kleineren Gruppen von Managern vermag man ihnen diese Sicherheit zu vermittlen und dadurch das Dilemma zu entschärfen. Außerdem entstehen durch Umstrukturierung eines großen Unternehmens in kleinere Einheiten leichter Keime von Zusammenarbeit, die sich rasch ausbreiten können.
Umgekehrt fördert das ungesteuerte Wachstum von Organisationen die Tendenz zum Trittbrettfahren und senkt dadurch die Effektivität. Allerdings garantiert eine Reorganisation nicht sofortige Verbesserung: Der Übergang zur generellen Kooperation kann trotzdem lange dauern; er läßt sich aber beschleunigen, indem man gemeinschaftsdienliches Verhalten belohnt und die zur Teamarbeit fähigsten Manager auf kleine Kerngruppen überall in der Organisation verteilt.
Spontane Kooperation
Die Untersuchung sozialer Zwickmühlen vermag zu erklären, wie Individuen in der Konfrontation mit widersprüchlichen Möglichkeiten zur Zusammenarbeit finden. Insbesondere hat sich gezeigt, daß dieses wichtige Phänomen menschlichen Verhaltens spontan entstehen kann, wenn die Individuen kleine, heterogene Gruppen bilden und erwarten dürfen, daß sie lange darin bleiben werden. Noch wichtiger ist, daß Kooperation sich plötzlich und unerwartet nach einer langen Phase der Stagnation einzustellen vermag.
Die Welt hallt noch immer von den politischen und sozialen Umwälzungen der vergangenen Jahre wider. Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik, der Zerfall der Sowjetunion in viele autonome Republiken und die Auflösung des Warschauer Paktes sind Beispiele für die abrupte Aufkündigung scheinbar fester Sozialstrukturen. Hingegen stehen die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zur Zeit vor dem sozialen Dilemma, nationales Eigeninteresse mit internationaler Kooperation zu versöhnen. Wenn unsere Vorhersagen stimmen, wird diese Umgestaltung nicht stetig vor sich gehen, sondern in Form von unerwarteten Sprüngen.
Literaturhinweise
- The Logic of Collective Action: Public Goods and the Theory of Groups. Von Mancur Olson jr. Harvard University Press, 1965.
– The Tragedy of the Commons. Von Garrett Hardin in: Science, Band 162, Seiten 1243 bis 1248, 13. Dezember 1968.
– Collective Action. Von Russell Hardin. Johns Hopkins University Press, 1982.
– Institutional Structure and the Logic of Ongoing Collective Action. Von Jonathan Bendor und Dilip Mookherjee in: American Political Science Review, Band 81, Heft 1, Seiten 129 bis 154, März 1987.
– The Outbreak of Cooperation. Von N.S. Glance und B.A. Huberman in: Journal of Mathematical Sociology, Band 17, Heft 4, Seiten 281 bis 302, April 1993.
– Social Dilemmas and Fluid Organizations. Von N.S. Glance und B.A. Huberman in: Computational Organization Theory. Herausgegeben von K.M. Carley und M.J. Prietula. Lawrence Erlbaum Associates (im Druck).
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1994, Seite 36
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