Das Werk des Computerkünstlers William Latham
Die Phantasiewesen des Computerkünstlers William Latham haben Baupläne, die denen echter Organismen nachempfunden sind. Auch bei ihrer künstlerischen Fortentwicklung läßt er sich von Prinzipien der biologischen Evolution leiten.
Der Engländer William Latham (Jahrgang 1961) ist vor allem durch Bilder und Filme bekannt geworden, die durch Anleihen aus der Biologie inspiriert sind. Sein Videofilm "The Conquest of Form" errang einen Forschungspreis bei der Konferenz IMAGINA in Monte Carlo 1990. Ein weiterer Film, "The Evolution of Form", eröffnete 1990 die Filmshow zum jährlichen Welttreffen SIGGRAPH der Computergraphiker. Eine Ausstellung namens "The Empire of Form" in Tokio verzeichnete einen Besucherrekord.
Von 1987 bis 1994 arbeitete Latham als research fellow der IBM an deren wissenschaftlichem Zentrum in Winchester (England). Gemeinsam mit dem Computerwissenschaftler Stephen Todd entwickelte er dort das geometrische Programmpaket FormGrow, auf dem seine Kunstwerke aufbauen. Seit 1993 betreibt er gemeinsam mit Mark Atkinson, einem 29jährigen Programmierer mit 18 Jahren Berufserfahrung, die Firma Computer Artworks. Deren Hauptprodukt ist ein Software-Paket namens "Organic Art" (siehe unten). Im Jahre 1994 schufen Latham und seine Mitarbeiter für IBM die CD-ROM "Garden of Unearthly Delights". Außerdem produziert Computer Artworks verschiedene Bilder und Videos. Zur Zeit in Arbeit sind außer verschiedenen Einzelbildern und Videos eine Erweiterung von "Organic Art", die auf Musik reagieren kann und Möglichkeiten für Morphing (das allmähliche Verwandeln zum Beispiel eines Gesichts in ein anderes) bereitstellt, sowie ein dreidimensionales Computerspiel zum künstlichen Leben namens "Evolva", das Ende 1998 marktreif sein soll.
Wie macht man biologisch inspirierte Computerkunst? Ein möglicher Zugang zu Lathams Ideen führt über die sogenannten L-Systeme des dänischen Biologen Aristid Lindenmayer (1925 bis 1989). Ein solches System beginnt, ganz abstrakt, mit einer Kette zunächst bedeutungsloser Zeichen und einer Vorschrift, aus einer derartigen Kette durch Ersetzen von Zeichen eine längere zu machen. Konkreter wird es dadurch, daß man die Zeichen geeignet interpretiert: Eines steht für ein Stück Stengel, ein anderes für ein Blatt, ein drittes für eine Blüte und weitere für die Art, wie diese Komponenten aneinanderzufügen sind. Dadurch verwandelt sich die ursprüngliche Zeichenkette in ein zartes Pflänzchen; indem auf sie immer wieder die Ersetzungsvorschrift angewandt wird, wächst das Pflänzchen nach und nach zu einer veritablen Sonnenblume heran, die von einer echten kaum zu unterscheiden ist (siehe auch Spektrum der Wissenschaft, März 1987, Seite 6, und September 1989, Seite 52).
Das kann nur gelingen, weil Sonnenblumen – und andere Lebewesen – viele gleichartige Teile enthalten, in einigermaßen regelhafter Anordnung und möglicherweise in verschiedenen Größen. Es gibt also einige einfache Bauprinzipien, aus deren wiederholter Anwendung die reichhaltige Endstruktur entsteht.
Das gilt auch für die dreidimensionalen Strukturen Lathams – mit einem entscheidenden Unterschied: Der Künstler erhebt gar nicht erst den Anspruch, die Natur zu imitieren. Wenn die Phantasiegestalten, deren zweidimensionale Abbilder auf dem Bildschirm erscheinen, den Betrachter an exotische Tiere gemahnen, so ist das zwar beabsichtigt und trägt zum Reiz der Bilder bei; aber Latham will nicht die Realität abbilden – und sei es in noch so abstraktem Sinne –, sondern neue ästhetische Vorstellungen entwickeln und realisieren.
Würmer, Rippen, Schneckenhäuser – alles Hörner
Für den Anfang denkt man besser nicht an eine Sonnenblume – eher an einen Regenwurm: lauter annähernd gleiche Segmente, in einer Linie aneinandergefügt und gegen die Enden zu kleiner werdend. Eine Beschreibung auf dieser unbiologischen Ebene ist nicht schwer. Man gibt die Gestalt eines Segments vor - eine flache, zylindrische Scheibe – und die Übergangsvorschrift von einem Segment zum nächsten: Scheiben aneinanderlegen in der Mitte des Wurms, dasselbe mit Verkleinerung an den Enden.
Man verdrehe jeweils die nächste Scheibe vor dem Anfügen ein wenig gegenüber der letzten: Schon ringelt sich der Wurm. Nimmt man anstelle der Zylinder hohle Röhrenstücke ohne Boden und Deckel, läßt sie anwachsen statt kleiner werden und verdreht sie geeignet vor dem Anlegen, so erhält man ein Schneckenhaus. Mit einem kleineren Drehwinkel ergibt sich ein Horn: der Kopfschmuck des Steinbocks bei mäßigem, das Musikinstrument bei starkem Anwachsen der Größe von Glied zu Glied.
Das nimmt Latham zum Anlaß, jede nach diesem Prinzip gebaute Zusammensetzung ein Horn zu nennen, einerlei, wie sie am Ende aussieht. Ein Horn ist definiert durch seinen Grundbaustein, von dem mehrere Exemplare in einer Linie anzuordnen sind, und die Anweisung, wie die anzufügenden Bausteine zu transformieren sind, damit das fertige Gebilde sich wie gewünscht krümmt, windet, aufweitet oder auch spitz zuläuft. Drei aneinandergefügte Hörner – je eines für Kopf, Rumpf und Schwanz – mit verschiedenen, aufeinander abgestimmten Eigenschaften ergeben schon ein recht hübsches Primitivwesen (Bild 2).
Grundbaustein für ein Horn kann eine mehr oder weniger einfache geometrische Figur sein – oder wieder ein Horn. Die von Stephen Todd entworfene Programmiersprache ESME (Extensible Solid Model Editor), auf der auch das System FormGrow basiert, erlaubt eine sehr einfache Beschreibung solcher rekursiver Strukturen: Das Horn, das als Baustein dient, darf wieder aus Hörnern bestehen, und so weiter. Bei hinreichender Rekursionstiefe ergeben sich fraktalähnliche Strukturen (Bild 1).
Ein weiteres Beispiel für ein Horn ist ein Rückgrat mit seinen Wirbeln. Nun verändere man die Anfügungsvorschrift ein wenig: Weitere Bausteine – genauer die Rippen, die ihrerseits als Hörner darstellbar sind – sollen nicht mehr in einer Linie aufgereiht, sondern in einem gewissen Abstand beiderseits symmetrisch an die Ausgangsstruktur angesetzt werden. Schon hat man einen Brustkorb (Bild 3 unten), den man zu einem hummerartigen, bilateral-symmetrischen Wesen weiter ausbauen kann (Bild 4).
Eine andere Art der Anfügung ist die Verzweigung. An einem gemeinsamen Ausgangspunkt setzen mehr oder weniger sternförmig (Bild 3 oben) viele Exemplare eines möglichst langen und dünnen Bausteins an. Wie bei manchen Doldenblüten kann das Ende jedes Zweigs Ausgangspunkt eines neuen Büschels sein. Es ergeben sich wild wuchernde Formen (Bild 5). Eine Variante der Verzweigung ist das Netz.
Computergraphik
Diese Grundformen und Anfügungsprinzipien sind das Material, aus dem Latham die Skelette seiner Phantasiewesen macht. Für Fleisch und Haut, also die Oberfläche, die Musterung des Hintergrundes und visuelle Effekte wie Verdecken hintenliegender Teile, Schatten, Beleuchtung und Reflexion greifen er und seine Programmierspezialisten auf etablierte Verfahren der Computergraphik zurück. Hier gehen keine grundsätzlich neuen Ideen ein; aber es sind diese Techniken wie raytracing (Lichtstrahlverfolgung), shading und texture mapping, durch die aus einer eher verwirrenden Strichzeichnung ein eindrucksvolles, leuchtendes Bild wird. Der Künstler verwendet einen wesentlichen Teil seiner Arbeit auf die Feinabstimmung der Farben und Lichtquellen und der Computer den größten Teil der Rechenzeit auf die Lichtstrahlverfolgung.
Das Skelett selbst aber läßt sich bei aller sichtbaren Komplexität durch ziemlich karge Informationen erschöpfend beschreiben. Wenn sein Bauplan – Grundbausteine und Anfügungsprinzipien – erst einmal festliegt, braucht man nur noch einige wenige Zahlenwerte: Anzahl der anzufügenden Glieder, Dreh- und Torsionswinkel, Skalierungsfaktor von einem Glied zum nächsten, Entfernung zweier Glieder sowie Position des ganzen Wesens im gedachten Raum und Orientierung zum Betrachter.
Das eröffnet Möglichkeiten zur Variation, vor allem zu allmählichen Veränderungen eines Phantasiewesens in einem Film oder Computerspiel: Man erhöhe von Bild zu Bild in sehr kleinen Schritten die Gliederzahl, und ein Horn wird größer und vielteiliger. Latham hat geeignete Interpretationen für nicht-ganze Gliederzahlen gefunden; so wird die Anweisung "6,2 Glieder" umgesetzt in sechs Glieder plus einer Knospe, die sich zu einem vollständigen Glied entfaltet, sowie der Anteil hinter dem Komma sich dem Wert Eins nähert.
Wenn man andere Parameter geeignet variiert, bewegt sich das Wesen im Raum, krümmt oder windet sich, wächst oder schrumpft, legt sich neue Körperteile zu oder verliert sie. Oder es stößt sie ab; das entspricht dann der Geburt eines neuen Wesens.
Latham hat für seine Pseudo-Organismen ganze Lebenszyklen geschrieben: Sie werden geboren, wachsen, reifen heran, wobei sie an Formenvielfalt zulegen, erzeugen möglicherweise Nachkommen und verschwinden irgendwann wieder von der Bildfläche; sonst würde ihre Brut bald die gedachte Welt überwuchern. Bei allen Metamorphosen, die ein derartiges Wesen im Laufe seines Lebens durchmacht, verändert es sich nur langsam, so daß es identifizierbar bleibt.
Veränderung von Parametern entspricht der Wanderschaft eines Punktes in einem abstrakten Raum mit so vielen Dimensionen, wie es Parameter gibt – also mehr, als man sich vorstellen kann. Sich darin zurechtzufinden ist nicht immer einfach. Der Raum ist nicht nur vieldimensional, sondern auch unübersichtlich: Ein kleiner Schritt in eine Richtung hat mitunter viel drastischere Wirkungen als ein großer in einer anderen. Das erschwert das Vorankommen vor allem, wenn es nicht um kleine Änderungen wie die Metamorphosen innerhalb eines Lebenszyklus geht, sondern um das Erschaffen völlig neuer Formen aus alten.
Mutation
An dieser Stelle macht Latham eine weitere Anleihe bei der Biologie. Er identifiziert den Parametersatz eines Kunstwesens mit einer Art Erbgut. Neue Arten entstehen aus alten, indem das Erbgut sich durch Mutation zufallsabhängig verändert und ein Selektionsprozeß unter den so entstandenen Varianten die überlebensfähigsten auswählt. In diesem Falle ist der Selektionsprozeß der Künstler selbst: Überlebensfähig ist, was ihm gefällt. Das Analogon der zufälligen Mutation dient im wesentlichen dazu, ein repräsentatives Sortiment der Varianten bereitzustellen, die in ihrem Erbgut von der aktuellen Form nicht allzuweit entfernt sind (Bild 7). Um die Evolution ein wenig zu beschleunigen, geht Latham für den nächsten Mutationszyklus im Parameterraum nicht nur einen Schritt in die Richtung, die ihm am besten gefällt, sondern doppelt so weit. Gelegentlich kreuzt er auch zwei Formen, um daraus eine noch schönere zu machen. Väterliches und mütterliches Erbgut mischen sich dann durch lineare Interpolation der Parameter oder durch das crossing-over, das bereits die Verfechter der genetischen Algorithmen der Natur abgeschaut haben (Spektrum der Wissenschaft, September 1992, Seite 44).
Nachdem das ganze Programmpaket eine gewisse Vollständigkeit erreicht hat, beschäftigt sich Latham im wesentlichen damit, die Evolution in seiner Phantasiewelt voranzutreiben. Dabei weiß er besonders zu schätzen, daß er nunmehr von der technischen Unterstützung durch Programmierer weitgehend unabhängig ist und sich auf das Verfolgen seiner künstlerischen Ziele konzentrieren kann.
Für ihn zerfällt dadurch die Rolle des Künstlers in den Schöpfer einer künstlichen Welt und den Gärtner, der darin die exotischsten Kreaturen kultiviert. Für sein System hat er den ersten Teil im wesentlichen erledigt; und der Gärtner muß mit dem Schöpfer nicht unbedingt identisch sein. Wenn so zwei Leute, die sich nicht einmal kennen müssen, ein Kunstwerk produzieren: Wessen Werk ist es dann? Latham neigt dazu, den wesentlichen Teil der Originalität dem Gärtner zuzuschreiben. Dem Schöpfer bleibt der Ruhm, zwar nicht das individuelle Kunstwerk, aber immerhin einen Stil kreiert zu haben.
Das Angebot für den Hobbygärtner
Gärtnern in dieser Kunstwelt ist nicht schwer. Wohl wird man nicht auf Anhieb ein neues Prachtexemplar heranzüchten können – aber irgend etwas wächst immer. In Verfolgung seines Ziels, die Computerkunst für den Massenmarkt der PC-Besitzer verfügbar zu machen, hat Latham Teile seines Systems zu einem Programmpaket namens "Organic Art" für den Amateur geschnürt (siehe Anzeige Seite 13). Allerdings ist nicht alles, was er selbst in seinen Bildern verwendet, darin enthalten; so können die Formen nicht, wie etwa in Bild 2, aus verschiedenartigen Bestandteilen zusammengesetzt sein. Es gibt auch keine richtigen Lebenszyklen; die Metamorphose beschränkt sich auf Änderungen der Parameter, so daß Strukturen sich zwar vermehren, aber nicht sterben, sondern in einer Umkehrung des Vermehrungsprozesses wieder ineinander aufgehen. Dafür können zwei Arten von Formen in der Phantasiewelt koexistieren.
"Organic Art" stellt 54 Grundformen und 33 Anfügungsprinzipien zur Auswahl bereit, dazu 100 verschiedene Oberflächenmusterungen für die Figuren und 70 Hintergrundmuster. Der Benutzer kann die zahlenmäßigen Parameter gezielt verändern oder das zufallsabhängigen Mutationen überlassen. Ein großes Sortiment von Szenen – voreingestellten Kombinationen sämtlicher Bestimmungsgrößen – ist im Paket enthalten.
Ohne Eingriffsmöglichkeit für den Benutzer, ausschließlich durch den Zufall gesteuert, ist das Programm als Bildschirmschoner kostenlos aus dem World Wide Web abrufbar: http://www.artworks.co.uk. Unter dieser Adresse finden sich auch weitere Informationen.
Literaturhinweise
- Evolutionary Art and Computers. Von Stephen Todd und William Latham. Academic Press, London 1992.
– The Algorithmic Beauty of Plants. Von Przemyslaw Prusinkiewicz und Aristid Lindenmayer. Springer, Berlin 1990.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1997, Seite 10
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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