Direkt zum Inhalt

Das Sonnenobservatorium SOHO

Seit Februar 1996 liefert dieser Satellit von einem optimalen Standort aus kontinuierlich Daten über unser Zentralgestirn. Daraus ergeben sich neue Erkenntnisse über dessen äußerst dynamisches Verhalten.

Von der Erde aus erscheint die Sonne, nur durch einen licht- dämpfenden Filter betrachtet, als gleichförmiger Gasball mit glatter Oberfläche. Genauere Beobachtung mit speziellen Teleskopen offenbart jedoch, daß sie sich in beständigem Aufruhr befindet – ein Umstand, der viele grundlegende Fragen aufwirft. Wir Astronomen verstehen zum Beispiel nicht, wie dieser Stern seine Magnetfelder erzeugt, die eine Vielfalt von dynamischen Prozessen hervorrufen wie etwa sporadische Explosionen, die auf unserem Planeten magnetische Stürme und sogar Stromausfälle verursachen können. Wir wissen auch nicht, warum sich dieser Magnetismus in den Sonnenflecken konzentriert, relativ kühlen, dunklen Gebieten auf der Oberfläche, die oftmals die Größe der Erde überschreiten und ein tausendfach stärkeres Magnetfeld aufweisen. Zudem ist noch wenig über die physikalischen Prozesse bekannt, welche die magnetische Aktivität der Sonne in einem etwa elf Jahre dauernden Zyklus abklingen und wieder drastisch ansteigen lassen (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1996, Seite 48).

Ein besseres Verständnis dieser Vorgänge und ihres Einflusses auf irdische Verhältnisse erhofft man sich von dem zwei Tonnen schweren "Solar and Heliospheric Observatory" (kurz SOHO genannt), einem Gemeinschaftsprojekt der Europäischen Weltraumbehörde ESA und der amerikanischen Luft- und Raumfahrtbehörde NASA, das am 2. Dezember 1995 gestartet wurde. Die Instrumentenkapsel erreichte am 14. Februar 1996 ihre Sollposition, den sogenannten inneren Librations- oder Lagrange-Punkt L1. Dieser ist einer von fünf Gleichgewichtspunkten im System Erde-Sonne, in denen sich die Anziehungskräfte beider Himmelskörper genau aufheben, wie der französische Mathematiker Joseph Louis de Lagrange (1736 bis 1813) im Jahre 1772 erkannt hatte. L1 befindet sich etwa 1,5 Millionen Kilometer von der Erde entfernt in Richtung Sonne – was einem Prozent des Gesamtabstands entspricht.

Während frühere Raumfahrzeuge zur Sonnenforschung die Erde umkreisten, die regelmäßig eine Zeitlang den Blick versperrte, vermag SOHO nun von seiner Warte aus unser Zentralgestirn kontinuierlich zu beobachten. Die Forschungsplattform umrundet es wie die Erde jeweils innerhalb eines Jahres. Zwölf Bordinstrumente vermessen die Sonne ungestört mit noch nie erreichter Genauigkeit; über die Antennen des Deep Space Network, die sich auf mehreren Kontinenten befinden, senden sie unablässig einige tausend Bilder pro Tag zum Goddard-Raumflugzentrum der NASA in Greenbelt (Maryland). Von da aus wird auch der Betrieb der Sonde kontrolliert.

Es mutet allerdings ein wenig paradox an, daß die Experimenter's Operations Facility ein fensterloser Raum ist. Dort arbeiten Sonnenphysiker aus aller Welt, um unser Tagesgestirn rund um die Uhr zu beobachten. Viele der einzigartigen Aufnahmen, die sie empfangen, werden praktisch sofort über die SOHO Homepage im World Wide Web (http://sohowww.nascom.nasa.gov/) öffentlich zugänglich gemacht.

Als das Observatorium seinen Betrieb aufnahm, befand sich die Sonne gerade im Minimum ihres letzten Aktivitätszyklus. Weil es über Treibstoff für mehr als zehn Jahre verfügt, kann es sie in allen Phasen ihrer Aktivität überwachen, mindestens bis zum nächsten Maximum, das zur Jahrhundertwende eintreten sollte. Doch bereits jetzt hat SOHO einige erstaunliche Ergebnisse geliefert.


Schallwellen als Tiefensonden

Um den solaren Aktivitätszyklus verstehen zu können, muß man die Vorgänge tief im Inneren des Himmelskörpers erforschen, wo die Magnetfelder generiert werden. Das abgestrahlte Licht stammt indes aus einer nur etwa 300 Kilometer mächtigen äußeren Schicht, der Photosphäre, so daß daraus keine direkten Aufschlüsse über interne Prozesse zu gewinnen sind.

Seit 1960 weiß man jedoch, daß sich die Photosphäre rhythmisch auf- und abbewegt, und zwar mit einer Periode von etwa fünf Minuten. Ursache dafür sind Schallwellen, die das Sonneninnere durchlaufen (Bild 2). Weil Schall sich nur innerhalb von Materie ausbreiten kann, vermögen sie die Oberfläche des riesigen Gasballs nicht nach außen zu durchdringen, sondern werden daran reflektiert – sie sind gewissermaßen in der Sonnenkugel eingeschlossen. Die Gasmassen der Photosphäre können sich dabei mit einer Geschwindigkeit von einigen hundert Metern pro Sekunde um etliche Dutzend Kilometer heben und senken. Diese Oszillationen nutzt man nun als Indikator für Vorgänge in nicht einsehbaren Tiefen.

Das rhythmische Auf und Ab verformt die Photosphäre auf komplizierte Weise. Das ist nur mit speziellen Meßgeräten zu erkennen, die Frequenzverschiebungen von Absorptionslinien im Sonnenspektrum erfassen. Infolge des Doppler-Effektes erscheinen sie nämlich zu kleineren beziehungsweise größeren Wellenlängen verschoben, je nachdem, ob die Emissionsgebiete sich auf den Beobachtungsstandort zu oder von ihm weg bewegen. Zwei Instrumente an Bord von SOHO – der Michelson Doppler Imager (MDI) und ein nach seinem Untersuchungsgegenstand Global Oscillations at Low Frequencies (GOLF) benanntes Gerät – messen die Geschwindigkeit der aufsteigenden und absinkenden Gasmassen mit einer Genauigkeit von weniger als einem Millimeter pro Sekunde (Bild 4). Ein drittes Instrument – Variability Irradiance and Gravity Oscillations (VIRGO) – registriert zudem die feinen Helligkeitsschwankungen, die durch die Schallwellen verursacht werden: Ihre Wechselwirkung mit den glühenden Gasen stört die Lichtabstrahlung, so daß die Photosphäre nicht gleichmäßig leuchtet, sondern scheinbar willkürlich flackert.

Die Oszillationen zeigen an, daß die gesamte Sonnenmasse wie die einer gigantischen Glocke vibriert – freilich unhörbar, weil sich der Schall nicht durch das Vakuum des Weltraums ausbreitet (das menschliche Ohr würde solch niedrige Frequenzen auch gar nicht wahrnehmen). Dieses Beben ist nicht eine einzelne reine Schwingung, sondern setzt sich aus einem Durcheinander von etwa zehn Millionen verschiedenen Frequenzen zusammen. Jede dieser Schallwellen bewegt sich dabei auf einem eindeutigen Weg und spiegelt eine genau definierte Zone des Sonneninneren wider.

Die Schallgeschwindigkeit, die von Temperatur und chemischer Beschaffenheit des Gases abhängt, nimmt mit der Tiefe zu. Dadurch bewegt sich der tiefere Teil jeder Wellenfront, die durch den Glutball läuft, schneller als der höher vordringende, so daß die Welle insgesamt nach oben gekrümmt und zur Oberfläche zurückgebeugt wird. Des weiteren hängt es von der Wellenlänge ab, wie tief eine Welle vorzudringen vermag. Um die physikalische Beschaffenheit des Sterninneren – von der turbulenten Konvektionszone, welche die äußeren 28,7 Prozent des Radius umfaßt, durch die strahlungsdominierte Zone bis in den Kern – ermitteln zu können, muß man deshalb die genaue Tonlage aller Schwingungen herausfiltern (Bild 2); das MDI-Teleskop vermißt dazu jede Minute eine Million Punkte auf der Sonnenoberfläche.

Die Wissenschaftler des SOHO-Teams berechnen nun für jede Wellenlänge Eindringtiefe und Laufzeit der Schallwelle anhand eines numerischen Modells, das die tiefenabhängige Schallgeschwindigkeit beschreibt. Die relativ geringen Unterschiede zu den tatsächlich gemessenen Werten nutzen sie dann wieder zur Feinabstimmung des Modells. Daraus ermitteln sie schliesslich die radialen Temperatur- und Dichtevariationen der Sonne sowie die Änderungen der chemischen Zusammensetzung.

In der gegenwärtigen Phase des Sonnenzyklus stimmen die theoretischen Erwartungen gut mit den Meßwerten des MDI überein – die Differenzen sind nicht größer als 0,2 Prozent. Das eigentlich Interessante ist, wo und warum diese Unterschiede entstehen. Sie nämlich zeigen an, daß sich in zwei schalenförmigen Bereichen Materie vermischt: an der Grenze zum energieerzeugenden Kern sowie dicht unterhalb der Konvektionszone (Bild 5).

Aus der Beobachtung von Sonnenflecken wissen die Astronomen seit mehr als drei Jahrhunderten, daß die Sonne sich nicht wie eine starre Kugel dreht. Die Photosphäre rotiert vielmehr am Äquator am schnellsten, und die Umdrehungsgeschwindigkeit nimmt zu den Polen hin gleichmäßig ab. Die Daten von SOHO bestätigen, daß diese differentielle Rotation eine Eigenart der gesamten Konvektionszone ist. Erst in einer Tiefe von einem Drittel des Sonnenradius wird die Rotationsgeschwindigkeit unabhängig von der solaren Breite (Bild 6).

Weil sich also am Übergang von der Strahlungs- zur Konvektionszone die Rotationsgeschwindigkeit drastisch ändert, werden in dieser dünnen Grenzschicht die Gasmassen geschert. Das könnte nun unserer Meinung nach die Ursache des solaren Magnetismus sein.

Auch für die oberen Schichten liefern die Laufzeitmessungen des MDI wichtige Ergebnisse. Weil Schallwellen kurzer Wellenlänge sehr flach unter der Photosphäre verlaufen, lassen sich entlang dieser Ausbreitungswege Temperatur und Strömungsgeschwindigkeit des Gases ermitteln: Ist die lokale Temperatur hoch, oder bewegen sie sich mit dem Gasstrom, dann sind die Schallwellen schneller.

Das MDI ermöglicht mit seinen kontinuierlichen, fein aufgelösten Messungen einen bedeutenden Fortschritt in diesem Forschungszweig, der Helioseismologie. Aus einer Unzahl von Laufzeitmessungen können die SOHO-Experten die Kenngrößen entlang vielfältiger Ausbreitungswege des Schalls errechnen und daraus räumliche Karten der internen Struktur und Dynamik der Sonne zusammenstellen, ähnlich wie es die Geophysiker mit ihrem Forschungsgegenstand, der Erde, tun. Die Konvektionströmungen, die dabei erfaßt werden, sind keine globalen Bewegungen wie die Rotation, sondern variieren innerhalb sehr kleiner Raumbereiche; sie können Geschwindigkeiten von einem Kilometer pro Sekunde – 3600 pro Stunde – erreichen.

Die Analyse von nur etwa 8000 Kilometer tief eindringenden Schallwellen ergab, daß die Konvektionszellen, in denen das brodelnde Gas aufsteigt und wieder absinkt, flacher sein können als zuvor angenommen. Das SOHO-Team untersuchte zudem horizontale Bewegungen in einer Tiefe von etwa 1400 Kilometern und verglich sie mit der Magnetfeldstruktur dieser Schicht, die ebenfalls mit dem MDI gewonnen wurde. Dabei stellte sich heraus, daß das Magnetfeld dort besonders stark ist, wo Konvektionströme zusammentreffen (Bild 4 links). Solche magnetischen Verdichtungen können nur bestehen, wenn die gegenseitige Abstoßung der Feldlinien durch eine entgegengesetzt gerichtete Kraft kompensiert wird; offenbar preßt der Druck des strömenden Gases die Feldlinien zusammen.


Plasmaströme in der Korona

SOHO erweitert auch die Kenntnisse über die solare Atmosphäre, die Korona. Der scharf erscheinende Sonnenrand stellt keineswegs die äußere Begrenzung des Himmelskörpers dar; er markiert lediglich die Fläche, oberhalb derer das Gas durchsichtig wird. Die Korona – deren innerer Bereich nur bei einer totalen Sonnenfinsternis sichtbar ist, wenn der Mond die helle Sonnenscheibe verdeckt – erstreckt sich mit ihren Ausläufern bis über die Planetenbahnen hinaus.

Sie stellt eines der rätselhaftesten Phänomene der Sonnenphysik dar. Denn sie ist unerwartet heiß – und kurz oberhalb der Photosphäre beträgt ihre Temperatur über eine Million Kelvin, während die der sichtbaren Oberfläche nicht mehr als 5780 Kelvin erreicht. Die Sonne erzeugt indes Wärmeenergie nur in ihrem Inneren, und dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zufolge kann Wärme nicht von einer kühleren in eine heißere Region übergehen. Es muß demnach irgendeinen Mechanismus geben, der kinetische oder magnetische Energie aus der Photosphäre oder noch tieferen Gebieten in die Korona transportiert.

Dies könnten beispielsweise gekrümmte Gasströme oder sich verschiebende Magnetfelder bewerkstelligen. Derartige Phänomene sind möglich, weil die Sonnenmaterie als Plasma vorliegt: Die Atome sind wegen der hohen Temperaturen zumindest teilweise ionisiert, und die frei beweglichen, elektrisch geladenen Ionen und Elektronen treten sehr stark mit den solaren Magnetfeldern in Wechselwirkung.

Infolge seiner hohen Temperatur strahlt das Plasma der Korona überwiegend im ultravioletten (UV), im extremen ultravioletten (EUV) und im Röntgenbereich des Spektrums. Bei diesen Wellenlängen läßt sich demnach am besten der Heizungsmechanismus erforschen, zumal die darunterliegende Photosphäre so kühl ist, daß sie kaum Strahlung so hoher Frequenzen emittiert und darum in den entsprechenden Aufnahmegeräten als schwarzer Hintergrund erscheint. Weil jedoch die Erdatmosphäre für Strahlung dieser Wellenlängen nicht durchlässig ist, sind Beobachtungen nur vom Weltraum aus möglich. Vier Instrumente an Bord von SOHO messen im UV- und EUV-Bereich: das Extreme-Ultraviolet Imaging Telescope (EIT), das Solar Ultraviolet Measurements of Emitted Radiation (SUMER), das Coronal Diagnostic Spectrometer (CDS) und das Ultraviolet Coronograph Spectrometer (UVCS).

Die vier Geräte suchen nach Spektrallinien, die von Ionen emittiert werden. Wie viele Elektronen ein Atom verliert hängt von der kinetischen Energie ab, mit der es mit anderen zusammenstößt, und damit von der Temperatur. Beim Wiedereinfang eines freien Elektrons strahlen die Atome Licht einer bestimmten Wellenlänge ab, die für das jeweilige Element und den Ionisationsgrad kennzeichnend ist. Damit lassen sich Aussagen über die chemische Zusammensetzung und die Temperatur der untersuchten Gebiete gewinnen. Indem man auch die Frequenzverschiebung infolge des Doppler-Effekts mißt, ergeben sich zudem die Geschwindigkeiten, mit denen sich das Plasma in diesen Zonen bewegt.

UV-Beobachtungen zeigten kürzlich, daß die Sonne selbst dann äußerst dynamisch ist, wenn sie sich im Minimum ihres elfjährigen Aktivitätszyklus befindet – womöglich hat dies mit der Aufheizung der Korona zu tun. Im UV-Licht erscheint der Glutball von hellen Flecken übersät. Den SOHO-Messungen zufolge haben diese stets vorhandenen heißen Gebiete eine Temperatur von einer Million Kelvin. Ihr Ursprung scheinen kleine magnetische Schleifen voll heißen Plasmas zu sein, die überall auf der Sonne zu finden sind – sogar an ihren beiden magnetischen Polen. Einige dieser Flecken platzen auf und schleudern Materie mit Geschwindigkeiten von einigen hundert Kilometern pro Sekunde auswärts. Gegenwärtig untersuchen Mitglieder des SOHO-Teams, ob dies wesentlich zur Koronaheizung beiträgt.

Das UVCS und der Large Angle Spectroscopic Coronograph (LASCO) an Bord von SOHO erforschen die Dynamik in höheren Bereichen der solaren Atmosphäre. Im Strahlengang beider Instrumente befindet sich eine Scheibe, welche die gleißend helle Sonne selbst verdeckt (Bilder 1 und 7).

LASCO registriert im sichtbaren Teil des Spektrums das von freien Elektronen in der Korona gestreute Licht. Zu Beginn der Messungen Anfang 1996 war die Korona nahezu symmetrisch und stabil. In diesem Minimum der magnetischen Aktivität fielen ausgedehnte dunkle Zonen nahe des Nord- und des Südpols auf. Solche koronalen Löcher sind Bereiche geringer Dichte und geringer Temperatur, in denen die EUV- und Röntgenstrahlung ungewöhnlich schwach ist oder völlig fehlt.

Im Gegensatz dazu erschienen die Äquatorregionen von geradlinigen, schmalen Spitzen auswärts fließender Materie umringt. Ihre Form ist durch die Struktur des solaren Magnetfelds bedingt, dessen Linien an diesen Stellen weit in den Weltraum hinausreichen und damit nicht wie sonst geschlossen, sondern offen sind. An ihrer Basis ist das Plasma in magnetischen Schleifen verdichtet, die von der Photosphäre ausgehen. Weiter außen in der Korona verengen sich die radialen Partikelströme und sind über mehrere Sonnenradien hinweg zu beobachten. Diese Ausläufer enthalten etwa zwei Millionen Kelvin heißes Plasma, das wegen seiner elektrischen Ladung von den Magnetfeldlinien mitgeführt wird und wie ein Gürtel die Sonne umgibt.

Entlang den offenen Magnetfeldlinien scheint unablässig Materie auswärts zu strömen. Bisweilen registrieren die beiden SOHO-Koronographen dichte Plasmaballen, die sich wie in einem Fluß treibende Blätter durch die ansonsten unveränderte Teilchenströmung bewegen. Manchmal preschen auch unvermittelt riesige Eruptionen, koronale Masseauswürfe, durch den steten Plasmastrom (Bild 7). Mit Geschwindigkeiten von einigen hundert Kilometern pro Sekunde schleudern sie Milliarden Tonnen des eine Million Kelvin heißen Plasmas in den interplanetaren Raum. In etwa vier, manchmal auch in nur zwei bis drei Tagen können diese Partikelwolken bei der Erde eintreffen. Zur allgemeinen Verblüffung zeichnete LASCO zudem äquatoriale Eruptionen auf, die sich innerhalb weniger Stunden auf entgegengesetzten Seiten der Sonne ereignen.

Die Koronographen können zwar nur solche Prozesse verfolgen, die sich praktisch im rechten Winkel zur Beobachtungsrichtung ereignen; doch aus dem Gesehenen schließen wir, daß es sich bei diesen Eruptionen um rund um den Sonnenglobus auftretende Störungen handelt. Zu den von SOHO bereits gelieferten neuen Erkenntnissen gehört, daß bei einem koronalen Masseauswurf riesige Gebiete erbeben – zumindest während des Minimums im elfjährigen Aktivitätszyklus. Auch wird der Strahlengürtel der Korona einige Tage zuvor heller, was darauf hinweist, daß sich hier mehr Plasma ansammelt. Druck und Spannung dieser zusätzlichen Materie bauen sich wahrscheinlich auf, bis der Gürtel regelrecht explodiert. Dieser komplette Prozeß geht höchstwahrscheinlich mit einer großräumigen Reorganisation des solaren Magnetfeldes einher.


Untersuchung des Sonnenwinds

Die heiße und stürmische Atmosphäre der Sonne dehnt sich beständig in alle Richtungen aus und erfüllt das Planetensystem mit einem endlosen Teilchenstrom, dem Sonnenwind, der außer Elektronen und Ionen auch Magnetfelder enthält. Die immens heiße Korona erzeugt einen nach außen gerichteten Druck, der die Anziehungskraft der darunter geballten Masse überwiegt und ein unablässiges Abströmen der geladenen Partikel ermöglicht. Während der Wind sich von der Sonne entfernt, beschleunigt er sich – ähnlich wie Wasser, das über einen Deich fließt. Der Masseverlust der Korona muß durch Plasma, das von unten nachströmt, ersetzt werden. Frühere Messungen – etwa die der Raumsonde "Ulysses", die 1990 gestartet wurde – zeigten, daß der Wind zwei Komponenten aufweist; die langsame bewegt sich mit etwa 400, die schnelle mit 800 Kilometern pro Sekunde fort.

Noch ist nicht genau bekannt, wo die langsame Komponente des Sonnenwindes entspringt oder was der schnellen Komponente ihre zusätzliche Geschwindigkeit verleiht. SOHO könnte diese Informationen liefern. Die langsame Komponente hat etwas mit den äquatornahen Gebieten der Sonne zu tun, die nun von den Instrumenten LASCO und UVCS im Detail untersucht werden. Die schnelle Komponente entstammt den polnahen koronalen Löchern, in denen ehemals geschlossene Magnetfeldlinien aufgebrochen sind und ihren Plasmainhalt in den Weltraum entleert haben. SOHO soll nun herausfinden, ob Gasfontänen – lange schlanke Strukturen, die in der Photosphäre entspringen und sich bis in die koronalen Löcher erstrecken – bei der Beschleunigung der schnellen Komponente mitwirken.

Das UVCS untersuchte die Emissionslinien von Wasserstoff und hochionisiertem Sauerstoff in den mutmaßlichen Quellgebieten des Sonnenwindes. Die daraus berechneten Geschwindigkeiten überraschten: Würde allein Wärme den Partikelstrom antreiben, müßte die kinetische Energie beider Ionenarten gleich sein, der leichte Wasserstoff demnach mit vierfach so hoher Geschwindigkeit fortgetrieben werden wie der 16mal so schwere Sauerstoff; doch in den polaren koronalen Löchern, in denen die schnelle Komponente des Sonnenwinds entsteht, ist die kinetische Energie des Sauerstoffs fast 60mal so hoch wie diejenige des Wasserstoffs, und er bewegt sich mit 500 Kilometern pro Sekunde doppelt so schnell wie dieser. Nur in der Äquatorregion, dem Ursprung der langsamen Komponente, bewegt sich der Wasserstoff schneller als der Sauerstoff. Die darauf spezialisierten Forscher versuchen nun, den Grund für die Überschußenergie des Sauerstoffs herauszufinden.

Ein weiteres Instrument von SOHO namens Solar Wind Anisotropies (SWAN) untersucht Wasserstoffatome, die aus dem interstellaren Raum in das Sonnensystem eindringen (Bild 9). Erkennbar sind solche Gasschwaden, weil sie die Ultraviolettstrahlung der Sonne auf ähnliche Weise streuen wie neblige Luft das Licht von Straßenlaternen. Dort, wo der Partikelstrom des Sonnenwinds auf sie trifft, preßt er sie zusammen, wodurch direkt davor eine dunkle Zone entsteht. Das von SWAN detektierte UV-Licht zeichnet somit die räumliche Verteilung des Sonnenwinds nach. Die bisherigen Messungen weisen darauf hin, daß er in der Äquatorebene der Sonne intensiver ist als über ihren beiden Polen.


Der erdnahe Raum

Je mehr die menschliche Zivilisation von hochtechnisierten Systemen im Weltraum abhängig wird, desto empfindlicher macht sich das solare Wettergeschehen im erdnahen Bereich bemerkbar. Die gewaltigen koronalen Masseauswürfe können nicht nur magnetische Stürme und Polarlichter in der direkten Erdumgebung auslösen und damit den Radio- und Funkverkehr stören oder gar Stromausfälle bewirken, sondern auch erdumkreisende Satelliten beschädigen oder lahmlegen. Andere intensive Eruptionen, die als solare Flares bekannt sind, schleudern energiereiche Teilchen aus, die Astronauten gefährden und die Elektronik von Satelliten zerstören können. Würden wir die Ursachen dieser Phänomene anhand der Veränderungen im solaren Magnetfeld kennen, könnte SOHO uns rechtzeitig warnen.

Weil der Satellit genügend weit vor der Erde positioniert ist, kann er sogar eine genaue Analyse der zu erwartenden Teilchenströme liefern. Das Charge, Element and Isotope Analysis System (CELIAS) bestimmt die Zusammensetzung des Sonnenwinds und die Häufigkeit der einzelnen Partikel; es hat bereits einige seltene Isotope registriert, die zuvor nicht nachweisbar waren (Bild 8). Daraus vermag man gewisse Rückschlüsse auf die Bedingungen in den Quellgebieten des Sonnenwinds zu ziehen.

Das Instrumente-Dutzend voll machen schließlich Comprehensive Suprathermal and Energetic Particle (COSTEP) sowie Energetic and Relativistic Nuclei and Electron Experiment (ERNE); sie lieferten bereits direkte Messungen von hochenergetischen Elektronen, Protonen und Heliumkernen, wie sie bei SOHO eintrafen. Ihre Herkunft ließ sich auf bestimmte Sonneneruptionen zurückführen, die EIT anhand kurzwelliger Ultraviolettstrahlung entdeckt hatte. Je mehr die Sonne in ihr nächstes Aktivitätsmaximum gerät, desto häufiger werden derartige Ereignisse auftreten. SOHO wird sie dann von Anfang an verfolgen können – von den ersten Anzeichen unterhalb der sichtbaren Sonnenoberfläche über die eigentliche Eruption, die sich ihren Weg durch die solare Atmosphäre bahnt, bis hin zu ihren Auswirkungen in der Umgebung der Erde und im restlichen Sonnensystem.

Literaturhinweise

- Die Sonne. Aus der Perspektive der Erde. Von Herbert Friedmann. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1987.

– The Sun. An Introduction. Von Michael Stix. Springer, Heidelberg 1989.

– Physik der Sterne und der Sonne. Von Helmut Scheffler und Hans Elsässer. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1990.

– Der Stern, von dem wir leben. Den Geheimnissen der Sonne auf der Spur. Von Rudolf Kippenhahn. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1990.

– Die Sonne, Stern unserer Erde. Von Kenneth R. Lang. Springer, Heidelberg 1995.

– The SOHO Mission. Herausgegeben von Bernhard Fleck, Vicente Domingo und Arthur I. Poland. Spezialteil in: Solar Physics, Band 162, Heft 1/2, 1995.

– Unsolved Mysteries of the Sun, Teil 1 und 2. Von Kenneth R. Lang in: Sky and Telescope, Band 92, Heft 2, Seiten 38 bis 42, August 1996, und Heft 3, Seiten 24 bis 28, September 1996.

– Von SOHO aufgenommene Bilder und weitere Informationen sind unter http://sohowww.nascom.nasa.gov/ im World Wide Web verfügbar.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1997, Seite 44
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Kennen Sie schon …

Sterne und Weltraum – 25 Jahre VLT – Jubiläum des Riesenteleskops

Das Very Large Telescope, das seit dem Jahr 2000 beeindruckende Aufnahmen mit seinen vier kombinierbaren 8-Meter-Spiegeln liefert, ist der Auftakt unserer dreiteiligen Serie über Observatorien in der chilenischen Atacama. Lesen Sie unseren Insiderbericht über die Arbeit und Technik des ESO-Riesenteleskops. Wir blicken mit der Raumsonde Juno in die Vulkanschlünde des Jupitermonds Io und und zeigen, wie Wissenschaftler das Phänomen von Glitches – der kurzzeitigen Rotationsbeschleunigung von Neutronensternen – simulieren. Weiter testen wir, wie sich eine innovative neue Astrokamera mit integriertem Nachführsensor im Praxiseinsatz bewährt.

Spektrum der Wissenschaft – Vorstoß zur Sonne

Viele Vorgänge im leuchtenden Plasma unserer Sonne sind noch immer rätselhaft. Neue Raumsonden sowie Beobachtungen vom Erdboden aus sollen dabei helfen, die Phänomene besser zu verstehen. Außerdem im Heft: Höhere Symmetrien tragen zur Lösung physikalischer Rätsel bei – vom Teilchenzerfall bis hin zum Verhalten komplexer Quantensysteme. Wir berichten von Untersuchungen an kopflosen Würmern und winzigen Zellklumpen, die kein Gehirn haben, aber grundlegende kognitive Fähigkeiten. Die Klimaforschung nimmt Aerosole in den Blick, um Klimasimulationen zuverlässiger zu machen. Wussten Sie, dass die statistische Methode des t-Tests in der Guinness-Brauerei erfunden wurde? Daneben berichten wir über codebasierte Kryptografie.

Sterne und Weltraum – Superheiß: So wird die Sonnenkorona geheizt

Unsere Sonne birgt ein Temperaturrätsel: Der Sonnenkern ist etwa 15 Millionen Grad Celsius heiß, was das Verschmelzen von Atomkernen erlaubt. Diese Fusionsprozesse speisen die Sonnenenergie, die schließlich am äußersten Rand unseres Heimatgestirns – der Photosphäre – als elektromagnetische Wellen abgestrahlt wird. Dort ist unser Heimatgestirn nur noch zirka 5500 Grad Celsius heiß. Doch weiter außen erreicht sie in einer Schicht namens Korona ein bis zwei Millionen Grad Celsius! Wie kommt das? Der Sonnenphysiker Klaus-Peter Schröder klärt in der Titelgeschichte das Mysterium auf und legt dar, welche Rolle Magnetfelder dabei spielen.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.